19
Es war genau so, wie sie befürchtet hatte. Keine aufgebrochenen Türen, keine Äste, Blätter und Walderde auf den Stufen, die Wohnung nicht verwüstet, Zippo nicht verletzt.
Als sie die Wohnungstür öffnete, kam er ihr schwanzwedelnd entgegen gelaufen. Sie kniete sich hin und umschlang ihn mit ihren Armen. Der Geruch von nassem Fell stieg ihr in die Nase, würzig, aber nicht unangenehm. Zippo hielt still. Er spürte, dass Melinda das jetzt brauchte. Sie kraulte seine Ohren, kratzte ihm den Kopf und strich ihm über das Fell.
„Du hast ihn doch gesehen, Zippo! Du hast ihn gesehen, oder mein Junge! Er war hier. Er hat den Brief hier gelassen. Ich bin nicht verrückt, Zippo, ich bin nicht verrückt, ganz bestimmt nicht!"
Melinda dachte an den Film, den sie Sophie an der Tankstelle abgenommen hatte. Sie musste ihn gleich morgen zu Phantombild-Lissi bringen. Melinda stand auf. Zippo schüttelte sich und lief zurück ins Wohnzimmer, wo er sich wieder auf seine Decke hinter dem Sofa legte.
Sie drückte Arndts Tür ein Stück weit auf und schaute zu ihm hinein. Er schlief. Seine Atemzüge gingen regelmäßig. Melinda legte ihm vorsichtig die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich normal an. Das Skizzenbuch lag aufgeschlagen neben ihm. Die Seiten waren gefüllt, das sah sie von hier. Knäule aus schwarzen Strichen, düstere Entwürfe, so dunkel und tief wie Erdlöcher. Einen Moment zögerte sie. Dann beugte sie sich vorsichtig über ihren Kollegen und nahm das Skizzenbuch an sich. Auf Zehenspitzen schlich sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Obwohl sie hundemüde war, befüllte sie den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Sie holte eine Tasse aus dem Schrank und ließ einen Teebeutel hineinfallen. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und besah sich Arndts Zeichnungen. Zehn Doppelseiten waren neu gefüllt. Wann hatte er gezeichnet? Im Schlaf? War er wach geworden und aufgestanden? Hatte er im Dunkeln gearbeitet? Die Linienführung und das aufgekratzte Papier verrieten Melinda, dass Arndt mit schwarzem Kugelschreiber gearbeitet hatte. Unendlich wilde Linien, die sie kannte. Spitzen, Wellen, Kreisbewegungen, als sähe er seinem Gehirn beim Arbeiten zu und hielte es zeitgleich auf Papier fest. Die Arbeiten waren, wie fast immer, alles andere als eindeutig. Für eine Außenstehende waren es die Zeichnungen eines Wahnsinnigen. Auf den zweiten Blick, wenn man die Seiten drehte, diese und jene Stelle mit der Hand abdeckte, kamen Formen zum Vorschein. Ein Auge, ein Mund. Melinda blätterte weiter. Ein weiteres Auge, Falten, Finger, ein Ellenbogen. Nächste Seite. Ein Fuß. Nein, ein Schuh. Wildes Haar, ein Bart. Nächste Seite. Verkrüppelte Kiefern, Wurzeln, eine Hütte aus Zweigen. Eine Höhle? Nächste Seite.
Als der Wasserkocher sich mit einem lauten Klicken ausschaltete, zuckte Melinda zusammen. Ihre Hände zitterten. Sie stand auf und goss etwas von dem heißen Wasser in die Tasse. Im Stehen blickte sie erneut auf das Skizzenbuch. Sie wagte es nicht, sich zu setzen. Ein schiefes, schmutziges Dach, grobe Wände, eine dichte Tannenschonung, Fenster so schwarz wie Käferaugen. Melinda starrte ungläubig auf ihre Gänsehaut. Haare wie dünne Stacheln. Mehr als fünfzig Skizzenbücher hatte er in den vergangenen zwölf Monaten gefüllt, doch es war das erste Mal, dass Arndt die Hütte zeichnete. Freislers Hütte. Sein Waldversteck. Arndts und Melindas Gefängnis, ihr Folterkeller. Warum jetzt? Warum hier?
Mit spitzen Fingern griff sie nach dem Papier und blätterte die Seiten langsam zurück. Bart, Haare, Schuhe, Hände, Arme. Lauter Einzelteile. Arndt hatte ihr ein Puzzle hinterlassen, und sie besaß genug Fantasie, um es zusammenzusetzen, auch ohne dass sie die Seiten herausriss und auf dem Boden ausbreitete. Es war der Wandersmann. Arndt hatte den Wandersmann gezeichnet. Jetzt wusste sie wie er aussah. Jetzt konnte sie ihn suchen gehen.
Am nächsten Morgen ging es Arndt besser. Zwar war es ausgeschlossen, dass er mit ins Präsidium kam, doch er konnte aufstehen, Kaffee kochen, auf dem Sofa sitzen und Zeitung lesen. Melinda musste das Gespräch mit Christiansen also ohne ihn über sich ergehen lassen.
„Soll ich ihr irgendwas von dir ausrichten?"
Arndt stand am Waschbecken, musterte sein zerrupftes Gesicht im Spiegel und schüttelte den Kopf. Genau wie Melinda erwartete er nichts Besonderes und schon gar nichts Erfreuliches von der Unterredung, trotz zahlreicher Andeutungen, die Bullerjahn von sich gegeben hatte.
Nachdem sie mit Zippo spazieren gegangen war und ihm den Futter- und den Trinknapf gefüllt hatte, verließ sie die Wohnung.
Sie hastete durch die Eingangshalle, sprang die Treppen hinauf, rief Bea einen Morgengruß zu und wollte gerade ihr Büro betreten als Bullerjahn in seiner Tür erschien. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine Zigarillo. Man sah ihm an, dass er zu wenig geschlafen hatte. Die Begrüßung vergaß er.
„In fünf Minuten bei Christiansen. Arndt ist noch nicht wieder fit?"
Melinda schüttelte den Kopf. Sie war überrascht, weil sie mit einem Vieraugengespräch gerechnet hatte.
„Du bist auch dabei?"
„Klar! Schick siehst du aus!"
Melinda kam nicht dazu, noch einmal nachzufassen, da Bullerjahn wieder in den Rauschschwaden seines Büros verschwunden war und sie keine Lust hatte, ihm zu folgen. Sie sah an sich hinunter. Die maigrüne Bluse mit dem Tulpenmuster war in Ordnung, der weinrote Rock und die halbhohen Wildlederstiefeletten passten hervorragend dazu. Ihre Haarklemmen hatte sie sortiert und in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht. Die grüne ganz nach vorn, das brachte Glück. Sie fand, dass sie einen kompetenten Gesamteindruck machte und hoffte, dass Christiansen das genau so sah. Melinda fühlte sich beschwingt, ohne dafür einen Grund nennen zu können. Noch vor etwa zwölf Stunden hatte sie große Lust verspürt, den ganzen Büttel hinzuwerfen und sich für den Rest des Lebens in eine einsame Waldhütte zurückzuziehen. Und jetzt? Sie spürte, das Gespräch könnte eine Wendung bringen, in welche Richtung auch immer. Veränderungen hatten sie schon immer euphorisiert.
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