Kapitel 28

"Ist wirklich alles in Ordnung, Liebes?"

Besorgnis lag in der Stimme meiner Oma. Ich konnte es ihr noch nicht einmal verübeln. Das gesamte Telefonat, das bereits über fünf Minuten andauerte, hatte ich nur das Nötigste gesprochen, was wiederum teilweise ausschließlich aus einem undefinierbaren Gebrumme bestanden hatte.

Ich lehnte mich gegen die Couchlehne, die angenehm kalt auf meiner erhitzten Haut war, während mein Blick immer wieder von dem Kamin zu meinem eigenen Reisetagebuch auf dem Couchtisch wanderte, das äußerlich erschreckend ähnlich zu dem meiner Mutter wirkte.

Worte und Bilder lieferten sich ein Gefecht in meinem Kopf und schürten die Kopfschmerzen, die mich seit Stunden ununterbrochen quälten. Die Reisetagebucheinträge meiner Mutter, die Rolle der Nachbarn, vor allem die Gabes, in dieser Geschichte, die doch viel mehr zusammenhingen, als ich es mir zu Beginn erträumt hatte. Ich versuchte, die Gedanken abzuschütteln, worin ich kläglich scheiterte.

Am anderen Ende der Leitung wartete meine Oma immer noch auf eine Antwort. Es war zwecklos, ihr etwas vorzumachen. Diese Frau kannte mich in- und auswendig. Sie hatte mich von Anfang an begleitet. Ich war ihr die Wahrheit einfach schuldig. Zumindest soweit, wie ich gehen konnte, ohne dass sie mich für verrückt halten würde.

"Ich habe mir, ehrlich gesagt, mehr von dieser Reise erhofft und habe doch zu viele Einblicke bekommen, die ich mir hätte ersparen können. Macht das überhaupt einen Sinn?"

Selbst für mich erschloss sich der Sinn meiner Worte nicht gänzlich, doch auf eine verquere Weise wusste meine Oma ganz genau, was sie sagen musste.

"Manchmal ist der Tod eben doch endgültig und es gibt nichts mehr, das in Erfahrung gebracht werden kann und uns gleichzeitig das Gewissen erleichtern könnte."

Noch nie in meinem Leben hatte ich diese lebensfrohe Frau mit solch einem erdrückenden und ernsten Ton gehört. Mein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, wie schrecklich sie ihre Tochter vermissen musste. Gabe hatte meine Mutter bis heute nicht vergessen können und jeder Mensch auf dem Planeten wusste, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind noch viel stärker war, als eine romantische Beziehung.

Schuld überkam mich. Das Letzte, das ich gewollt hatte, war meiner geliebten Oma Schmerz zuzufügen. Deshalb beschloss ich schnell das Thema zu wechseln.

"Also holt ihr mich morgen um vierzehn Uhr am Flughafen ab?"

"Aber sicher doch, Liebes!"

Der fröhliche Ton meiner Oma war wieder zurückgekehrt, als wäre nie etwas gewesen. Ich spürte große Bewunderung für dieser starke Frau in mir aufkeimen. Bevor ich auf den roten Knopf drücken konnte, der das Telefonat beendete, hörte ich meine Oma sagen:

"Wir freuen uns sehr auf dich."

Obwohl ich in den letzten Stunden so viel geweint hatte, spürte ich, wie erneut eine Träne über meine Wange rollte. Dieses Mal jedoch war es aus einem gänzlich anderen Grund: Freude.

"Ich bin auch überglücklich, endlich nach Hause zu kommen."

Just in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich endlich die Bedeutung von Zuhause greifen konnte. Und ich würde dieses Zuhause um keinen Preis der Welt wieder hergeben.

Bevor meine Oma einen Schluchzer meinerseits hören konnte, legte ich auf. Ich wollte ihnen keinen weiteren Kummer zufügen.

Mein Versuch, mich von meinen elendigen Gedanken zu befreien, indem ich mich vollständig auf die morgige Abfahrt konzentrierte, scheiterte spätestens dann, als ich meinen Koffer in den kleinen Mietwagen schob. Sofort schweiften meine Gedanken zu dem Streitgespräch zwischen Gabe und mir, was die Definition eines Kofferraums anging.

Mit der Hand strich ich mir die Haare aus dem Gesicht, die bereits feucht von den ganzen Tränen waren. Mein Blick wanderte automatisch und ohne meine Erlaubnis zu dem Nachbarfenster im zweiten Stock, wo das Licht brannte.

Ob er wohl gerade auch an mich denkt?

Am liebsten hätte ich mir selbst einzeln die Haare herausgerissen bei dem Gedanken. Bevor ich auf weitere falsche Gedanken kam, ging ich schnellen Schrittes wieder zur Haustür, die ich hinter mir abschloss. Meine Füße bewegten sich automatisch wieder in Richtung Wohnzimmer, wo erneut mein Blick auf mein Reisetagebuch fiel. Eine von Suz' Weisheiten fiel mir wieder ein:

Manchmal hilft es, seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Ich schreibe gerne auf, was mich bedrückt, formuliere es solange um, bis ich es verinnerlicht habe und meinen Frieden damit geschlossen habe.

Wie von selbst wanderten meine Finger zu dem Buch. Ich übersprang die bereits beschriebenen Seiten, bis ich eine leere Doppelseite vor mir hatte, die nur darauf wartete, mit Worten gefüllt zu werden. Als ich den Füller in der Hand hielt, kam eine solche Flut an Worten auf mich zu, dass ich überfordert war, auch nur eines davon zu Papier zu bringen.

Zudem erreichte mich die plötzliche Vorstellung, wie meine Mutter gleichermaßen auf derselben Couch saß und in dem gleich aussehenden Buch einen Eintrag verfasste, wie ich ihn zu verfassen gedachte. Frustriert ließ ich das Buch wieder auf den Couchtisch fallen.

Ich war noch nie so wie Suz gewesen. Worte hatten mir noch nie geholfen, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. In dieser Hinsicht war ich meinem Opa ähnlich. Statt mich jedoch handwerklich zu verausgaben, formte ich Striche auf Papier, die zusammengenommen ein Puzzleteil vom Großen und Ganzen darstellten.

Den Füller in der Hand ersetzte ich kurzerhand durch einen danebenliegenden Bleistift. Wie von selbst bewegte sich der Stift auf dem Papier und formte langsam die Striche zu einem Bild, das sich in mein Hirn eingebrannt hatte.

Händchenhaltende Hände am Strand.

Kaum war ich fertig mit dieser Zeichnung, blätterte ich auf die nächste Doppelseite, die nur darauf wartete, von mir gefüllt zu werden. Diese Zeichnung war ebenso schnell fertig und schmerzvoll anzusehen wie die bisherige. 

Das lächelnde Gesicht meiner Mutter, das dem Betrachtenden direkt die Sonne in die trübe Welt zauberte.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich schließlich alle Bilder, die durch Gabes Berührungen in meinem Kopf gelandet waren, auf Papier gebracht hatte. Eines jedoch konnte ich mit absoluter Sicherheit sagen, als ich den stumpfen Bleistift weglegte. Ich war außer Atem. Und rasend vor Wut.

Ich warf einen letzten Blick auf das Paar, das sich auf der Zeichnung küsste, bis ich schließlich mit aller Kraft das Buch in den Kamin beförderte. Die Wut staute sich immer mehr, bis ich gedanklich mit voller Wucht diese aufgestaute Wut gegen den Kamin befördert.

Eine meterhohe Flamme, die beinahe den Couchtisch erreichte, ließ mich schließlich erschrocken zur Besinnung kommen. 

Was ist denn bloß mit mir los?

Wie paralysiert starrte ich in das Feuer, das immer mehr an Kraft verlor, bis es allmählich die Seiten aus dem Buch in Asche verwandelte. Ich stellte mir vor, wie die Erinnerungen an die Bilder durch die Zeichnungen an eben dieses Papier gebunden waren und sich genauso in Nichts auflösten. Während ich ins Feuer sah, wurde mir bewusst, dass meine mystische Feuerkraft gefährlicher war, als ich zunächst angenommen hatte.

Frustriert fuhr ich mir durch die Haare. Würde ich jetzt bei jedem emotionalen Ausbruch ein Intermezzo aus Feuer und Asche hinterlassen? In diesem Moment wurde mir bewusst, dass, auch wenn ich in die Normalität zurückkehren wollte, ich meine Gefühle im Griff haben musste, damit ich niemandem schaden konnte.

Noch lange nach dem das Feuer im Kamin herunter gebrannt war starrte ich auf die Asche, die von meinem Reisetagebuch übrig geblieben war. Selbst als mir die Augen schon lange zugefallen waren stellte ich mir die unausweichliche Frage, ob auch mein Leben nur noch ein Haufen Asche sein würde, wenn ich nach Hause zurückkehrte.

Als ich am nächsten Morgen unsanft von meinem Smartphone geweckt wurde, fühlte ich mich wie gerädert. Ganz davon abgesehen, dass meine Glieder von der unbequemen Schlafposition schmerzten, dröhnte mir der Kopf. Wie Nebel umgaben mich die erdrückenden Erinnerungen und Eindrücke der letzten Tage, die ich versuchte, vollends aus meinem Gedächtnis zu verbannen.

Entschlossener denn je erhob ich mich ein letztes Mal von dem Sofa, auf dem ich mehr Nächte als im Schlafzimmer verbracht hatte und das ich nach diesem Tag nie wieder sehen würde. Wie ein programmierter Roboter steuerte ich auf das Bad zu, wo ich mir eine ausgiebige Dusche gönnte. Die nassen Haare steckte ich provisorisch hoch und packte die restlichen Sachen, die es gestern noch nicht in mein Auto geschafft hatten. Jedes einzelne Zimmer ging ich noch einmal durch.

Die Bibliothek, die ich zugegebenermaßen schmerzlich vermissen würde. Der Balkon im Schlafzimmer, der einen Ausblick auf einen ganz bestimmten Balkon auf der gegenüberliegenden Seite freigab. Die große Badewanne im Badezimmer, die ich viel zu wenig ausgekostet hatte. All das würde ich hinter mir lassen.

Erst als ich die Haustür hinter mir ins Schloss fielen ließ, bemerkte ich etwas auf dem Steinboden der Treppe. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich das Wort auf dem eierschalefarbenen Briefumschlag erkannte.

Micina.

Mein Atem beschleunigte sich, während ich mich in jegliche Richtungen umschaute. Selbst nachdem ich jeden möglichen Blickwinkel nach irgendwelchen Anzeichen einer menschlichen Gestalt durchsucht hatte stellte ich fest, dass ich gänzlich alleine war.

Er muss ihn abgelegt haben und wieder gegangen sein.

Mein erster Gedanke bestand darin, den Brief direkt in die Mülltonne zu verfrachten. Ich hob den Umschlag vom Boden und staunte nicht schlecht, als ich feststellte, wie prall gefüllt er war. In diesem Moment verabscheute ich die Neugier, die unweigerlich in mir aufkeimte. Ich atmete einmal tief ein und aus, um meine Gedanken zu klären. Auf dem Weg zum Mülleimer jedoch spürte ich, wie das Gewicht des Briefes in meiner Hand immer schwerer wurde und ich wusste, dass wie so oft die Neugier den Kampf gewonnen hatte. Ich ließ den Brief in meine Handtasche gleiten, nicht jedoch ohne mich vorher dafür zu rügen.

Vielleicht würde ich ihn im Flugzeug lesen. Vielleicht würde ich es in Deutschland über das Herz bringen, einen Blick hineinzuwerfen. Vielleicht aber würde ich ihn niemals öffnen.

Es ist ganz alleine meine Entscheidung.

Wie ein Mantra wiederholte ich diesen Satz, bis ich schließlich das Auto aus der Auffahrt gefahren hatte und an dem Nachbarhaus vorbeigefahren war. Nicht ein einziges Mal blickte ich in den Rückspiegel oder zum Nachbarhaus. Meine Entscheidung bezüglich dieses Ortes war bereits gefallen.

Ich würde nie wieder zurückkehren.

Wie in Trance hatte ich die Strecke von der Villa meiner Eltern zum Flughafen hinter mich gebracht. Nicht ein einziges Mal hatte mir die Schönheit Siziliens den Atem rauben können. Das Radio, das italienische Popsongs spielte, hatte ich verstummen lassen, bis ich schließlich die Schlüssel an dem zuständigen Schalter abgegeben hatte.

Nach der Sicherheitskontrolle blieb mir noch gut eine halbe Stunde, bis das Boarding des Fliegers beginnen würde. Während ich es mir mit einem Kaffee in einem überteuerten Café gemütlich machte, musste ich an Suz denken, die ich schrecklich vermisste. Ich holte mein Smartphone aus der Tasche, während ich den viel zu großen Brief ignorierte, und tippte eine Nachricht.

Ich brauche wirklich dringend wieder einen Mädelsabend! Nur wir beide, Wein und eine Runde Disneyfilme.

Zufrieden mit dem Text sendete ich die Nachricht ab, während sich ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen formte. In diesem Moment meldete sich mein Bauch mit einem Knurren. Tatsächlich konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas zu mir genommen hatte. Ich wollte es jedoch nicht riskieren, dass mir im Flugzeug schlecht wurde, weshalb ich es bei dem Kaffee beließ.

Das Vibrieren meines Smartphones kündigte mir den Eingang einer Nachricht an. Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich das Bild von dem gut gefüllten Weinvorrat in Suz' Speisekammer erblickte. Darunter stand in herzallerliebster Manier:

Wofür sind beste Freundinnen schließlich sonst da?

Wir tauschten noch weitere Nachrichten über die Planung unseres Mädelsabends aus, bis Suz' schließlich wieder an die Arbeit gehen musste. Die Ablenkung, die ich für einige wenige Minuten gefunden hatte, war damit wieder fort.

Der kalt gewordene Kaffee schmeckte mittlerweile bitter auf der Zunge. Bereits um diese frühe Uhrzeit war es sehr warm in dem Flughafengebäude und ich bereute es, einen Pullover angezogen zu haben. Durch die Glasfront erspähte ich unzählige Flugzeuge, die bald zum Start bereit sein würden.

Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum ich es tat, griff ich in meine Tasche, um den Brief herauszuziehen. Das Wort Micina war in schwarzer Tinte auf das hochwertige Papier geschrieben. Wie von selbst wanderte mein Finger über die einzelnen Buchstaben, als ob ich einen Sinn in ihnen erkennen würde, der sich mir zuvor nicht offenbart hatte. Ich drehte den prall gefüllten Umschlag auf die andere Seite und erkannte, dass dieser nicht zugeklebt war. Eine einzige Berührung würde genügen und ich wüsste über den Inhalt des Briefes Bescheid.

Eine der Stimmen in meinem Kopf schrie mich an, dass ich es gefälligst sein lassen sollte, doch mein Körper hatte schon lange ein Eigenleben entwickelt und jegliche Vorsichtsmaßnahmen über Bord geworden. Ohne Mühe klappte ich die Lasche auf. Mit Füller geschriebene Worte auf dickem Papier begrüßten mich, während ich den Inhalt herausnahm. Ich staunte nicht schlecht, als mich vier beidseitig beschriebene Blätter begrüßten.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schloss meine Augen, um sie daran zu hindern, auch nur ein geschriebenes Wort wahrzunehmen. Der Zwiespalt in meinem eigenen Körper war so unfassbar groß, dass ich Angst hatte, jeden Moment zu hyperventilieren.

Die Durchsage über das Boarding meines Flugzeuges erlöste mich schließlich von dem quälenden Verlangen, den geschriebenen Worten in meiner Hand Beachtung zu schenken und ließ den Brief erneut in meine Tasche zurückgleiten.

Doch auch nachdem ich mich auf meinen Fensterplatz gesetzt hatte ließ das Verlangen, diese Worte zu lesen, nicht nach. Beinahe ehrfürchtig entfaltete ich das Papier und murmelte:

"Dann wollen wir mal."

Ciao meine Lieben,

es ist zwar kein Kapitel aus Gabes Sicht, das euch nächste Woche erwartet, aber ich verspreche euch, ihr werdet viele Einblicke in Gabes Gedanken bekommen 🙃

Und, wer weiß, vielleicht werden sich ja einige Meinungen ändern.

Alles Liebe und eine gute Nacht wünsche ich euch

Eure federwunsch ❤️ 

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