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Arndt konnte es kaum glauben, dass eine Schule ein solches Labyrinth darstellte. Jannis lief schneller als er und zehnmal so schnell wie Kerner und Aust. Am Ende musste Arndt sich irgendwie selbst zurechtfinden. Zum Glück hingen alle paar Meter Notfallpläne mit entsprechenden Raumplänen an den Wänden. Nach einem dreiminütigen Dauersprint hatte er Jannis aufgestöbert. Er kauerte unter einem Schreibtisch der Schülerzeitungsredaktion, die sich in den Räumen neben der Mediathek befand. Den entscheidenden Tipp hatte ihm Hausmeister Steiner gegeben. Jannis blieb häufig bis in den späten Abend in der Redaktion, um Artikel zu schreiben, Bilder zu bearbeiten oder den Druck der nächsten Ausgabe vorzubereiten. Steiner schloss ihm auf und schloss auch wieder für ihn ab.
„Ein feiner Kerl, dieser Jannis! Und so fleißig. Der wird's noch mal zu was bringen! Hausmeister wird der bestimmt nicht!", raunte er.
Arndt, Bullerjahn und Bea saßen in Melindas Büro und tranken Mitternachtskaffee. Neben dem Schreibtisch hatten sie vier Tische zusammengerückt, auf denen zwei Beweismittelkartons standen. Daneben lagen wild verteilt handbeschriebene Blätter, Ausdrucke und aufgeklappte Aktendeckel, aus denen der Inhalt quoll. In der Ecke surrte ein Rechner, dessen Monitor ein kaltes Licht auf die Gesichter legte.
„Leude, lasset uns Sluss mache, is bin hundemüde!"
Skagen stand neben der Stellwand, an der das Plakat mit den Aufgaben hing, die sie im Fall Stella Blume abarbeiten wollten, und gähnte, ohne sich die Hand vor den weit aufgerissenen Mund zu halten. Hinter den meisten Punkten auf dem Plakat war bereits ein grüner Haken gezeichnet. Skagen versuchte vergeblich, durch das Aneinanderreiben seiner Finger die Markerspuren abzurubbeln.
Bullerjahn goss sich Kaffee nach. Er wusste, dass er in dieser Nacht sowieso nicht schlafen würde, und ahnte: auch den anderen ging es so.
„Christiansen hat uns bis Ende der Woche gegeben, Stellas Tod still und diskret, ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit aufzuklären. Bisher gab es nur zwei kurze Artikel im Kreisanzeiger, ohne Namen, ohne Details. Doch das wird nicht so bleiben, das wisst ihr alle! Spätestens in der kommenden Woche muss Christiansen eine Pressekonferenz anberaumen und die Katze aus dem Sack lassen. Ich brauche euch nicht zu sagen, dass es von da an mit der Ruhe vorbei sein wird!"
Bullerjahn blickte mit ernstem Gesicht in die Runde.
„Okay!"
Arndt sprang auf und klatschte in die Hände. Er sah von allen noch am frischesten aus. Kein Wunder. Am Nachmittag hatte er seinen Pflichtbesuch bei Dr. Rose erledigt. Eine Stunde Wartezimmer mit abgegriffenen Boulevardzeitschriften, eine halbe Stunde Untersuchungszeit. Der Doktor hatte Arndt für voll dienstfähig erklärt und nach Frau Sieben, seiner Kollegin gefragt. Arndt hatte leider keine guten Nachrichten für Dr. Rose.
Trotzdem, zur Feier des Tages hatte Arndt sich einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und dunkle Lederboots gekauft. Dazu trug er einen Dreitagebart, auch dem Frisör hatte er einen Besuch abgestattet. Melinda würde staunen, wenn sie ihn so sähe! Vorhin in der Klinik war sie ihm so leblos erschienen, dass er am liebsten hinausgerannt wäre. Zum Glück hatte Bea ihn rechtzeitig zurückgehalten.
„Gehen wir noch einmal alles durch, drehen jedes Detail noch einmal um, klopfen auf jedes Beweisstück und schauen, was wir übersehen haben!"
Bea hatte sich in eine Decke gewickelt. Eigentlich wollte sie seit Stunden schon im Bett liegen, da sie an den Ermittlungen nicht beteiligt war, doch Bullerjahn hatte sie gebeten, zu bleiben. Ihre Anwesenheit gab ihm Ruhe und Kraft. Und sie kochte den mit Abstand besten Kaffee, auch wenn Skagen nahe an sie herankam und auch die neue Kaffeemaschine, die mit den Pads, nicht die übelste war.
Arndt ging zu Skagen an die Stellwand, die in den vergangenen Tagen rechts und links um zwei weitere Wände ergänzt worden war. An ihnen hingen die bisherigen Untersuchungsergebnisse, verbildlicht durch Symbole, kurze Texte, Stichwörter, Fotos und einer Menge kreuz und quer verlaufender grüner Pfeile. Bullerjahn drehte sich träge auf seinem Stuhl, so dass er Arndts Zusammenfassung des Falls mitbekam. Es war inzwischen die dritte. Insgeheim war Bullerjahn froh, dass Arndt die Aufgabe übernahm und nicht er sich die Beine in den Bauch stehen musste.
„Wer war Stella Blume?"
Arndt tippte mit dem Finger auf die linke Stellwand, dort, wo das Foto einer jungen, sehr hübschen jungen Frau hing. Es war der Ausschnitt eines Gruppenfotos, das Erik Gramberg im letzten Jahr von seinen Mitarbeitern geschossen hatte.
„Stella Blume. Geboren am 03.08.1986 in Hameln. 2005 bis 2010 Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen. Einzelkind. Vater Lehrer, Mutter Biologin, beide leben seit Jahren in Dänemark. Die Datenbanken geben nicht viel über Stella her. Sie war politisch aktiv. 2008 beleidigt sie bei einer Demo gegen einen Naziaufmarsch in Berlin einen Polizisten. 2009 wird sie beschuldigt, am 1. Mai in Hannover Steine auf ein parkendes Auto geschmissen zu haben. Die Ermittlungen führen jedoch ins Leere, der Verdacht wird fallengelassen. Seit 2010 arbeitet sie in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung, macht Jugendarbeit. 2012 taucht sie unter. 2014 spricht sie bei Gramberg vor und fragt nach einem Job. Soweit wir wissen, hat sie nie zuvor in der Gastronomie gearbeitet. Trotz zahlreicher Bedenken stellt er sie ein, und schon nach kurzer Zeit erweist Stella sich als echter Glücksgriff. Sie kann göttlich kochen, verfügt über einen feinen Riecher für besondere Zutaten und ist eine begnadete Pilzfinderin. Grambergs Geschäft läuft gut, sein Restaurant erlangt einen hohen Bekanntheitsgrad, weit über die Stadtgrenzen hinaus. Alle lieben Stella, jeder möchte von ihr bekocht werden. Sie ist offenherzig, immer zu einem Plausch bereit. Sie lacht viel. Gramberg sagt, dass sie eine Frau sei, mit der man Pferde stehlen kann, sie sei wie eine Tochter für ihn gewesen. Während ihres Urlaubs reist sie durch die Welt. USA, Kanada, Japan, Australien, auch wenn ihr Konto danach regelmäßig auf null stehen muss. In ihrem Zimmer fanden wir Rechnungen und Flugtickets. So geht das bis Mitte 2015, dann verändert Stella sich plötzlich. Sie lacht nur noch selten, zieht sich häufig auf ihr Zimmer zurück. Sie reist nicht mehr. In den Wald geht sie nur noch, wenn es sich nicht vermeiden lässt, wenn sie in der Küche frische Kräuter, Beeren oder Pilze brauchen. Gramberg sagt, dass sie häufig begleitet werden will. Manchmal geht Jannis mit ihr, manchmal Leon, der Koch, einige Male auch Jan Dressler. Soweit wir wissen hat Stella mit keinem von ihnen etwas gehabt. Gramberg erwähnt eine beginnende Depression, doch das ist nur eine Vermutung. Sie war bei keinem Psychiater oder Therapeuten, zumindest keinem, von dem wir wissen. Wer oder was für ihren Stimmungsumschwung verantwortlich ist, können wir bisher nicht sagen."
Bullerjahn fuhr sich durch das Haar, das heute Nacht noch wuscheliger aussah, als sonst.
„Sein Restaurant hat Gramberg gestern übrigens auf unbestimmte Zeit dicht gemacht! Dem armen Kerl geht's verdammt dreckig!"
Skagen hielt es nicht mehr auf den Beinen. Er wankte zum Tisch, griff nach einem Schokokeks und ließ sich auf einen der freien Stühle fallen. Er bewunderte Arndts Durchhaltevermögen, merkte jedoch, dass er seinen Ausführungen nur noch eingeschränkt folgte. Die Müdigkeit steigerte seine Ungeduld.
„Was is mit ihre Freunde? Keine Freunde?"
Arndt schüttelte den Kopf.
„Keine, von denen wir wüssten. Ihr Bekanntenkreis bestand aus den Leuten, mit denen sie arbeitete. So der aktuelle Stand."
„Plus dieser Dressler."
„Plus Jan Dressler, richtig. Der ist jedoch sauber."
„Und das Zimmer?"
Bullerjahn stöhnte, rieb sich die Bartstoppeln und sah Skagen genervt an. Auch er steuerte hart am Limit.
„Hatten wir doch schon! Sauber wie ein Babypopo. Picobello. Ich wünschte, bei mir zu Hause würde es so aussehen!"
Er tippte auf die Fotos auf dem Tisch. Stellas Zimmer aus allen Perspektiven, in allen Details. Ein Buchregal, ein Kleiderschrank, sauber zusammengelegte Kleidung, ein Bett, darunter ein Koffer mit Urlaubsutensilien. Reiseführer, Flugtickets, Taucherbrille, Sonnencreme, Muscheln und viel Sand. Sogar das Muster der Tapete hatte Helmholtz verewigt. Hellblaue, zarte Rosen auf Weiß. Nach langem Bohren hatte Jannis ihnen von der Renovierung des Zimmers erzählt, bei der er Stella geholfen hatte. Bullerjahn wusste, wie es ihm ging. Bescheiden. Jannis war viel mit Stella zusammen gewesen, er hatte sie gemocht und wollte unter keinen Umständen unter Mordverdacht geraten. Logisch. Es stand für alle fest, dass Jannis nichts mit ihrem Tod zu tun hatte.
Skagen ließ nicht locker.
„Habt ihr jede Ecke, jede Zipfel von diese Zimmer angeguckt und umgedreht?"
„Haben wir! Und jetzt weiter! Übrigens, Ecken kann man nicht umdrehen!"
Skagen schmollte. Bea hatte ihren Laptop auf den Schoß gezogen. Sie schrieb an ihrem aktuellen Buch, über das sie auch nach mehrmaliger Nachfrage seitens ihrer Kollegen keine Auskunft gab. Alle paar Minuten hob sie mal den Kopf und sagte: „Wir brauchen Melinda!" Zunächst hatte Arndt sich über diese Bemerkung gefreut, doch nach dem sechsten oder siebten Mal ärgerte sie ihn nur noch. Sie alle wussten, wie sehr Melinda ihnen fehlte, wie gern sie ihre Einschätzung der Lage gehört, ihren Eingebungen gelauscht hätten. Melinda lag nach einer Überdosis Psychopharmaka mehr tot als lebendig auf der Intensivstation, und nur der Himmel wusste, wie es mit ihr weiterging. Wie es dienstlich mit ihr weiterging, wussten sie jedoch, Dr. Rose hatte ihnen seine Einschätzung schon am späten Nachmittag mitgeteilt, Melinda würde es erfahren, sobald es ihr besser ging.
„Sigis Bericht und der Obduktionsbericht bestätigen unsere ersten Annahmen. Stella wurde erwürgt, und zwar mit dem Gürtel eines Bademantels, Farbe creme-weiß. Frage: weshalb bringt der Täter oder die Täterin ausgerechnet einen Bademantelgürtel mit in den Wald? Weshalb nicht einen Ledergürtel, ein Seil oder eine dicke Schnur? Da müssen wir noch mal ran! Stella hat sich ihrem Angreifer oder ihrer Angreiferin eine Zeit lang erwehren können. Vom Umlegen des Gürtels bis zum Eintritt des Todes hat es etwa 60 bis 80 Sekunden gedauert. Entsprechende Spuren und Verletzungen an den Händen, den Unterarmen und den Knien belegen das. Zudem muss sie im Todeskampf über den Waldboden gekrochen sein. Sigi fand eindeutige Spuren. Der Fundort der Leiche war zweifellos der Tatort. Das erspart uns eine Menge Arbeit. Ermordet wurde sie vermutlich am Samstag zwischen 15 und 18 Uhr. Um diese Zeit war da oben, bis auf Dressler, der Jagdsitze inspiziert und repariert hat, niemand unterwegs. Bisher haben wir also keine weiteren Zeugen. Bleibt noch das besondere Merkmal: Stella trug auf dem rechten Unterarm eine Tätowierung, die sie vor etwa drei Jahren hat stechen lassen. Sie stellt einen Bärenkopf mit weit aufgerissenem Maul dar. Sehr martialisch!"
Arndt zog das Foto der Tätowierung zu sich heran, betrachtete es kurz und legte es wieder zurück zu den anderen. Er sah nachdenklich in die Runde und zog sich das Jackett gerade.
„Was den Täter oder die Täterin betrifft: Fehlanzeige. In der Nähe des Tatorts haben Kinder mehrere Waldhütten gebaut, regelmäßig besuchen Gruppen vom Kindergarten Fuchshalle das Gebiet, außerdem gibt es da oben mehrere Geocaches. Kurzum, alles ist mehr oder weniger platt gelatscht, wenn wir den Waldboden abtragen und untersuchen lassen, finden wir 10.000 Beweisstücke, die uns nichts und alles sagen."
Skagen wurde wieder munter. Er blickte zur Decke, dann zu Arndt. Es schien ihm etwas eingefallen zu sein.
„In diese Kinderhütte, da lagen diese Lollipapiere! De Jungens sagten, sie hätten sie nicht da hingesmissen!"
Glücklich wie ein Hundewelpe hielt er die knittrige Taschentuchpackung in die Höhe, in der sich zwei knallbunte Lutscherfolien befanden. Skagen streckte sie Bullerjahn entgegen, der sie spitzen Fingern entgegennahm.
„Das fällt dir aber früh ein!"
Er schnaubte verächtlich. Bea sah von ihrem Laptop auf und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Unnötig, Mattias!, signalisierte der Blick, wirklich unnötig! Skagen tut doch sein bestes!
„Kann natürlich jeder da hingeworfen haben!"
Bullerjahn drehte die Taschentuchpackung hin und her, drückte sie, so dass sie knisterte, dachte nach und legte sie dann neben die Beweismittelkartons.
„Uns fehlen noch Jan Dresslers Aussagen. Melinda war doch am Montag da. Hat sie einen Bericht geschrieben?"
Betretenes Schweigen.
„Keinen Notizzettel, Stichworte auf dem Handy, irgendwie sowas? Nichts? Haben wir überall nachgesehen?"
Schweigen. Bullerjahn konnte es nicht glauben. Skagen hob den Arm, wie ein Schuljunge, doch niemand nahm ihn dran.
„Was sind eigentlich Geocaches?"
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