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Unter ihr die unendliche Tiefe, lichtlos, bodenlos. Über ihr ein schwaches Licht, das sie lockte, das sie mit Engelsstimmen zu sich rief. Sie schwamm, bis ihr die Arme brannten, schlug mit den Füßen, bis das Wasser unter ihr schäumte, immer dem Licht entgegen. Die Stimmen, sie sprachen ihr Mut zu, trieben sie an, gaben ihr Kraft.
Melinda öffnete leicht die Augen. Jetzt bin ich also da, dachte sie. So sieht es also aus das Irgendwo, Nangijala, das Jenseits. Weiß und rein, sauber und strahlend. Sie öffnete die Augen ein Stückchen weiter.

Um sie herum gelblich gedämpftes Licht. Ein weißes Bett, eine weiße Decke, weiß gestrichene Wände. An der Wand ein Bild. Eine in Sonnenlicht getauchte Blumenwiese, dahinter ein schattiger Waldrand. Rehe, ein Hirsch, zwei Kinder. Noch nie war Melinda Kitsch so wunderschön erschienen. Dies war nicht das Jenseits, dies war das Hier und Jetzt, die war ein Krankenzimmer. Sie lebte. In ihrem Handrücken steckte eine Kanüle. Der Schlauch führte zu einem halb gefüllten Tropf. Ein kleiner Kasten mit blinkenden Lichtern fiepte leise im Takt. Die Jalousien vor dem großen Fenster waren halb heraufgezogen. Draußen war es Nacht.
Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Eine freundlich lächelnde Frau in einem hellblauen Kittel kam herein und machte sich am Tropf und an den Geräten zu schaffen.
„Wieder unter den Lebenden, na, wer sagt's denn! Wenn Schwester Gerda Dienst schiebt, dann erwachen Tote zum Leben! Will die Stationsleitung immer nicht glauben, aber ich sage ihnen, gebt mir die Spezialfälle, bei mir wird jeder wieder gesund. Hat schon meine Großmutter gesagt. Gerda, hat sie gesagt, du bist auf der Welt, um dich für die Armen und Kranken einzusetzen, ihnen zur Seite zu stehen, ..."
Schwester Gerda ließ ein wohlgelauntes Raucherlachen hören.
Melinda schloss die Augen wieder und drehte den Kopf zur Seite. Sie hatte sich nicht zurück ins Leben gekämpft, um sich Schwester Gerdas Heldengeschichten anzuhören, auch das kalte Nikotin, welches ihrem Kittel entströmte, bekam ihr nicht.
Melindas Körper fühlte sich müde an, als wäre sie einen Marathon gelaufen, ihr Kopf war ein einziges Durcheinander. Millionen Fragen, keine Antworten, verkapselte Bilder, zerrissene Erinnerungen. Das Denken bereitete ihr Kopfschmerzen.

Schwester Gerda hatte einfach weitergesprochen, doch Melinda hörte ihr nicht mehr zu. Sie war viel zu sehr mit ihrem eigenen Gedankenwirrwarr beschäftigt. Was war passiert? Weshalb lag sie im Krankenhaus? Sie versuchte, den Mund zu öffnen, Worte zu bilden, doch es gelang ihr nicht, nicht einmal ein Krächzen drang aus ihrer Kehle. Melinda hörte, wie die Tür zugezogen wurde. Schwester Gerda war wieder gegangen.

Stumm lauschte sie den Geräuschen um sich herum. Das leise Piepen der Geräte, das Quietschen des Bettes, wenn sie sich bewegte. Das Fenster war geöffnet worden. War das Schwester Gerda gewesen? Melinda hörte den Wind ums Gebäude fegen, angenehm kühle Luft wehte ihr über das Gesicht. Sie hörte Regentropfen gegen die Scheibe prasseln. Herbstwetter. Melinda spürte die Panik in sich aufsteigen. Wie lange lag sie hier schon? Der Fall, sie hatte an einem Fall gearbeitet. Die tote Frau im Pilzkorb. Stella Blume. Der Hund, Zippo, er musste vor die Tür, sein Geschäft erledigen. Jan Dressler, er wollte sich bei ihr melden. Ein Kugelschreiber in Bullerjahns Bauch, Skagens verletzter Arm.

Aufhören, Melinda! Aufhören! Stopp! Sie griff sich an den Kopf, massierte mit verkrampften Händen ihre Schläfen, als könne sie ihre Gedanken auf der Haut zerreiben, sie in Staub verwandeln und aus dem Fenster pusten. Wieder öffnete sich die Tür. Schwester Gerda brachte etwas zu trinken.
„Wollen Sie? Ein paar Schlucke dürfen Sie schon!"
Sie hielt Melinda eine hellgelbe Schnabeltasse vor den Mund. Ihre Zunge lag wie ein toter Fisch in ihrer Mundhöhle, der Hals fühlte sich beim Schlucken an wie Schmirgelpapier. Ja, sie wollte trinken. Unbedingt. Melinda spitzte die trockenen Lippen und Schwester Gerda setzte behutsam die Tasse an. Schnödes Wasser aus der Leitung, doch für Melinda schmeckte es wie das süßeste Nass der Erde. Sie spürte, wie die Flüssigkeit ihre Lebensgeister weckte, wie ihr Denken sich ordnete und sie ihre Stimme wiederfand.

Schwester Gerda hatte sich auf die Bettkante gesetzt und lächelte auf Melinda herab wie die heilige Antonia.
„Besser?"
Melinda nickte.
„Sie haben einiges verpasst! Die reinste Totenparty war das hier!"
Sie fängt wieder an zu plaudern, dachte Melinda.
„Ihre Leute sind um zehn erst gegangen. Haben den ganzen Abend an Ihrem Bett gesessen! Solche Kollegen wünsche ich mir auch manches Mal!"
Wieder lachte sie heiser, doch Melinda spürte den Schmerz, der in diesem Verlegenheitslachen mitschwang. Die Arbeit in einer Klinik war alles andere als ein Zuckerschlecken.
„Wie lange ...?"
„Drei Tage."
„Nicht länger?"
Schwester Gerda schüttelte den Kopf.
„Noch Wasser?"
Melinda sah zum Fenster. Und sie hatte gedacht, es sei schon Herbst. Sie war erleichtert, griff selbst zur Tasse und trank sie leer.
„Heute ist also Freitag?"
„Korrekt."

Mit den Händen tastete sie die Schnabeltasse ab, als müsse sie deren Form erst noch begreifen. Erst jetzt bemerkte Melinda den großen Blumenstrauß auf dem Besuchertisch, den Stapel Zeitschriften, die liebevoll verpackten Geschenke, die unordentlich herumstehenden Stühle.
„Was ist passiert?"
Gerda nahm ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie auf den Nachttisch, wo auch Melindas Handy lag. Was habe ich verpasst, dachte sie. Hat Jan Dressler angerufen?
Schwester Gerda räusperte sich.
„Sie hatten einen Zusammenbruch."
„Kreislauf?"
„Wenn es nur das gewesen wäre!"

Zigarettenlachen. Musternde Blicke auf den Tropf, die piependen Gerätschaften, die Kabel, Melindas Bauch, der sich unter der gestärkten Bettdecke abzeichnete.
„Überdosis. Kurzzeitiges Organversagen. Magen. Ausgepumpt. Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen!"

Im Grunde hatte Melinda es gewusst. Sie hätte nicht fragen brauchen.
Und natürlich hatte Nachtschwester Gerda all das ganz allein, mit Hilfe ihrer heilenden Hände und ihres segensreichen Karmas bewerkstelligt, das signalisierte zumindest ihr Gesichtsausdruck.

„Ein netter Herr war auch hier, so ein ganz junger, gutaussehender, war sehr besorgt!"
Jan Dressler. Wenn sie sich nicht irrte, dann hatte sie ihm ihre Nummer auf den Handrücken geschrieben. Vielleicht hatte er versucht, sie anzurufen, hatte seine Nummer hinterlassen. Auch Arndt, Bullerjahn und Bea musste sie informieren, dass sie wach war, dass sie es geschafft hatte, dass sie lebte. Morgen war jedoch auch noch ein Tag. Jetzt wollte sie schlafen, nur noch schlafen.

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