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Sie rief nach ihm. Als er nicht kam, ging sie ihn suchen. Sie fand ihn noch immer am Rande des Teiches herumschnüffeln. Immer wieder lief er bis zum Bauch in das grüne Wasser und schnappte nach der algigen Brühe. Er hatte Spaß. Das gefiel Melinda. Anstatt ihn aus dem Wasser zu zerren, setzte sie sich auf eine der umgedrehten Colakisten, die hier herumstanden, und sah ihm zu. Auf eine Fortsetzung des Gesprächs mit Frau Schrader hatten sie keine Lust.
Melinda beneidete Zippo um sein selbstvergessenes Tun. Dieses Tier lebte ganz im hier und jetzt. Was gäbe sie darum, das auch zu können. Oder konnte sie es, hatte es nur nicht ausdauernd genug trainiert? Ihr tat der Kopf weh. Die vergangenen Tage waren anstrengend gewesen. Sie hatte schlecht geschlafen. Und dass sie in dem verdammten Gartenschuppen gestern fast verbrannt waren, trug auch nicht gerade zu ihrer Entspannung bei. Wie es Arndt wohl ging? Sie hatten noch keine Silbe miteinander gesprochen.
Mit einem Mal wurde ihr klar wie satt sie all das hatte. All die verkorksten Typen, die anderen nach dem Leben trachteten. Sie quälten, erniedrigten, folterten, aufschlitzten und ihnen die Schädel einschlugen. Was hatte sie sich nur die ganzen Jahre über angetan? Für das Gute kämpfen. War das nicht eine aussichtslose Mission? Wuchs das Böse nicht ständig nach? Schlug man ihm hier den Kopf ab, wuchs es dort wieder nach. Wollte sie das noch? Und wenn nicht, was wollte sie stattdessen? Gegen Ende ihrer Reha hatte sie es gar nicht erwarten können, wieder in den Dienst zurück zu kehren. Von dieser Euphorie war rein gar nichts mehr übrig. Lag es an der kühlen Stimmung, die ihr im Präsidium entgegenschlug, oder an der neuen Umgebung? Brauchte sie nicht eine eigene Wohnung, eigene vier Wände, in denen sie nicht ständig ihrem Kollegen über den Weg lief. Obwohl, Arndt hatte sich verändert, genau wie sie. Er war erträglich geworden. Und sie, war sie eine erträgliche Kollegin?
Melinda blickte sich um. Im Frühjahr musste dieser Garten ein paradiesischer Ort sein. Wenn sie hier das Sagen hätte, würde sie den Rasen mähen, neue Wege ziehen, Büsche und Bäume stutzen, neue Obstbäume pflanzen, Gemüsebeete anlegen, ein Gewächshaus bauen und jede Menge Blumen pflanzen. Sie könnte Kurse geben. Marmelade kochen für Einsteiger, Obstbaumschnitt für Stadtbewohner, Selbstversorgung leicht gemacht.
Es begann wieder zu schneien. Sie zitterte. Zeit zu gehen.
„Komm her, alter Junge!"
Zippo rieb sich an ihren Hosenbeinen. Melinda spürte die kalte Nässe durch den Stoff dringen und legte Zippo die Leine an.
Frau Schrader gab sie flüchtig die Hand, ließ sich ihre Telefonnummer aufschreiben und versprach, sich das Kaufangebot durch den Kopf gehen zu lassen. Dann griff sie nach dem abgestellten Fahrrad. Zippo links, den Lenker rechts verließ sie den Garten, ohne sich noch einmal umzudrehen. Hinter ihr fiel das Gartentor zu.
Auf dem schmalen Weg blieb sie stehen. Sonntag, dachte sie, keine Fleischwurst, kein Hundefutter. Für einen kurzen Moment dachte sie daran sich für den Rest des Tages ins Bett zu legen, und erst morgen wieder aufzustehen. Immerhin bestand eine winzig Chance, dass der morgige Tag ein ganz normaler Tag werden würde.
Noch bevor sie die Wohnungstür aufschloss roch sie den Kaffee. Stark und schwarz. Arndt saß im Pyjama am Küchentisch und blätterte in einer Sonntagszeitung. Er sah frisch und ausgeruht aus. Wüsste sie es nicht besser, sie wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er den gestrigen Abend in Sebastian Winklers Psychogarten verbracht und um sein Leben gezittert hatte. Wortlos zeigte er auf die Thermoskanne neben dem Herd. Melinda schüttelte den Kopf.
„Lieber Tee."
Die Zeitung raschelte. Arndt setzte den Kaffeebecher an den Mund. Dabei beobachtete er Melinda wie sie einen Teebeutel aus einem der vielen Kartons zog, ihn in einen Becher hängte und frisches Wasser in den Kocher füllte.
„Und, Glück gehabt?"
„Das wird sich herausstellen. Die Bremsen müssen gemacht werden. Neue Reifen und Schläuche brauche ich auch. Aber sonst ..."
„Brauchst du Hilfe?"
„Mache ich selbst!"
Natürlich. Was hatte er erwartet? Der Melinda von damals wäre niemals ein Nein über die Lippen gekommen, wenn ein Kerl ihr seine Hilfe angeboten hätte. Die neue Melinda gefiel ihm wesentlich besser. Das Wasser kochte. Melinda goss sich den Tee auf und setzte sich zu Arndt an den Tisch. Wie ein altes Ehepaar, dachte sie. Er liest Zeitung, Oberkörper und Gesicht verdeckt, Kommunikation unmöglich. Sie möchte sich unterhalten, was ihm komplett am Hintern vorbeigeht.
Eines war sicher: Wenn sie wusste wie es mit ihnen im Präsidium weiterging, wenn sie sicher sein konnte, dass sie bleiben konnte, dann würde sie sich als allererstes eine eigene Wohnung suchen. Eine hübsche kleine Wohnung. Oder war es denkbar, dass sie in dem Garten, in dem kleinen Gartenhaus wohnte? Hatte dort in der Ecke nicht ein kleiner Ofen gestanden? Tausend Euro für so ein Grundstück war ein Schnäppchen. Die hatte sie locker noch auf dem Konto.
Arndt ließ die Zeitung sinken. „Was für ein Käseblatt! Mehr Werbung als alles andere!" Er sah Melinda an, die vorsichtig an ihrem heißen Tee schlürfte. Etwas Haariges schob sich unter den Tisch. Es roch nach nassem Fell.
„Wie geht es ihm?" Arndt streckte die Hand nach Zippo aus streichelte ihm das klamme Nackenhaar. Doch als Zippos seine Schnauze unter dem Tisch hervorschnellen ließ, zog Arndt die Hand hastig zurück.
„Doktor Grimme hat ihn prima aufgepäppelt. Es geht ihm gut. Wir müssen sehen wie er mit den erlittenen Misshandlungen klarkommt."
„Willst du ihn behalten?"
„Müssen gucken was die alte Winkler sagt."
Zippo legte Melinda den Kopf auf das Bein.
„Wenn die überhaupt noch Ansprüche stellen darf!"
Arndt füllt sich Kaffee nach. Melinda nippt wieder an ihrem Tee. Lange Zeit sprach keiner von ihnen.
„Arndt, was war das gestern Abend?"
„Was meinst du?"
„Naja, wir haben Bullerjahns Fall gelöst. Irgendwie aber auch nicht."
„Du meinst, die Lorbeeren streicht er ein?"
„Ja."
Arndt wirkte dünnhäutig.
„Wir können ihm dankbar sein. Schließlich hält er seine Hand über uns. Oder was glaubst du würde Christiansen davon halten, wenn sie zwei Findelkinder wie uns bei sich aufnimmt und diese bei nächstbester Gelegenheit in fremde Gärten einsteigen? Ohne Grund und ohne Durchsuchungsbefehl."
„Findelkinder? Wir sind erfahrene Kriminalbeamte, verdammt noch mal!Und wir waren nicht grundlos in Winklers Garten!"
Melinda bemerkte wie sich Arndts Hand fester um den Kaffeebecher schloss. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Er funkelte sie über den Tisch hinweg an.
„Guck' uns doch an. Du hörst irgendwelche Stimmen und ich bekritzele Papier mit irrsinnigem Zeug. Melinda, wir stehen immer noch da, wo wir nach unserer Befreiung aus diesem Kellerloch gestanden haben. Wir sind immer noch dieselben. Melinda Sieben und Arndt Holler. Traumatisierte Kriminalbeamte, die einmal zu den Topleuten gezählt haben, den Topleuten. Und jetzt? Sie uns an! Wir sind im Arsch."
Mit dem Zeigefinger beschrieb er kleine Kreise über der Schläfe und tippte sich danach mehrmals auf die Brust.
„Im Arsch, hier oben und hier drinnen. Nie und nimmer werden wir in den normalen Dienst zurückkehren. Niemals!"
Arndt sprang auf. Sein Stuhl fiel um. Zippo kroch zu Melinda und drückte sich zwischen ihre Beine. Er gab ein leises Knurren von sich.
Jetzt reichte es auch Melinda.
„Dein ewiges Herumjammern geht mir allmählich auf den Geist! Anstatt das Beste aus der Situation zu machen, ziehst du den Kopf ein und ergehst dich in Selbstmitleid. Das mag dein Weg sein, meiner ist es nicht. Verdammt, Arndt Holler, wir sind vielleicht nicht mehr die Alten, aber wir sind gut, wir sind noch immer verdammt gut!"
Arndt lief aus der Küche, verschwand in seinem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Wie ein kleiner Junge, dachte Melinda. Sie holte tief Luft und atmete laut aus. Der Arndt von heute hat wirklich nicht mehr viel mit dem von damals zu tun. Und hatte er nicht recht? Waren sie beide nicht kaputter als sie es unter Umständen wahrhaben wollte?
Sie sah an sich herunter. Tatsächlich, sie trug noch immer ihren Mantel. Melinda legte die Beute des Vormittags vor sich auf den Tisch. Das alte Foto mit den welligen Rändern. Die vier Schlüssel mit den farbigen Gummikappen. Melinda spürte, dass das Schicksal es gut mit ihr meinte. Selbst wenn es im Präsidium nichts für sie zu tun gab, selbst wenn sich Christiansen und all die anderen Kollegen es auf sie abgesehen hatten, sie besaß immer noch diese Fundstücke, die Geheimnisse enthielten und auf wundersame Weise ihren Weg gekreuzt hatten. Außerdem war da noch ein Hund, um den sie sich kümmern musste.
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