21

Melinda rief Dressler an. Sie besaß nur seine Festnetznummer. Es dauerte einige Zeit bis er ans Telefon ging. Der Weg vom Garten ins Haus sei lang, erzählte er ihr. Er ginge immer durch den Keller, müsse die Stiefel ausziehen. Er habe Holz gehackt, denn: es würde kalt werden ab nächster Woche! Ein schnurloses Telefon? Habe er nicht. Sie verabredeten sich für elf Uhr bei ihm zu Hause. Vorher wollte Melinda sehen, wie es Arndt ging und einen kurzen Spaziergang mit Zippo machen.

Arndts Zimmertür stand weit offen. Er lag nicht mehr in seinem Bett. In der Küche fiel etwas zu Boden. Melinda hörte Arndt fluchen.

„Dämliche Tasse! Verdammte, dämliche Tasse!"

Er stand in der Küche, mit nichts als Boxershorts und einem knittrigen T-Shirt bekleidet. Seine nackten, rot angelaufenen Füße standen in einer großen Teepfütze. In der zitternden Hand hielt er die Hälfte einer zerbrochenen Tasse. Die andere Hälfte war unter den Tisch gekullert.

„Mach dir nichts draus, die hatte schon vor Tagen einen Riss!"

Melinda bückte sich nach den Scherben, während Arndt mit vorsichtigen Schritten zum Küchentisch ging und sich auf einen der Stühle setzte.

„Guck mich nicht so an, bitte! Ich sehe scheiße aus, ich weiß. Und genauso fühle ich mich auch!"

„Du solltest zum Arzt gehen."

„Keine Kraft."

„Es gibt Ärzte, die machen Hausbesuche!"

Sie nahm ihm die halbe Tasse aus der Hand und warf sie zusammen mit den anderen Scherben in den Mülleimer. Dann holte sie aus dem Unterschrank einen Wischlappen und schmiss ihn auf die Teepfütze. Mit gezielten Stupsern ihres Fußes sorgte sie dafür, dass er sich vollsog. Anschließend warf sie das klatschnasse Ding ins Waschbecken.

„Christiansen will, dass wir diesen Fall für sie lösen. Stella Blume, das tote Mädchen im Wald. Wir kriegen eine Woche. Ich habe schon zugesagt."

Arndt blickte ihr aus geröteten Augen entgegen. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er nur Bahnhof verstand. Doch egal, sie gab ihm später eine Kurzzusammenfassung.

„Und wir bekommen Verstärkung. Skagen Berggren aus Lund. Wahrscheinlich schon morgen. Bist du in der Lage, Recherchearbeit zu erledigen?"

Arndt nickte.

„Du hast den Wandersmann gezeichnet, Arndt. Was weißt du über ihn? Hast du ihn gesehen?"

Kopfschütteln.

„Er erinnert mich an meinen Vater, weißt du das! Die Augen, die Nase. Das ist unheimlich! Ich frage mich, weshalb er gerade jetzt auftaucht. Was will er von uns?"

Arndt sagte nichts. Das war für ihn zu viel auf einmal.

Es knirschte. Melinda war auf eine Scherbe getreten.

„Melinda, dieser Zippo, was ist das eigentlich für einer?"

Sie drehte den Kopf und sah ins Wohnzimmer hinüber, wo der Hund friedlich auf seiner Decke schlief.

„Ein junger Windhund würde ich sagen, vielleicht ist auch ein bisschen Pudel dabei!"

Während Arndt im Bad verschwand, um sich den Bettgeruch vom Körper zu waschen, wagte Melinda einen Blick in sein Zimmer. Das Bett war zerwühlt, auf dem Boden lag Beas Krimi. Arndt hatte einen Kuli als Lesezeichen hineingeschoben. Nach dessen Position im Buch zu urteilen hatte er schon über zwei Drittel des Romans gelesen.

Welchen Arzt konnte sie anrufen? Welcher machte Hausbesuche? Sie kannte nur eine Ärztin, und die war auf Tiere spezialisiert. Aber vielleicht konnte sie Melinda einen Kollegen empfehlen. Sie wählte Dr. Grimmes Nummer und musste es lange klingeln lassen bis am anderen Ende der Hörer abgenommen wurde. Die Ärztin schien sich über ihren Anruf zu freuen und erkundigte sich nach Zippos Zustand. Melinda berichtete ihr von seinen Fortschritten und erwähnte Arndts Erkältung.

Die Antwort vom anderen Ende der Leitung kam prompt.

„Ich komme vorbei!"

Hatte Dr. Grimme keine Patienten? Melinda sah auf die Uhr. Es war fast zehn.

„Kennen Sie sich denn mit grippalen Infekten bei Menschen aus?"

Dr. Grimme murmelte, wie sie das verstehen solle und dass sie mal schauen müsse. Dann legte sie auf.

Arndt stand vor dem Waschbecken und betrachtete sein zerzaustes Äußeres.

„Dr. Grimme kommt gleich vorbei und guckt sich Zippo an. Sie könnte auch dich kurz untersuchen, wenn du ..."

Er schnaubte.

„Eine Tierärztin ...?"

„Besser als nichts!"

Arndt knallte die Tür zu. Melinda hörte das Wasser rauschen. Einen Moment später wurde die Tür entriegelt, und Arndt kam mit klatschnassen Haaren und mit nichts als einem weißen Handtuch um die Hüften aus dem Bad geschlichen.

„Ich will wieder ins Bett. Nur ins Bett!"

Zwanzig Minuten später klingelte es und Dr. Grimme stand vor der Tür. Nachdem sie mit Melinda Tee getrunken, sah sie nach Zippos Wunden. Sie waren gut verheilt und brauchten nicht weiter behandelt zu werden. In ein paar Tagen konnten die Nähte gezogen werden.

Arndts Untersuchung dauerte nur fünf Minuten.

„Sie hatten recht, Ihr Kollege hat einen grippalen Infekt. Bettruhe ist wichtig, viel Tee, später eine Brühe und Zwieback. In drei bis vier Tagen hat er es hinter sich."

Nach einer weiteren Tasse Tee verabschiedete sie sich, nicht ohne nachzufragen, was aus dem Schrebergarten geworden sei. Melinda sagte, dass sie noch unentschlossen sei, obwohl das nicht stimmte. Sie war sogar sehr entschlossen, den Garten zu kaufen. Zur Einweihung wollte sie ein Fest geben.

Nachdem sie Arndt mit Kamillentee und Zwieback versorgt und Zippo zu einem Spaziergang entlang der Söse genötigt hatte, kehrte sie ins Präsidium zurück. Zuerst stattete sie Lissi einen Besuch ab, die wie immer keine Zeit für sie hatte. Auf dem Tisch am Fenster lag ein brauner Umschlag für Melinda, auf dem jemand in hastiger Schrift ihren Name geschrieben hatte.

„Gruseliges Zeug, das Sie mir hier anschleppen, Melinda Sieben!"

Lissi sprach mit ihr, ohne sich umzudrehen. Auf ihrem Monitor schob sie Augenpaare von rechts nach links, tauschte Münder und Nasen. Melinda sah wieder auf den Rosenstrauch. Eine kleine Karte hing daran. Schade, von hier aus konnte sie nicht erkennen, was darauf stand. Doch sie konnte auch so eins und eins zusammenzählen. Wenn Petersen die Fotos gesehen hatte, dann war er hier unten gewesen, hatte mit Lissi gesprochen. Die Rosen konnten von ihm sein. Petersen liebte Lissi! Wusste sie, auf wen sie sich da einließ?

„Danke Lissi, bis demnächst!"

Keine Reaktion. Melinda verließ das Atelier.

Beim Hinausgehen öffnete sie den Umschlag und zog den Stapel Fotos heraus. Mit Sophies Fotokünsten war es nicht weit her. Die Bilder waren unscharf. Hatte sie nicht gesagt, dass sie schon längere Zeit fotografierte? Melinda erkannte die Eingangstür ihres Hauses, davor die hohe Linde, die ihren Schatten auf die Hausfront warf. Dort war ihr Fenster mit den vorgezogenen Gardinen, dort das Wohnzimmerfenster. Wo aber war die Person, die Sophie beobachtet haben wollte?

Melinda stieg die Treppe hinab ins Untergeschoss und lief bis zur Kantine. Hier war das Licht besser. Sie stellte sich in eine unbeobachtete Ecke und besah sich die Fotos erneut. Das Licht der Straßenlaternen, die Schatten des Baumes, ein leerer Bürgersteig. Was hatte Sophie gesehen? Melinda zählte die Abzüge. Einundzwanzig Bilder. Hastig blätterte sie sie durch. Da musste es doch etwas geben! Drei Kollegen von der Streife liefen an ihr vorbei und betraten laut erzählend die Kantine. Auf dem Flur hinter ihr näherte sich Lissi, die fröhlich vor sich hin pfiff und sie nicht zu bemerken schien. Melinda steckte die Bilder zurück in den Umschlag und ging hinauf in ihr Büro. Sie drückte die Tür hinter sich ins Schloss und setzte sich an den Schreibtisch. Sophie, Sophie, du verrücktes Ding, was hast du gesehen?

Sie breitete die Fotos auf dem Tisch aus. Mit einer Lupe, die sie in der Schublade fand, suchte sie ein Bild nach dem anderen Quadratzentimeter für Quadratzentimeter ab.

Sie suchte den Wandersmann.

Hier war ein Zweig, den sie zuerst für einen Arm, dort der Schatten des Stammes, den sie vorschnell für einen menschlichen Körper gehalten hatte. Nachdem sie alle Bilder dreifach, vierfach abgesucht hatte, lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und starrte an die Decke. Eine Fliege kroch über den Putz. Melindas Augen schmerzten.

Was sollte dieser ganze Mist? Ein Phantom, das Botschaften hinterließ und von einer minderjährigen Tankstellenhilfskraft auf frischer Tat ertappt wurde, eine verwüstete Wohnung, die sich am Ende als unversehrt herausstellte? Wenn das so weiterging mit ihr, dann konnte sie den psychologischen Eignungstest bei Dr. Rose vergessen!

Mit einer wütenden Armbewegung wischte sie die Fotografien vom Tisch, so dass sie in alle Richtungen davonflogen. Jetzt ging es ihr besser! Sie rollte mit dem Stuhl nach hinten und betrachtete die auf dem Boden verstreuten Bilder. Das hatten sie davon! Dann stand sie auf, ging zu den Pflanzen hinüber und goss sie. Melinda liebte dieses gluckernde Geräusch der Blumenerde, wenn sie sich mit Wasser vollsogen. Es beruhigte sie. Genau wie das Sortieren ihrer Haarklemmen.

Nachdem sie alle Pflanzen mit ihrer Aufmerksamkeit bedacht hatte, ging sie zurück zu den Fotografien, sammelte sie wieder ein und legte den Stapel auf den Schreibtisch. Sie hatte ein Problem: die tote Stella. Den unscharfen Fotos einen Sinn abzutrotzen, war ein anderes Problem. Was hatte ihr der Wandersmann mit auf den Weg gegeben?

Die Lösung lag nicht immer dort verborgen, wo man sie vermutete.

Was sollte sie tun? Wieder nahm sie den Bilderstapel in die Hand, wieder blätterte sie Foto für Foto durch. Diesmal schob sie jedoch nicht das jeweils vorderste hinter den Stapel, sondern betrachtete sie wie die Bilder eines Daumenkinos. Und das sah sie es!

Die Schatten der Äste, des Stammes und der krüppeligen Zweige an der Hauswand: In der Bewegung formten sie einen Körper mit zittrigen Konturen, langen Armen, ausgreifenden Beinen. Vor Melindas Augen kroch der Schatten des Wandersmannes über die Hauswand. Ein Schatten in einundzwanzig Bildern. Wieder und wieder ließ Melinda die Fotos über ihren Daumen springen, und bei jedem Mal richteten sich die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken ein Stückchen weiter auf.

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