22

Gerade als Melinda das Präsidium verließ und hinüber zu ihrem Wagen ging, bog Helmholtz' roter Kombi um die Ecke, rollte durch das schmiedeeiserne Tor und hielt drei Plätze von ihr entfernt. Die Fahrertür öffnete sich. Helmholtz fiel eher aus seinem Wagen, als dass er herausstieg. Die Haare standen ihm wild vom Kopf ab, die Augenringe waren so dunkel, als hätte sie ihm jemand mit Kohle ins Gesicht gemalt. In der Hand hielt er eine Notebooktasche. Er brauchte drei Anläufe, um den Wagen abzuschließen. Eine Fernschließung kannte diese alte Kiste nicht.

Melinda ging zu Helmholtz hinüber und begrüßte ihn. Dieser hob den Kopf und blickte sie aus müden Augen an. Er roch noch immer nach Pfefferminzkaugummi.

„Wir kennen uns?"

„Melinda Sieben. Wir haben uns gestern Nacht im Wald getroffen. Stella Blume. Die Tote."

Er dachte nach. Melinda konnte seinen Gehirnzellen beim Arbeiten zusehen.

„Und was machen Sie dann hier auf dem Parkplatz? Weshalb sitzen Sie nicht in Ihrem Büro?"

Er hielt ihr die Notebooktasche vor die Nase.

„Der Bericht ist da! Der Bericht ist da! Drei Stunden habe ich im kalten Auto zugebracht, und Sie wollen ihn nicht lesen? Sie reißen ihn mir nicht aus der Hand?"

Melinda zeigte ihm ihr freundlichsten Lächeln. Sie wollte keinen Streit mit einem übermüdeten Spurensicherer.

„Muss eben zu einer Zeugenvernehmung. Bullerjahn ist oben. Bin gleich zurück! Lassen Sie sich einen Kaffee aufbrühen!"

Helmholtz brummelte noch irgendetwas Unverständliches in sich hinein, dann zog er sich den Mantel fester um den Körper und schlich davon.

Das alte Forsthaus befand sich am östlichen Rand der Stadt, dort wo die Straßen schmal, der Wald dicht und die Einsamkeit mit Händen zu greifen war. Melinda gefiel das. Sie parkte den Wagen am Wegesrand neben einem übermoosten Holzstapel. Noch immer hingen dichte Wolken am Himmel, ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Sie stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab.

Zwei Forstwege führten von hier aus in den Wald, ein dritter zog sich zwischen uralten Kastanien den Hang hinauf. Wenn sie sich nicht irrte, dann führte dieser zu Grambergs Waldgasthaus. Dressler und Gramberg waren gewissermaßen Nachbarn. Zwischen ihren Grundstücken lag nur eine hundert Meter lange Wiese.

Dressler schien ihre Ankunft bemerkt zu haben, was nicht verwunderlich war. Melindas alte Kiste gab seit einigen Wochen beim Schalten und Gasgeben röchelnde Geräusche von sich, doch sie war zu faul und zu geizig, das Auto zur Reparatur zu bringen. Sie hatte ja das Fahrrad. Ihr Auto wollte sie irgendwann auf einem einsamen Parkplatz abstellen, die Nummernschilder abschrauben und vergessen.

Der große, kräftig gebaute Förster stand breitbeinig auf dem Treppenabsatz. In seiner Hand baumelte eine Axt. Melinda sah den Schweiß auf seiner Stirn glänzen. Der Hund erschien neben ihm, blieb kurz stehen, sah Dressler an und kam dann in gemächlichem Trab zum Zaun gelaufen. Er bellte nicht, hob nur neugierig den Kopf und schnüffelte. Ein Jagdhund. Die genaue Rasse kannte Melinda nicht. Er besaß einen hübschen Kopf, einen langen Körper, drahtige Beine. Sein Fell schimmerte grau.

„Melinda Sieben! Ich hatte angerufen!"

Dressler winkte sie heran.

„Haben Sie Angst vor Hunden?"

Melinda schüttelte den Kopf.

„Ich habe selbst einen!"

Nicht so einen schönen, dachte sie, aber ich habe auch einen. Einen Windpudel.

„Auch eine Hündin?"

„Einen Rüden. Zippo!"

„Interessanter Name!"

Grinsend öffnete Dressler das Gartentor und ließ sie hinein. Die Angeln quietschten. Er musste mehrmals kräftig am Hebel rütteln bis es schloss.

„Das ist Silva. Hüterin von Haus und Hof. Sie tut keinem etwas zuleide, es sei denn jemand will mir an den Kragen."

Wie sollte sie das denn nun verstehen? Dressler lachte wieder und legte die Axt neben die Treppe. Wie blöd musste sie aus der Wäsche geguckt haben! Peinlich! Er bat sie ins Haus und schloss die Tür hinter ihnen. Im Flur zog er die Stiefel aus und hängte seine Steppweste an die Garderobe. Melinda fror, und sie entschied sich, Jacke und Schuhe anzulassen.

Hier drin war es stickig, es roch nach Staub und feuchtem Keller. Rechts und links an den Wänden hingen Reh- und Hirschgeweihe, die ausgestopften Köpfe eines Wildschweins, eines Dachses und eines Luchses, dazwischen kleine Ölbilder mit Waldmotiven. Auf allem bemerkte Melinda imposante Staubschichten. Dressler hatte Melindas musternde Blicke bemerkt.

„Das Haus meiner Eltern! Mein Vater war ebenfalls Förster. Ich habe das Revier nach seinem Tod übernehmen können. Ich sage Ihnen, so viel Glück hat nicht jeder Forstwirt!"

Gedankenverloren betrachtete er die Trophäen. Melinda hatte keine Ahnung was Glück und Pech für einen Forstwirt bedeuteten, wie es war, in der Hinterlassenschaft der eigenen Eltern zu hausen, doch dieser Flur war ihr unheimlich. Sie hatte jetzt keine Zeit für die Stimmen in ihrem Kopf, die sich zaghaft, aber deutlich zu Wort meldeten. Es waren Tierstimmen. Stimmen von Wildschwein, Reh und Hirsch. Und sie klangen nicht erfreulich.

Am Ende des Flures war es heller. Melinda vermutete ein Wohnzimmer. Dressler führte sie jedoch in eine geräumige Wohnküche auf der rechten Seite des Flures.

Auf dem Tisch stand ein Teller mit Streuselkuchen, neben dem Herd gluckerte die Kaffeemaschine. Ein großes Fenster erlaubte den Blick in den Garten. Alte Obstbäume, eine offen stehende Gartenhütte, ein Teich und ganz hinten ein Berg mit gespaltenem Kaminholz. Melinda setzte sich auf die Küchenbank, die unter ihrem Gewicht knarzte.

„Sie trinken Kaffee?"

„Kann ich einen Tee kriegen?"

„Schwarzen?"

„Pfefferminz, oder Kräuter!"

„Ich hätte Kamille."

„Auch gut!"

Silva hatte sich unter den Tisch gelegt und schnupperte an Melindas Hosenbein. Dressler hantierte an der Kaffeemaschine herum, zog den Glasbehälter heraus, goss den Kaffee in eine Thermoskanne und schraubte sie zu. Er füllte einen Wasserkocher und schaltete ihn an. Dem Hängeschrank entnahm er eine Packung Kamillentee. Melinda beobachtete ihn dabei. Sie bemerkte seine leicht zitternden Hände. Melinda kannte das. Nicht jeder blieb cool, wenn ihm die Polizei einen Besuch abstattete. Meistens gab sich das jedoch nach den ersten zehn Minuten, wenn die Befragten merkten, dass sie von Melinda nichts zu befürchten hatten, so lange sie sich nichts hatten zuschulden kommen lassen.

Als das Wasser kochte, goss Dressler den Tee auf und stellte ihn vor Melinda auf den Tisch.

„Ich hoffe, Sie mögen Streuselkuchen!"

„Ich vermeide Zucker wo immer es geht, aber heute mache ich eine Ausnahme!"

Mein Gott, was tat sie hier? Kaffeeklatsch mit einem Zeugen. Die zweite Abweichung von der Regel, und das an einem Tag. Erst besuchte sie Dressler zu Hause anstatt ihn ins Präsidium zu laden, und dann ließ sie sich auch noch Kuchen und Tee von ihm servieren. Dressler ließ sich ebenfalls am Tisch nieder, auf der Seite des Fensters, so dass er und Melinda über Eck beieinander saßen. Er goss sich Kaffee ein. Melinda betrachtete seine kräftigen Hände, die rissige Haut, die nicht mehr ganz sauberen Fingernägel. Einen Ehering trug Dressler nicht. Lebte er tatsächlich allein in diesem Haus? Allein mit seinem Hund?

Melinda sah auf die Küchenuhr, welche über dem Herd hing. Sie wollte heute noch zum Fundort der Leiche, danach mit Bullerjahn Helmholtz' Bericht durchgehen. So nett Dressler auch zu ihr war, sie musste auf die Tube drücken!

„Das Meiste habe ich Mattias gestern Abend schon erzählt!"

Melinda nickte und zog den Teebeutel aus ihrer Tasse.

„Sie haben Erik Gramberg angerufen nachdem sie Stellas Leiche gefunden haben, und zwar noch bevor sie Bullerjahn anriefen."

Dressler nahm sich ein Stück Streuselkuchen und biss hinein. Ein paar Krümel fielen herunter. Silva sprang auf und leckte sie mit der Zunge vom Boden.

„Erik und ich sind Nachbarn. Nachbarn und Freunde. Einmal in der Woche treffen wir uns im Gasthaus zum Kartenspielen."

„Und Stella?"

„Stella kannte ich nur vom Sehen. Sie hat in der Küche gearbeitet, manchmal auch bedient. Sie war Eriks Pilzexpertin. Er erzählte oft von ihr und hielt große Stücke auf sie. Armes Ding!"

Ding? Dass Dressler eine junge Frau als Ding bezeichnete, gefiel Melinda gar nicht.

„Die Skatrunde heute Abend wird wohl ausfallen!"

Dressler leckte sich die Finger ab. Die Skatrunde, war das sein größtes Problem?

„Sie treffen sich immer montags?"

„Montags um 19.00 Uhr."

„Und vor einer Woche, ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen? Hat Erik Gramberg sich auffällig verhalten?"

„Nein, mir ist nichts aufgefallen. Er hat wie immer den ganzen Abend an seinem Bierkrug genuckelt. Gegen acht war er schon reichlich angetrunken."

„Und Stella?"

„Sie hat uns bedient, hat uns Bier und Würstchen gebracht."

„Sie war wie immer?"

Dressler nahm einen großen Schluck Kaffee.

„Sie war gut gelaunt, hat viel gelacht und gescherzt."

„War sie immer so?"

„Sie war ein fröhlicher Mensch, wenn Sie das meinen. Ein echter Lichtblick in Eriks eichendunklem Gasthaus."

Das hat er schön gesagt, dachte Melinda. Sie erinnerte sich an Bullerjahns Satz vom gestrigen Abend. Er hatte gesagt, dass jeder Stella gekannt hat. Es gab diese Menschen, die mittels ihrer Ausstrahlung Herzen öffnen konnten, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Melinda konnte sich gut vorstellen, dass Stella zu diesen Menschen gehört hatte.

„Was haben Sie gedacht, als Sie sie gefunden haben?"

Dressler überlegte. Er nahm ein Stück Kuchen, brach eine Ecke ab und gab sie Silva, die ihre nasse Schnauze zu ihm hinaufstreckte.

„Ich bin selten da oben hinter dem Hochwasserbehälter, und wenn, dann komme ich von der anderen Seite, vom Mittleren Weg, um die Krippen für die Wildtiere aufzufüllen."

Futter für die Wildtiere? Gab es das nicht nur im Winter?

„Wir haben September, füttern Sie schon jetzt?"

Dressler lachte. Lachte er sie aus? Er hatte schöne, ebenmäßige Zähne und volle Lippen. Melinda stellte sich vor, wie es wäre sie zu küssen. Nicht jedoch hier, in diesem staubigen Haus voller toter Tiere.

„Ich bereite sie für den Winter vor, überprüfe ihre Stabilität, repariere sie notfalls. Silva hat Stella gefunden."

Melinda sah zu der Hündin hinunter, die sie ebenfalls ansah. Braves Tier! Gut gemacht! Zur Belohnung stelle ich dir bald Zippo vor. Ihr werdet euch sicherlich gut verstehen!

„Ich habe gedacht, da hocke jemand auf dem Waldboden und bete."

„Woher wussten Sie, dass es sich um Stella handelte?"

„Es gab hier nur einen Menschen, der mit einem solchen Korb in den Wald ging und Pilze sammelte."

„Sie haben sie am Korb erkannt?"

Dressler nickte.

„Wie das?"

„Der Korb ist alt, handgeflochten, ganze Generationen haben damit Pilze gesammelt."

Melinda missfiel es, dass Dressler niemals direkt auf ihre Fragen antwortete. Sie tat es nur ungern, doch sie musste die Zügel etwas fester anziehen.

„Ich wollte wissen, woher Sie den Korb kannten!"

Jan Dressler blickte sie überrascht an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie auch den Bad Cop spielen konnte.

„Sie hatte ihn von mir. Es war der Korb meiner Mutter. Zufrieden?"

Hoppla, Herr Oberförster, warum so pampig? Melinda trank von ihrem Tee, schluckte die Irritation einfach hinunter. Sie sah auf ihren leeren Block, der neben ihr auf der Küchenbank lag. Sollte sie sich Notizen machen? Das kam ihr jetzt unpassend vor. Sie nahm sich vor, ein kurzes Gedächtnisprotokoll anzufertigen, gleich nachher, wenn sie wieder im Wagen saß. Welche Fragen waren noch offen? Eine Menge, vermutete Melinda, sie würde sicherlich noch einmal wiederkommen müssen, jedoch nur wenn sie sich mit Dressler außerhalb des Hauses, zum Beispiel im Garten treffen konnte.

Die Frage nach dem Korb gefiel Dressler überhaupt nicht, so viel war klar. Doch er hatte sich schon wieder beruhigt. Jetzt sah er aus dem Fenster und deutete auf den Holzstapel.

„Ich muss noch ..."

„Das Holz fertig hacken? Können Sie, ich bin gleich verschwunden!"

„Sie hat immer so einen blauen Plastikeimer mit in den Wald genommen. Ich sagte ihr, dass die Pilze darin schnell Druckstellen bekommen, besonders die Röhrlinge, die laufen ganz schnell blau an und werden so unansehnlich und matschig. Ich verstehe das nicht, die Leute gehen doch tatsächlich mit Aldi-Tüten in den Wald!"

Blau und matschig, wie Stellas Gesicht im Pilzkorb, dachte Melinda, verscheuchte den Gedanken jedoch gleich wieder.

Sie kraulte Silva den Kopf, dann griff sie nach ihrem Block und rutschte von der knarzenden Bank.

„Ich will dann mal wieder."

Sie klopfte sich ein paar Krümel von der Jacke. Als sie in den staubigen Flur hinaustrat, umfing sie wieder trübes Licht, von den Wänden starrten sie die Tiere mit ihren Glasaugen an. Obwohl sie sich so auf diesen Besuch gefreut hatte, jetzt wollte Melinda dieses Haus so schnell wie möglich verlassen. Dressler tat ihr leid. Er hatte sich so viel Mühe gegeben. Streuselkuchen und Kaffee. Es war sicherlich nicht leicht, ein ganzes Haus allein in Schuss zu halten, wenn man den ganzen Tag beruflich unterwegs war. Melinda dachte an ihre Goslarer Wohnung, dich noch immer darauf wartete, aufgelöst zu werden. Auch Melinda hatte es nie wirklich vermocht, regelmäßig zu saugen, Staub zu wischen und die Fenster zu putzen. Die Arbeit im Präsidium war zu anstrengend gewesen und am Wochenende hatte sie nur noch die Füße hochlegen wollen.

Er brachte sie zur Tür. Beim Abschied sah er auf ihr Haar.

„Was hat es mit diesen Klemmen auf sich?"

„Reine Magie!"

Dressler sah sie irritiert an. Dann gab er ihr die Hand.

„Auf Wiedersehen, Frau Kommissarin! Bis bald einmal!"

Sie griff nach seinem Arm und zog ihn zu sich heran. Dann zückte sie ihren Kugelschreiber und schreib ihm ihre Handynummer auf die Haut. So etwas hatte sie noch nie getan. Sie kannte Jan Dressler doch gar nicht!

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