20

Im Flur standen Petersen und Steffens und fummelten am Kopierer herum. Petersen trank Kaffee und klappte dabei immer wieder die Abdeckung des Gerätes hoch und wieder runter, hoch und wieder runter. Melinda erinnerte das an die kraushaarige Annika aus der Reha-Klinik. Annika hatte einen Flugzeugabsturz überlebt und sprang während des Essens manchmal auf, um mit lautem Brummen und flügelschlagenden Armen durch den Speisesaal zu laufen. Hoch und runter. Hoch und wieder runter. Meist beruhigte sie sich von selbst, manchmal mussten sie die Pfleger einfangen.

Steffens hatte eines der Papierfächer herausgezogen und versuchte, ein verklemmtes Papier zu befreien. Es gelang ihm nicht, das sah man deutlich, sein Gesicht war puterrot. Melinda fürchtete um das Leben der Topfpflanze, die neben dem Kopierer stand. Petersen machte keine Anstalten, seinem Kollegen zu helfen. Er schlürfte seinen Kaffee und grinste Melinda blöd an. Dabei stand er so raumfüllend im Flur, dass sie und Bullerjahn kaum an ihm vorbeikamen, ohne ihn anzurempeln.

„Na Kollegin, du fotografierst leere Straßen und lässt sie von Lilli als Beweismaterial entwickeln! Das nenne ich mal Vergeudung von Steuergeldern!"

Melinda präsentierte ihm ihren schönsten Finger und drückte Petersen zur Seite. Vor lauter Überraschung verschüttete er seinen Kaffee. Im Weitergehen hörte sie Steffens Aufschrei. Sie konnte sich denken, wo der Kaffee gelandet war. Woher wusste Petersen von den Fotos?

Im Gehen näherte Bullerjahn sich ihrem Ohr.

„Die zwei schlagen sich mit einer Einbruchserie herum! Jede Woche ein neuer Einbruch und nie wird was gestohlen. Eine harte Nuss. Die drehen vollkommen am Rad!"

Melinda grinste. Sie warfen einen Blick in Beas Büro. Bea saß an ihrem Schreibtisch, auf der Nase eine Lesebrille, der Computer vor ihr surrte. Heute trug sie ein violettes Kleid mit großen Tulpenmustern. Bullerjahn sah sie verliebt an. Auf ihrem Tisch stand ein bunter Blumenstrauß. Das ist heute schon der zweite, dachte Melinda. Blumen machen glücklich. So allmählich tut sich hier was in Sachen Grünzeug!

„Schon was von deinem Mann gehört?"

Bullerjahn lehnte sich auf den Tresen und spielte mit einem Kugelschreiber. Bea drehte sich in ihrem Stuhl, stieß sich vom Boden ab und kam zu ihnen gerollt.

„Nichts. Und von mir aus kann das auch so bleiben!"

„Sollen wir uns kümmern?"

Bea winkte ab.

„Lasst mal. Der taucht schon wieder auf!"

„Arndt liest eins deiner Bücher!"

Jetzt stand Bea auf und lehnte sich ihrerseits auf den Tresen. Dabei kam sie ganz nah an sie heran, die Augen neugierig aufgerissen. Bea roch nach Pfefferminzbonbons.

„Welches denn? Lass mich raten! Für immer dein?"

„Falsch!"

Das Liebesnest?"

„Auch nicht!"

„Dann den Krimi. War ja klar. Mein schlechtestes Buch!"

Melinda schüttelte den Kopf.

„Ich glaube Arndt gefällt es. Er liest eine Menge Krimis. Er weiß was gut ist!"

Eine größere Freude hätte Melinda ihr nicht bereiten können. Täuschte sie sich, oder öffneten sich die Tulpenblüten auf Beas Kleid tatsächlich ein Stückchen weiter? Bea griff unter den Tresen und holte ein Glas mit Himbeerbonbons hervor.

„Das muss gefeiert werden! Hier, nehmt euch so viel ihr wollt!"

Sie verabredeten sich zum Mittagessen. Bullerjahn drückte Beas Hand und warf ihr einen unmissverständlichen Blick zu, den sie mit klimpernden Wimpern erwiderte.

Sie gingen in Melindas Büro. Melinda schloss die Tür hinter ihnen. Für Bullerjahn holte sie den Drehstuhl aus Arndts Büro.

Zum ersten Mal knabberte sie an ihrem Brötchen, das schon etwas schlapp aussah und sah Bullerjahn abwartend an.

„Sie hat uns ein Ultimatum gestellt!"

Er rieb sich die Stirn bis die Haut rot anlief.

Melinda leckte Soße vom Salatblatt.

„Habe ich mitbekommen!"

„Eine Woche! Die ist verrückt!"

„Ist sie. Dann dieses Fernsehteam, nächste Woche der Test. Wir haben gut zu tun."

Bullerjahn sprang auf und ging hinüber zum Whiteboard, wo er sich einen der Marker aus der Ablage nahm. Mit der linken Hand fuhr er sich durch das drahtige Haar und strich sich anschließend über den stoppeligen Bart. Sein Blick wanderte vom Whiteboard zu Melinda, von dort zu dem alten Gemälde, das er durch die offenstehende Schiebetür sehen konnte.

„Das alte Ding ist noch da? Dachte, es wäre längst auf dem Sperrmüll!"

Er legte den Stift zur Seite und ging in Arndts Büro. Vor dem Bild blieb er stehen. Melinda folgte ihm, obwohl sie fand, dass sie jetzt wirklich Wichtigeres zu tun hatten.

Den schmalen Mann konnte sie nirgends entdecken, doch erschien ihr der gemalte Wald heute dunkler und undurchdringlicher als am Tag ihrer Ankunft. Kein Vogel zeigte sich in den dichten Baumkronen, kein Hase oder Reh stand im hüfthohen Gras. Das Bild wirkte seltsam unbelebt, verharrend, als hielte es die Luft an.

„Das Ding hing schon, als ich hier anfing. Damals war es schon alt! Es gehörte dem alten Groener, Willi Groener, einem echten Urgestein, der schon 1945, gleich nach dem Krieg, Mörder gejagt hat. Gott habe ihn selig!"

„Mattias, wir sollten eine Liste machen!"

Das war ihr herausgerutscht. Noch nie hatte sie Bullerjahn mit Vornamen angesprochen. Die Entschuldigung lag ihr auf der Zunge, doch da Bullerjahn nicht widersprach, schluckte sie sie hinunter. Sie griff sich ins Haar. Eine Klemme war verrutscht, die Ordnung gestört. Mit einem Handgriff war wieder alle so wie es sein sollte. Die rote neben der violetten, die blaue neben der gelben, die grüne neben der orangefarbenen Klemme.

„Eine Liste, natürlich!"

Das war genau das, was er vorgehabt hatte. Er ging zurück zum Whiteboard und notierte mit quietschendem Marker eine Überschrift: Stella. Darunter alle Positionen, die zu erledigen waren. Er schrieb:

- Wer war Stella Blume?

- Untersuchung von Stellas Zimmer (Helmholtz!) Montag

- Fortsetzung der Befragung Erik Gramberg (Montag)

- Fortsetzung der Befragung Jan Dressler (Montag)

- Bericht Helmholtz (Montagmittag?)

- Untersuchungsbericht Rechtsmedizin (Dienstagabend?)

- Einbeziehung Skagen Berggren?

- Arndt?

- Zwischenbericht für Christiansen bis Mittwoch

Melinda ließ sich in in ihren Sessel fallen. Bullerjahn tat es ihr nach. Gemeinsam starrten sie auf das Geschriebene. Hatten sie was vergessen? Die Liste war ein Anfang. Was im Laufe der Woche noch dazukam, ließ sich schwer abschätzen. Nächster Punkt: wer übernahm was? Melinda begann.

„Ich gehe zu Dressler!"

Sie bemerkte Bullerjahns amüsierten Blick. Sollte der alte Zausel sich doch denken, was er wollte. Dressler besaß einen Hund, und sie hatte auch einen. Außerdem interessierte es sie, wie er sein Haus eingerichtet hatte.

„Schreib noch dazu: Tatort abgehen!"

„Zeitverschwendung! Hat Helmholtz schon erledigt. Außerdem, wir waren doch schon da!"

„Ich will noch einmal hin! Allein! Erst zu Dressler, dann in den Wald."

Bullerjahn ging zum Whiteboard und schrieb jeweils ein M wie Melinda hinter ihre Positionen.

„Wann bist du zurück?"

„Spätestens um drei."

„Wir treffen uns wieder hier und gehen zusammen Helmholtz' Bericht durch."

Morgen war Arndt sicherlich soweit wieder fit, dass er am Rechner sitzen und Nachforschungen zu Stellas Vergangenheit anstellen konnte. Melinda erhob sich aus dem knarzenden Bürostuhl, nahm Bullerjahn den Stift aus der Hand und schrieb ein A wie Arndt hinter die Position „Stella Blume". Wie ausdauernd war Helmholtz? Konnte er schon heute Abend Stellas Zimmer untersuchen?

Sie fragte Bullerjahn, doch der winkte ab.

„Helmholtz ist ein Tier, doch selbst der härteste Grottenolm braucht irgendwann Schlaf. Der schreibt seinen Bericht, schickt ihn heute Mittag rüber, und dann haut er sich aufs Ohr. Vor zehn Uhr heute Abend brauchst du den nicht anzurufen!"

Damit war klar, dass sie Stellas Zimmer selbst unter die Lupe nehmen mussten, wollten sie diesen Punkt heute abhaken. In jedem Kommissariat gab es irgendwo einen Spurensicherungskoffer. Bea konnte ihnen bestimmt sagen, wo sie ihn fanden. Bullerjahn malte einen Smiley auf die Tafel.

„Der Bericht aus der Rechtsmedizin kommt nicht vor morgen Abend, was nicht so wild ist, vorausgesetzt er enthält keine Überraschungen."

„Bleibt noch der Zwischenbericht."

„Den schreibe ich!"

„Und der Neue?"

„Dieser Skagen Berggren?"

Bullerjahn zeichnete eine weitere Figur. Ein dünnes Männchen mit Elchgeweih und einem Fragezeichen über dem Kopf.

„Niemand hier kennt Skagen, Christiansen wahrscheinlich auch nicht. Garantiert war sie ihrer schwedischen Freundin was schuldig und wir haben jetzt dafür einen Praktikanten am Hacken!"

„Die Mordkommission wächst wieder. Wir sind schon vier!"

„Ja, sie wächst!"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top