Kapitel 30
Den gesamten Flug überflog ich die Worte aus dem Brief und versuchte, aus ihnen schlau zu werden. Obwohl ich den Inhalt so langsam verinnerlichte, konnte ich immer noch nicht glauben, was mir die Worte in dem Brief sagen wollten. Das Gefühl von Sehnsucht kämpfte sich immer wieder an die Oberfläche, das ich versuchte so gut es mir möglich war zu unterdrücken. Es gab so viele rationale Gründe, warum es falsch war, sich auf diese Worte einzulassen. Doch wann handelte mein Körper und mein Geist in letzter Zeit schon rational?
Auch wenn sich mein verräterisches Herz danach sehnte, mein Smartphone aus der Handtasche zu ziehen und in den Nachrichtenverlauf zwischen Gabe und mir zu gehen, zwang ich meine Hände den gesamten Flug die Briefseiten zu umklammern, die bereits ganz gewellt von meinen schwitzigen Händen waren.
Es ist zu viel passiert, um ihm einfach so verzeihen zu können.
Dieser Gedanke bildete ein weiteres Geflecht aus Gedanken, die meinen Kopf vollständig einnahmen. Es war unbestreitbar, dass Gabe, Giulia, Anna und Miguel mich von Anfang an belogen hatten. Die Rolle von Akos in dieser Geschichte war zwar nicht klar, weshalb ich ihm nichts vorwerfen konnte, jedoch war die Enttäuschung gegenüber den Anderen zu groß, um zwischen den einzelnen Personen unterscheiden zu können. Möglicherweise würde Zeit die Wunden heilen, die mein Herz wie eine klaffende Wunde zum Schmerzen und zum Sehnen brachte.
Dieser Gedankengang war so unbestreitbar und in sich schlüssig, dass ich es tatsächlich, wenn auch mit aller Mühe, schaffte, meine Hände genau dort zu lassen, wo sie auch hingehörten. Nicht in die Tasche. Nicht zu meinem Smartphone.
Hätte mir jemand gesagt, dass ich bei der Landung des Flugzeugs nicht Erleichterung, sondern eine immer schwerer werdende Last empfinden würde, hätte ich diese Person für total wahnsinnig erachtet. Mit jedem Schritt, mit dem ich dem Terminal näher kam, wurde diese Last auf den Schultern ein Stückchen schwerer und ich hatte Angst, ganz unter ihr zu zerbrechen.
Mit jeder Minute, die ich länger auf meinen Koffer warten musste, wurde ich immer hibbeliger. Ich wippte von einem Fuß auf den anderen. Meine Nägel waren bereits vollständig zerkaut. Immerzu bildeten sich Tränen in meinen Augen und ich wusste, dass ich es nicht mehr lange aushalten würde, bis sich eben diese aus meinen Augenwinkeln lösen würden. Am liebsten hätte ich einfach den Frust und den Schmerz, die Sehnsucht und den Verrat von meiner Seele geschrien. Doch stattdessen hielt ich den Sturm aus Gefühlen in meinem Inneren gefangen.
Die gelbe Schleife um den Henkel des blauen Koffers erkannte ich als Erstes. Erleichterung durchströmte meinen Körper, als mir das Gepäckstück immer näher kam. Bevor der Koffer an mir auf dem Gepäckband davon fahren konnte, packte ich ihn und machte mich auf den Weg in Richtung Ausgang.
Ich genoss es, den langen Weg von der Gepäckausgabe zum Ausgang zu Fuß zu laufen, da wenigstens mein Körper abgelenkt und somit etwas zu tun hatte und nicht auf falsche Gedanken kam. Mein Herz pochte wie verrückt in meiner Brust, obwohl ich den genauen Grund dafür nicht bestimmen konnte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus Sehnsucht nach meinem eigenen Bett und dem Verlangen, kehrt zu machen und in ein Flugzeug nach Sizilien zu steigen.
Das weiße Schild mit schwarzen Lettern, die meinen Spitznamen formten, bemerkte ich als Erstes, als ich um die Ecke bog. Ich blickte erst zu Suz, die das Schild hielt und wie verrückt auf und ab hüpfte. Bereits von hier hinten konnte ich sehen, dass sie wieder einmal ihre Haarfarbe geändert hatte. Dieses Mal hatte sie ihre kurzen Locken in ein grün-blau umgefärbt und, wie jede andere Haarfarbe zuvor, stand ihr auch diese blendend. Max verweilte direkt hinter ihr und hatte seine Hände um ihre Taille gelegt. Ein breites, einnehmendes Grinsen lag auf seinen Lippen. Auch Stefan hatte es sich nicht nehmen lassen, beim Begrüßungskomitee dabei zu sein. Als mein Herz bei ihm keinen Schlag wie sonst üblich aussetzte wusste ich, dass meine romantischen Gefühle für ihn vollständig verblasst waren. Gabes kantiges Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf und ich wusste, dass diese Gefühle nicht vergangen, sondern jetzt für eine andere Person galten. Etwas weiter entfernt erblickte ich auch den weißen Lockenkopf meiner Oma, die nicht mehr still auf der Stelle stehen konnte und nur von meinem Opa, der wie immer die Ruhe in Person war, an der Hand festgehalten wurde, damit sie nicht über die Absperrung sprang.
Ein Lächeln begann sich langsam auf meinen Lippen zu formen. Obwohl ich es bereits geahnt hatte, spürte ich mit jedem weiteren Schritt, wie sehr ich diese Menschen vermisst hatte. Die Last, die ich soeben auf meinen Schultern vernommen hatte, wurde etwas leichter zu ertragen. Sie und niemand anderes waren meine Familie und ich wusste, dass sich alles zum Besseren wenden würde, sobald ich wieder bei ihnen sein würde.
Suz war die Erste, die das Schild fallen ließ und auf mich zurannte. Ich musste all meine Kraft zusammennehmen, dass wir nicht beide nach hinten umfielen, als sie mit meinem Körper kollidierte. Das süßliche Parfüm, das sie trug, war wie so oft viel zu stark, aber in diesem Moment machte es mir überhaupt nichts aus. Ein unverständliches Gequietsche drang direkt von Suz' Mund zu meinem Ohr und ich drückte fester zu, bis sie sich luftschnappend von mir löste.
Max war der Nächste, der mich fest in den Arm nahm und mir sanft über den Rücken strich. Danach ging ich auf Stefan zu, der mich mit seinem strahlenden Lächeln einnahm. Er sah immer noch genauso gut aus wie ich ihn in Erinnerung hatte. Dieses Mal jedoch versetzte mir sein schönes Gesicht keinen Schmerz. Vielmehr freute ich mich aufrichtig, meinen besten Freund aus Kindertagen in den Arm schließen zu können.
Bevor ich mich vollständig aus der Umarmung mit Stefan reißen konnte, hatte meine Oma mich bereits an ihren Körper herangezogen. Ihre strahlend grünen Augen glänzten verdächtig, während sie ihre Hände an meine Wangen legte.
"Endlich bist du wieder da, Schätzchen."
Ein ehrliches Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich hatte sie wirklich vermisst.
Mein Blick wanderte von meiner Oma zu meinem Opa, der mich mit einem leichten Lächeln begrüßte. Ich löste die Hände meiner Oma von meinen Wangen und ging auf ihn zu. Einige Sekunden standen wir nur da und blickten uns gegenseitig an. Der Sturm an Gefühlen in seinen Augen gab mir schließlich den Rest und ich schmiss meine Arme um ihn. Tränen, die ich seit dem Flug zurückgehalten hatte, liefen ungehalten meine Wangen herunter. Im Hintergrund hörte ich, wie meine Oma besorgt fragte:
"Cassandra, was ist denn los?"
Ich grub meine Nase noch tiefer in das Hemd meines Opas und atmete den bekannten Duft tief ein. Mit zitternder Stimme gestand ich:
"Ich bin einfach so froh, wieder zu Hause zu sein."
Und in diesem Moment war ich mir sicher, dass alles wieder gut werden würde.
Nach dem herzlichen Wiedersehen mit meiner Familie waren wir allesamt in ein Restaurant gefahren, dass typische, deutsche Hausmannskost anbot. Während ich von meinen Ausflügen berichtete, genoss ich es immer mehr, meine geliebten Leute wieder um mich zu haben. In gewohnter Manier hatte ich mich neben Stefan gesetzt, während es sich die anderen Paare ebenfalls paarweise gemütlich gemacht hatten. Nachdem meine Erzählungen, die mit keinem Wort Gabe in irgendeiner besonderen Beziehung erwähnten, soweit beendet waren, hatten wir kurze Zeit später das Essen bekommen. Während ich meine Schweinelendchen in Pilzrahmsauce genoss, spürte ich, wie sich eine Hand auf meinen Oberschenkel legte. Diese Geste war mir so vertraut, dass ich nicht hinsehen musste, um zu wissen, dass es Stefans Hand war. Erstaunt blickte ich zu ihm.
"Du weißt, dass ich immer für dich da bin, oder?"
In seinen braunen Augen spiegelten sich all die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit als unzertrennliche Freunde. Auch wenn er es nicht ausgesprochen hatte, wusste ich ganz genau, wie diese Aussage weiterging.
Auch wenn es eigenartig ist, mit mir über "solche Sachen" zu sprechen.
Ich blickte zu Suz und musterte sie mit gehobener Augenbraue. Obwohl sie unsere Unterhaltung nicht mitbekommen hatte, wusste sie gang genau, worum es ging. Ein unschuldiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Diese Verräterin hatte ihnen von Gabe erzählt.
Obwohl ich in den letzten, wenigen Minuten nicht an Gabe hatte denken müssen, kamen die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit mit einem Mal zurück. Ich stellte mir vor, wie es nicht Stefans Hand war, die auf meinem Oberschenkel lag, sondern die Gabes und verfluchte mein Herz dafür, dass es bei dem Gedanken schneller schlug und mich so sehr hinterging.
Vorsichtig schüttelte ich Stefans Hand von meinem Oberschenkel ab und legte stattdessen meine Hand auf seine Schulter.
"Das weiß ich. Aber ich möchte gerade einfach nicht darüber sprechen."
Die restliche Zeit im Restaurant fiel es mir schwer, unbeschwert und heiter zu wirken. Umso erleichterter war ich, als sich meine Freunde verabschiedeten und in Max' Auto stiegen, während ich mit meinen Großeltern in den VW stieg. Die gesamte Heimfahrt gab ich kein Wort von mir, was ich meinen Großeltern als Müdigkeit und Jetlag verkaufte. Sie ließen mich tatsächlich in Ruhe, obwohl sie ganz genau wussten, dass ich sie angelogen hatte.
Als wir nach einer endlos lang wirkenden Autofahrt wieder in die Auffahrt von meinem Zuhause fuhren, konnte ich es kaum erwarten, die eigene Zimmertür hinter mir zu schließen und die ganze Welt hinter mir zu lassen. Ich war gerade dabei, den Koffer aus dem Kofferraum zu holen, als mein Opa mir zuvor kam.
"Ruh' dich ein wenig aus."
Diese wenigen Worte reichten aus, um meine Großeltern hinter mir zu lassen und durch die Haustür zu treten. Der gewohnte Duft von Zuhause umhüllte mich und ich wollte nichts lieber, als mich gänzlich darin zu verlieren. Alles war genauso, wie ich es in Erinnerung hatte. Obwohl ich nur einige Tage weg gewesen war, hatte sich in dieser kurzen Zeit so viel verändert, dass es mich überhaupt nicht gewundert hätte, wenn dieses Haus bei meiner Ankunft auf dem Kopf gestanden hätte. Schnell lief ich die Treppe hinauf, um mich zu vergewissern, dass auch mein altes Reich genau so war, wie ich es verlassen hatte.
Es war eigenartig, mein Zimmer wiederzusehen, als ich die schwere Holztür geöffnet hatte. Es fühlte sich an, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als ich in meinem viel zu heißen Dachbodenreich in meinem ausgelegenen Bett aufgewacht war. Ich spürte die Erschöpfung in meinen Gliedern, bevor ich meine Tasche auf dem Boden abstellte. Ich hörte förmlich, wie mein Bett mich rief.
Ich schlurfte zum eben besagten Bett. Bevor ich mich jedoch darin breit machen konnte, fiel mir ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen auf. Auf dem beigen Bettbezug wirkte es so unscheinbar, dass ich es beinahe übersehen hatte. Ich runzelte die Stirn und hob das Päckchen an. An der weißen Paketschnur war ein Schildchen befestigt, auf dem in sanft geschwungenen Lettern Cassandra Sophia Winter stand. Eine Absendeadresse suchte ich jedoch vergeblich. Es fühlte sich erstaunlich schwer in meiner Hand an, als ich es von einer auf die andere Seite wendete.
Ich ging auf die Treppe zu und rief meinen Großeltern entgegen:
„Wisst ihr von wem das Paket ist?"
Prompt erhielt ich eine Antwort von meiner Oma:
„Nein, das lag vor einigen Tagen vor der Tür."
Ich zuckte mit den Schultern und verschwand wieder in meinem Zimmer. Die Müdigkeit, die mich vor einigen Momenten noch umgeben hatte, war wie weg geflogen. Es gab nichts Wichtigeres, als dieses Paket zu öffnen. Natürlich fragte ich mich, von wem dieses Paket sein konnte. Ich spürte, wie mein Herz einen Hüpfer machte, als ich daran dachte, dass es von meinen Nachbarn in Sizilien sein könnte. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch sofort, da das Päckchen nicht per Post verschickt worden war.
Ich setzte mich auf das Bett und begann ungeduldig am Paketband zu zerren. Es war erstaunlich robust, weshalb ich genervt nach der Schere in meiner Schreibtischschublade suchen musste, bis ich das Band endlich zerschneiden konnte. Das braune, mehrlagig gefaltete Papier entfernte ich ebenso schnell.
Als ich den Inhalt vor mir erblickte, schluckte ich.
Was zur Hölle ist das?
Das alte, gebundene Buch, das sich vor mir befand, war in grünes Leder gebunden, das an manchen Stellen bereits sehr abgenutzt war. Die Mitte des Buches zierte ein mit Gold überzogener Vogel, der seine Flügel ausgebreitet hatte. Ehrfurchtsvoll fuhr ich mit den Fingern über die Einkerbungen. Unterstrichen wurde die Skizze des Vogels durch vier ebenfalls in Gold eingravierte Worte, die mein Herz schneller schlagen ließen. Mit zitternder Stimme flüsterte ich die Worte, so als wollte ich sicher gehen, dass sie wirklich real waren:
Die Legende des Phönix
Ciao ihr alle da draußen,
Ich kann euch gar nicht das Gefühl beschreiben, wie es ist, dieses Buch nun endlich abgeschlossen zu sehen. Zum Einen freut es mich tierisch, euch die letzten Worte dieses Bandes gezeigt zu haben. Zum Anderen aber bin ich auch traurig, dass wir jetzt erst einmal nicht so viel von Gabe mitbekommen werden (oh nein, habe ich euch etwa gespoilert? 🙃 )
Das Wichtigste, was ich heute jedoch loswerden möchte, ist ein riesen großes Dankeschön an euch alle, die Cassies Reise von Anfang bis Ende verfolgt haben und ich hoffe, dass ihr die kommende Reise ebenso eifrig begleiten werdet wie die jetzige 😍❤️
Deshalb bleibt mir nur noch zu sagen:
Vergesst nicht, Band 2 Phönixchroniken - Entflammen in eure Bibliothek hinzuzufügen! Ich erwarte euch dort!
Nächste Woche geht es nämlich direkt weiter 😍
Eure federwunsch ❤️
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