Kapitel 24

Es war ein schrilles Klingeln, das mich am nächsten Morgen vollkommen gerädert aufwachen ließ. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass das Klingeln von der Tür herrührte und der Auslöser kein Wecker war, der mich sonst am Morgen begrüßte. Ich erhob mich aus der unbequemen Position vom Sofa und streckte meine Glieder, die total angespannt waren. Mein Nacken bereitete mir die meisten Schmerzen, da ich ziemlich unvorteilhaft auf dem Sofa eingeschlafen war. Das erneute Klingeln der Tür erinnerte mich daran, dass hinter der Haustür jemand nach meiner Aufmerksamkeit verlangte. Ich schlurfte gähnend zur Haustür und öffnete diese, ohne mir weitere Gedanken zu machen.

Als ich Gabes Gesicht auf der gegenüberliegenden Seite der Türschwelle erspähte, kam ein Strom von Bildern, bestehend aus Erinnerungen von gestern, zurück. Der erste und auch zweite Beinahekuss von Gabe und mir. Der Kamin, in dem durch meinen geistigen Befehl ein Feuer entfacht worden war. Mir wurde schlecht, als die Erinnerungen Stück für Stück wieder zurück kamen und ich die Konsequenzen dessen begriff.

"Guten Morgen, Micina. Geht es dir gut?"

Besorgnis lag in seinem Blick. Das erste Mal, seitdem ich Gabe kannte, erspähte ich so etwas wie Erschöpfungssymptome in seinem Gesicht. Unter seinen Augen befanden sich leichte Schatten. Seine Haut war bleicher als sonst. Obwohl es ihm sichtlich schlecht zu gehen schien, stieg Wut in mir auf.

Was fällt ihm eigentlich ein, nach seiner Aktion gestern noch hier aufzutauchen?

Obwohl mir sehr danach zu Mute war, ihn anzuschreien und zum Teufel zu jagen, wollte ich mir nicht die Blöße geben, ihm noch mehr zu zeigen, wie Nahe mir die gesamte Situation ging. Auch ohne in den Spiegel gesehen zu haben wusste ich, dass ich ihm nichts vorzumachen brauchte. Er wusste ganz genau, wie es mir ging.

"Was willst du Gabe?"

Die Frage kam so erschöpft herüber, dass sie fast einem Flüstern glich. Tatsächlich merkte ich, wie jegliche Kraft aus meinen Gliedern zu schwinden drohte. Mit aller Kraft hielt ich mich am Türrahmen fest.

"Ich wollte dich fragen, ob du Interesse daran hast, mit mir einen Spaziergang zu unternehmen."

Erstaunlicherweise erkannte ich eine Art Hoffnungsschimmer in seinem Blick, doch ich wollte mich selbst schützen und mir keine Hoffnungen mehr gestatten. Er war gestern mehr als deutlich gewesen. Und Mitleid brauchte ich erst recht nicht.

"Nicht wirklich", erwiderte ich schließlich schulterzuckend und versuchte, es so gleichgültig wie möglich herüberzubringen.

"Oh", war das Einzige, was er erwiderte.

Das Schweigen, das sich daraufhin zwischen uns ausbreitete, war unerträglich. Obwohl ich ihm nichts mehr zu sagen hatte, versuchte ich, diese unwillkommene Stille zu umgehen.

"Gabe, mir geht es wirklich nicht so gut. Ich denke, ich werde krank und sollte einfach zu Hause bleiben. Wenn es also nichts Wichtiges gibt, was du mir sagen möchtest, dann würde ich dich bitten, zu gehen."

In meinem gesamten Leben hatte ich noch nie einer Person in so klaren Worten mitgeteilt, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Auch in Gabes Gesicht erkannte ich ein kurzes, überraschtes Zucken, doch es war mir in diesem Moment gleichgültig. So schnell wie es gekommen war, umspielte stattdessen ein altbekanntes, schiefes Lächeln seine Lippen.

"Ich kann auch herein kommen und mich um dich kümmern."

Was er damit bezwecken wollte, war mir nicht klar. Wenn er lustig sein wollte, dann gelang es ihm jedenfalls nicht. Ich hatte eindeutig genug von seinen Spielchen.

"Mach's gut, Gabe!"

Ich begann bereits, die Tür zu schließen. Als sie nur noch einen Spalt breit offen war, lehnte er seinen Arm gegen Tür, sodass ich genervt zu ihm schauen musste.

"Melde dich bitte, wenn es dir wieder besser geht." In einem fast schon flehenden Ton fügte er hinzu: "Dann holen wir den Spaziergang nach, okay?"

Ich nickte. Er nickte. Und doch wussten wir beide, dass es nicht zu diesem Spaziergang kommen würde.

Nachdem ich das Geräusch der sich schließenden Tür vernommen hatte, wurde mir wieder schwer ums Herz. Meine Beine hielten mich kaum noch und schrien nach Erlösung. Obwohl ich starke Lust verspürte, in Tränen auszubrechen, konnte ich mir diese Schwäche nicht mehr gestatten. Ich hatte eindeutig wichtigere Probleme als ein bisschen Liebeskummer, der total unberechtigt war. Die Worte meiner Oma kamen mir wieder ins Gedächtnis.

Kind, du musst deinen Emotionen auch den nötigen Freiraum geben und dich nicht in Arbeit stürzen!

Mit einem Schmunzeln erwiderte ich: "Tut mir Leid, Oma, aber ich werde genau das Gegenteil tun."

Nachdem ich die Tür mit dem Schlüssel zugesperrt und die Türklingel ausgeschaltet hatte, kehrte ich zurück ins Wohnzimmer, in dem ich mir das weitere Vorgehen überlegen wollte.

Genau in dem Moment, in dem ich Stift und Papier in die Hand genommen hatte, klingelte mein Smartphone. Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte und die Angst, dass mich Gabe am anderen Ende der Leitung erwartete, war schier unendlich. Vorsichtig ging ich zu der Quelle des Lärms, nur um erleichtert festzustellen, dass es meine beste Freundin war.

"Madam, eine Woche ist um! Also, wie sieht es aus? Entweder du kommst heim oder ich werde sofort ein Flugticket buchen und dich besuchen!"

Diese einfachen, jedoch aufgebracht klingenden Sätze meiner besten Freundin ließen sofort Emotionen in mir aufsteigen, die ich heute eigentlich nicht an mich heranlassen wollte. Tränen stiegen in meine Augen und mein Körper fing an, leicht zu zittern. Ich vermisste meine beste Freundin und schwor mir, sofort nach meiner Rückkehr einen Mädelsabend mit Liebesschnulzen, Eis und vielen Taschentüchern zu verbringen. Ich war selbst überrascht, als ein leiser Schluchzer aus meiner Kehle drang.

So viel also zum Thema Selbstbeherrschung.

"Oh nein... was ist passiert?"

Der emotionale Schutzwall, den ich provisorisch errichtet hatte, brach bei ihren Worten zusammen. Ich wusste nicht, dass es überhaupt möglich war, so viele Tränen in weniger als vierundzwanzig Stunden zu produzieren, doch ich wurde eines Besseren belehrt. Das Bedürfnis, mich Suz anzuvertrauen, war schier unerträglich, weshalb ich ihr die Geschichte erzählte. Den Teil mit dem Feuer ließ ich selbstverständlich weg, da ich mir erst selbst klar darüber werden musste, ob es nicht doch im Bereich des Möglichen lag, dass ich vollkommen den Verstand verlor. Trotzdem tat es unendlich gut, sich wenigstens einen Teil von der Seele zu reden.

"Es tut mir wirklich Leid! Ich nehme morgen direkt den ersten Flieger nach Sizilien und werde diesem Gabe gehörig meine Meinung geigen!"

Es war so typisch Suz. Gestern noch war sie der Meinung gewesen, dass Gabe mein Traummann in spe war. Jetzt wollte sie ihn für mich zunichte machen. Ein leichtes Lächeln formte sich auf meinen Lippen. Diese Art von beste Freundin würde ich niemals wieder hergeben.

"Suz, ich danke dir vielmals, aber das ist wirklich nicht nötig."

Bevor ich meinen Gedankengang vollständig zu Ende sprechen konnte, unterbrach mich Suz mit einem Schwall von Worten, die ich kaum verstehen konnte. Einzelne Worte, die ich identifizieren konnte, waren Lüstling, Respekt und Macho.

"Suz, beruhige dich! Ich werde schon Morgen nach Hause fliegen."

Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Nicht nur Suz war überrascht von der Wendung des Gesprächs, auch ich musste mir eingestehen, dass ich die Entscheidung mehr oder weniger spontan getroffen hatte. In dem Moment, wo ich tatsächlich darüber nachdachte, wieder zurückzukehren, hielt ich es für die bestmögliche Idee. Sizilien hatte mir nichts außer Kummer und leeren Versprechungen gebracht. Über meine Eltern wusste ich fast genauso wenig wie vor meinem Besuch und ich bezweifelte, dass weitere Tage in dieser unheimlich riesigen Villa mich weiterbringen würden. 

"Bist du dir sicher, Cassie? Ich meine, vielleicht übereilst du es ein wenig?"

Suz kannte mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ich oftmals sehr überstürzt reagierte. Doch dieses Mal war ich mir bei meinem Entschluss ziemlich sicher.

"Es gibt wirklich gar nichts mehr, was mich hier hält. Ich halte es für das Beste, wenn ich wieder nach Hause zurückkehre und mein altes Leben aufnehme."

Eine Weile sagte Suz nichts. Schließlich vernahm ich ein Seufzen ihrerseits.

"Wir werden hier auf dich warten. Schreibe mir, wann du in Deutschland ankommen wirst."

"Das werde ich machen. Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen. Meine Sachen packen sich schließlich nicht von selbst."

Ein humorloses Lachen entfuhr mir. Von der anderen Seite der Leitung hörte ich wieder nur ein Seufzen.

"Wenn etwas ist, melde dich bitte. Ich bin immer für dich da, das weißt du, ja?"

Dieses Mal war es ein ehrliches Lächeln, das sich über meine Lippen legte.

"Natürlich weiß ich das. Und dafür liebe ich dich."

Auch wenn ich es nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie ihre Augen verdrehte.

"Du bist unmöglich, Cassie!"

"Ich weiß!"

Mit diesen Worten verabschiedete ich mich von meiner besten Freundin, um mich schlussendlich um die Abfahrt zu kümmern. Dafür schrieb ich auf den vor mir liegenden Zettel alle Aufgaben, die heute noch abgearbeitet werden mussten, um Sizilien endlich den Rücken kehren zu können. Neben den offensichtlichen Aufgaben wie der Buchung eines Fluges hatte es noch eine andere, wichtige Sache auf die Liste geschafft, die ich nicht weiter hinauszögern wollte.

Ich ging in die Küche und öffnete die Schublade, in der ich das letzte Mal beim Kochen eine Taschenlampe entdeckt hatte. Obwohl ich nicht sonderlich viel Hoffnung hatte, dass sie funktionieren würde, drückte ich auf den am Taschenlampenboden angebrachten Schalter. Zu meinem Staunen begann die Taschenlampe tatsächlich zu leuchten.

Ohne weitere Zeit zu verlieren ging ich zu der Metalltür im Flur, die vom Schrank blockiert war. Ich musste all meine Kraft aufbringen, um den Schrank von der Tür zu seinem ursprünglichen Platz wegzurücken. Das letzte Mal, als ich die Metalltür geöffnet hatte, war ich ängstlich und außer mir gewesen. Dieses Mal jedoch war ich erstaunlich ruhig. Vermutlich war ich mir mehr als sicher, dass mich einfach nichts mehr überraschen konnte.

Die Tür quietschte, als ich diese aufsperrte. Der Lichtkegel der Taschenlampe spendete genug Licht, um einen Lichtschalter zu finden. Auch hier wurde ich erneut positiv überrascht, als die Lampe über mir tatsächlich anging. Bevor die Tür hinter mir zufallen konnte, nutzte ich die nun nicht mehr benötigte Taschenlampe als Keil. Das Letzte, was ich heute gebrauchten konnte, war es, mich selbst in der Villa meiner Eltern einzusperren.

Die graue Steintreppe war erstaunlich kalt, als ich einen Schritt nach dem anderen nach unten schritt. Mit jeder Stufe kam ich dem unendlich weit entfernt wirkenden Ziel näher. Die Temperatur fiel merklich ab. Das Ende der Treppe wurde durch einen hellen Lichtkegel angedeutet, der in einen weiteren Raum zu gehen schien.

Neugier ließ mich schließlich schneller dem Lichtkegel entgegen gehen. Als ich unten ankam war ich zeitgleich erstaunt aber auch nicht sonderlich überrascht. Giulias Worte kamen mir wieder in den Sinn.

Dein Vater hat seine wichtigsten Klientenunterlagen in dem Kellerraum aufbewahrt.

Tatsächlich deutete alles in diesem kleinen, dunklen und abgeschotteten Raum darauf hin, dass sich hier ein Archiv und zeitgleich ein Büro befand. Die Wände um mich herum waren vollständig mit Regalen verkleidet, die wiederum gut mit Ordnern, Büchern und Akten gefüllt waren. Ein großer, massiv wirkender Schreibtisch aus Ebenholz dominierte den Raum, auf dem weitere Akten und Ordner platziert waren. Der Geruch von alten Büchern und die stickige, schwere Luft deuteten darauf hin, dass dieser Raum schon sehr lange nicht mehr betreten worden war.

Ich ging einen Schritt auf das Regal links von mir zu, um dieses näher zu inspizieren. Eine dünne Staubschicht zierte die Regale sowie deren Inhalt. Hier und da zog ich ein Buch oder einen Ordner aus seinem Platz, um das Regal näher zu betrachten. Ich wusste nicht genau, was ich erwartete. Wahrscheinlich hatte ich einfach zu viele Filme gesehen und hoffte, irgendeinen Geheimgang zu entdecken, wenn ich nur an dem richtigen Buchrücken zog. Deshalb war es nur wenig überraschend, dass ich keinen solchen Geheimgang fand, als ich die restlichen Regale nach demselben Schema durchforstete. Je mehr ich den Raum durchstöberte, desto ernüchternder musste ich mir eingestehen, dass es sich hier tatsächlich um das Büro meines Vaters zu handeln schien. Hier und da öffnete ich eine Akte, um den Inhalt dessen näher zu inspizieren, nur um juristische Unterlagen auf Italienisch vorzufinden.

Langsam aber sicher musste ich mir eingestehen, dass ich auch hier in eine Sackgasse gelaufen war. Außer, dass in ein Büro normalerweise Fenster gehörten, wirkte dieser Raum tatsächlich wie ein Büro oder Archiv. Meine letzte Hoffnung, etwas Brauchbares in diesem Sammelsurium an Papier und Büchern zu finden, war der Schreibtisch. Die Staubschicht, die die gesamten Unterlagen auf dem Tisch bedeckte, ließ auch hier die Hoffnung auf irgendeinen brauchbaren Hinweis eines Einbruchs vollständig erlöschen.

Meine Vermutung, dass jemand in dem Haus gewesen war, sah ich einfach nicht mehr bestätigt. Wahrscheinlich hatte ich beim ersten Mal, als ich versucht hatte, die Metalltür zum Keller zu öffnen, einfach nicht richtig daran gezogen. Obwohl ich es nicht wahrhaben wollte, musste es einfach so sein. Ich war gerade dabei zu gehen, als mir eine kleine, schmale Schublade unter der Schreibtischplatte auffiel. Auch wenn ich mir fast sicher war, dass ich in dieser Schublade nichts Wichtiges finden würde, wollte ich trotz dessen nichts unversucht lassen. Die Schublade gab nur sehr langsam nach.

Der Inhalt dieser wirkte auf den ersten Blick, wie erwartet, nicht sonderlich spektakulär. Ein paar Stifte und ein schwarzes, in Leder gebundenes Buch befanden sich darin. Obwohl es nicht ungewöhnlich war, ein Notizbuch und Stifte in einer Schreibtischschublade zu finden, machte mich der Anblick des Notizbuches stutzig. Ich nahm das Buch in die Hand. Das Material war glatt und weich. Die Seiten waren am Rand bereits leicht vergilbt, was bei dem Alter des Buches nicht ungewöhnlich war. Ich wusste, dass das Ungewöhnliche an dem Buch, was mich stutzig machte, zum Greifen nahe war, doch ich konnte es noch nicht genau sagen. Auf irgendeine Art und Weise kam es mir bekannt vor. Erst als ich den Einband des Buches aufschlug, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

In einer schönen, mir mittlerweile gut bekannten Schrift, stand dort:

Meine Reise nach Sizilien.

Hallihallo ihr Lieben,

was wohl in dem Büchlein drin stehen wird? Das ist hier die große Frage. Ich bin gespannt auf eure Vermutungen.

Die Auflösung gibt es dann nächste Woche 🤗

Eure federwunsch ❤️

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