Kapitel 20
Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee und gebratenen Eiern war das Erste, das mich am nächsten Morgen umgab. Sofort bildeten sich Bilder in meinem Kopf, wie ich gleich die Treppe hinabsteigen und in die Küche laufen würde, in der mich meine Großeltern herzlichst erwarten würden. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, da ich tatsächlich riesigen Hunger verspürte und mich auf ein deftiges Frühstück freute. Als ich meine Augen öffnete, blickte ich statt auf eine mit Holz verkleidete Decke auf den hellblauen Stoff eines Himmelbetts. Verwirrt setzte ich mich im Bett auf, bis die Erinnerung wieder zurück kam. Ich war gar nicht in Deutschland. Erinnerungen an die gestrige Nacht kamen wieder zurück und verstärkten die anfänglichen Kopfschmerzen, die den Kater ankündigten. Kopfschmerzen waren jedoch nicht das Einzige, was mich plagte. Angst breitete sich in meinem Körper aus, als ich an das Feuer-Intermezzo in dem Wohnzimmer dachte. Zusätzlich dazu mischte sich Scham, als mir bewusst wurde, dass ich bei meinem Ausbruch nicht alleine gewesen war.
Gabe hat gestern so gut wie alles mitbekommen.
Das erklärte auch den Geruch von gebratenen Eiern, der es bis zu meinem Zimmer im zweiten Stock geschafft hatte. Ich beschloss, langsam das unausweichliche Treffen mit Gabe hinter mich zu bringen. Als ich mich aufsetzen wollte bemerkte ich, wie höllischer Muskelkater meine Beine dazu zwang, wieder einzuknicken. Verwirrt blickte ich an meinem Körper hinab, so als würde ich den Grund dafür irgendwo auf meiner Haut erkennen. Doch das viele Nachdenken brachte meinen Kopf dazu, noch mehr vor Schmerzen zu zergehen, weshalb ich es einfach hinnahm und einen erneuten Versuch startete.
Langsam schlich ich aus dem Zimmer zur Treppe, die ich dank des Muskelkaters nur langsam, Stufe für Stufe nehmen konnte. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit im Flur angekommen war, flog mein Blick unbeabsichtigt zu dem Spiegel, in dem mich eine fast schon unbekannte Person anblickte. Dunkle, fast schon blaue Augenringe zierten mein Gesicht, die durch die verwischte Wimperntusche zusätzlich betont wurden. Blutunterlaufene Augen unterstützten das Aussehen des Zombies, das mich aus dem Spiegel heraus anblickt. Zusätzlich dazu war meine gesamte Haut gerötet. Kopfschüttelnd riss ich mich von der Gestalt in Form einer Vogelscheuche im Spiegel weg und schlurfte stattdessen in die Küche.
"Guten Morgen!", begrüßte mich Gabe sofort, als er mich bemerkte. Sein strahlendes Grinsen wich schnell einem besorgten Gesichtsausdruck, als er mich näher betrachtete. Er selbst sah so strahlend wie eh und je aus. Beschämt blickte ich von ihm weg und ging auf den Barhocker zu, vor dem bereits ein gedeckter Tisch auf uns wartete.
"Guten Morgen, Gabe!"
Als ich den üppig gedeckten Tisch näher inspizierte, fügte ich schnell hinzu: "Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Schließlich bist du mein Gast..."
Bevor ich meinen Satz beenden konnte, unterbrach er mich.
"Setz dich hin und iss, Micina. Du siehst aus, als könntest du jeden Moment auseinander fallen."
Ein leichtes Lächeln huschte über meine Lippen, als mich Gabe mit seiner doch so befehlerischen, auf komische Weise besorgten Art herumkommandierte. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Wäre ich mehr bei Kräften gewesen, hätte ich wahrscheinlich widersprochen, doch in dem momentanen Zustand, der zwischen verrückt, verwirrt, verkatert und hungrig hin und her wechselte, setzte ich mich gerne auf den Stuhl. Genau in dem Moment portionierte Gabe auf zwei Tellern das Pilzomelette, das er zubereitet hatte. Ich nahm die Tasse Kaffee und kostete einen Schluck. Wie nicht anders zu erwarten schmeckte der Kaffee wie bei unserem morgendlichen Aufeinandertreffen an den Klippen himmlisch. Ich konnte nicht genau sagen, wieso der Kaffee so gut war. Vielleicht lag es an der Zimtnote, die den Kaffee noch aromatischer machte, oder es war doch eine andere, mysteriöse Zutat im Spiel, die ich nicht recht zuordnen konnte.
Er muss mir wirklich dringend verraten, wie er das macht!
Gabe platzierte die Teller mit Omelette jeweils vor uns und nahm gegenüber von mir Platz. Mein Magen grummelte, als der Duft des Pilzomelettes noch intensiver wurde. Mit der Gabel nahm ich mir ein schönes Stückchen Omelette und kostete es.
"Wow, das ist bei Weitem das beste Omelette, das ich je in meinem Leben gegessen habe!", schwärmte ich und gönnte mir eine weitere Gabel davon.
"Es wäre auch ziemlich verwerflich, wenn man als Koch noch nicht einmal ein leckeres Omelette hinbekommen könnte!"
Ich verschluckte mich, während ich ihn mit großen Augen musterte. In diesem Moment wurde mir schlagartig bewusst, wie wenig ich eigentlich von Gabe wusste. Langsam bekam ich ein schlechtes Gewissen, da ich anscheinend nicht genug Interesse an meinen Mitmenschen hatte, um so etwas in Erfahrung zu bringen. Über den Rest meiner Nachbarn wusste ich auch kaum etwas Persönliches. Gabe unterbrach meine Gedanken.
"Du musst unbedingt mal meine Pfannkuchen probieren! Danach willst du nichts Anderes mehr essen, das verspreche ich dir!"
Auf Gabe war stets Verlass, wenn es darum ging, meine Gedanken um 180 Grad zu drehen. Ein ehrliches Lachen entfuhr mir.
"Du bist ganz schön selbst verliebt, weißt du das eigentlich? Außerdem macht wirklich niemand bessere Pfannkuchen als mein Opa!" Der Gedanke an meinen Opa ließ ein Gefühl in mir aufsteigen, das ich das letzte Mal vor vielen Jahren auf einer Klassenfahrt verspürt hatte. Heimweh. Obwohl es dieses Mal eine andere Art Heimweh war. Es war nicht direkt mein Zuhause, meine Freunde oder meine Großeltern, die ich so sehr vermisste. Vielmehr war es die Zeit, bevor ich den Brief von meinen Eltern erhalten hatte, nach der ich mich zurücksehnte. Da war es meine einzige Sorge gewesen, wie ich es schaffen sollte, mein Studium sowie die Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass ich langsam den Verstand verlor. Gabe schien nichts von meinen Gedanken mitzubekommen. Ich hatte noch nicht einmal mitbekommen, ob er etwas erwidert hatte, zu vertieft war ich in meinen Gedanken gewesen. Mein Blick wanderte von seiner leicht gebräunten Haut zu seinen hohen Wangenknochen, über seine Lippen und wieder zurück zu seinen tiefgrünen Augen.
"Danke", flüsterte ich und ich war mir fast sicher, dass ich noch nie ein Wort so ehrlich gemeint hatte, wie das jetzige. Gabe blickte verwirrt auf.
"Ich meine, dass du hier geblieben bist. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wärst du gestern nicht plötzlich aufgetaucht."
Von einem auf den anderen Moment verging mir der Appetit. Statt mich weiterhin dem Omelette zu widmen, das so köstlich vor sich hin roch, blickte ich auf die Tischplatte, dessen Muster ich plötzlich so interessant fand. Ich konnte einfach nicht in sein Gesicht aufblicken. Viel zu groß war die Angst, dass Gabe mich mit diesem Blick mustern würde, der aussagte, dass er mich für total verrückt erachtete.
Wider Erwarten ließen Gabes Worte mich meine Sorgen schnell wieder vergessen.
"Die Anderen und ich haben heute Abend geplant, einen Filmabend zu machen. Willst du vorbeikommen? Davor würde ich auch für alle kochen."
Mit einem leichten Lächeln sah ich wieder zu ihm herauf. Die Chance, diesem Irrenhaus zu entkommen, war einfach überwältigend. Tränen bildeten sich in meinen Augen und ich wusste, dass ein Nervenzusammenbruch kurz bevorstand, wenn ich mich nicht zusammenreißen würde. Mit einem noch breiteren Lächeln nickte ich Gabe bestätigend zu.
Gabe erhob sich und begann, das Geschirr in die Spüle zu stellen. Ich tat es ihm schnell nach und half ihm beim Abräumen. Ohne Worte einigten wir uns darauf, dass er das wenige Geschirr abwaschen und ich es abtrocknen würde.
Obwohl zwischen uns Stille herrschte, konnte ich nicht dem Drang widerstehen, ständig zu ihm aufzublicken. Er wirkte so entspannt und mit seiner Umwelt im Einklang, dass ich mich nur neidisch ebenfalls nach solch einem Zustand sehnen konnte. Obwohl ich wusste, dass die Worte irgendwann einmal kommen würden, erschütterten sie doch mein Inneres.
"Ich muss los."
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht hervor. Mein tiefstes Innerstes wollte protestieren, doch mein rationaler Verstand hielt mich davon ab. Plötzlich hallte die Warnung von Giulia in meinem Kopf wider.
Bitte lass dich nicht von ihm verletzen!
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, um diesen Gedanken wieder zu verdrängen.
So weit war es noch lange nicht, dass ich Gabe... brauchte!
Gabe begann, sich am Hinterkopf zu kratzen und musterte mich, so als wüsste er, was in meinem Kopf vorging.
"Es sei denn, du brauchst noch..."
Bevor er seinen Satz beenden konnte, stoppte ich ihn.
"Danke, ich komme alleine klar!"
Ein weiterer, musternder Blick von Gabe folgte. Schließlich nickte er halbwegs zufriedengestellt.
"Dann bis heute Abend?"
"Ja, ich freue mich.", erwiderte ich. Diese Worte waren tatsächlich ernst gemeint. Ich geleitete Gabe noch zur Tür, wo er ohne einen letzten Blick verschwand.
Es fiel mir schwer, die Tür hinter mir wieder zu schließen. Das Schließen der Tür würde endgültig bedeuten, dass ich wieder alleine in diesem Haus zurückbleiben würde. Dennoch versuchte ich, dieses Gefühl abzuschütteln, da ich schließlich wirklich jedem, vor allem mir selbst, beweisen musste, dass ich nicht verrückt wurde. Das Klicken der sich verschließenden Tür ließ mich einmal laut aufschlucken. Ich horchte, ob ich wirklich alleine in dem Haus war. Erst als ich einige Minuten nur dastand und nichts außer meines stockenden Atems ausmachen konnte, beruhigte ich mich. Das Gefühl der Einsamkeit drohte mich zu übermannen, was ich wiederum mit einem Kopfschütteln zu verdrängen versuchte. Ein Blick auf die Uhr erleichterte es mir, mich wieder zu beruhigen, da es bereits dreizehn Uhr war. Daraufhin wanderte mein Blick zu dem Spiegel, indem mir eine grausig aussehende Vogelscheuche entgegenblickte. Eine Dusche würde vermutlich das Beste in dieser Situation sein, um endlich wieder zu mir zu finden. Ich beschloss, nicht ins Badezimmer nach oben zu gehen, sondern direkt das Gästebadezimmer im Erdgeschoss zu nehmen. Bevor ich die Türklinke der Badezimmertür herunterdrücken konnte, spähte ich zu der Metalltür, von der ich immer noch nicht wusste, wie ich diese aufbekommen sollte. Bilder von gestern flackerten vor meinem inneren Auge auf. Die Kerzen, dessen Flammen mich mit ihren tanzenden Bewegungen verspotteten. Der Kamin, der die Hitze in das bereits viel zu heiße Wohnzimmer stieß. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, ging ich Schritt für Schritt auf die Metalltür zu. Das Gefühl, dass diese Metalltür etwas mit dem gestrigen Ereignis zu tun haben könnte, konnte ich einfach nicht mehr abschütteln. Schneller als erwartet legte sich meine Hand auf die schwere Klinke, die sich rau in meiner Handfläche anfühlte. Das Herz schlug wild in meiner Brust, während ich Millimeter für Millimeter die Klinke herunterdrückte. Als ich an der Klinke zu ziehen begann, löste sich ein lauter Schrei aus meiner Kehle.
Die geöffnete Tür gab den Blick auf ein schwarzes Loch frei, indem ich, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, Treppen und Geländer ausmachen konnte.
"Das ist jetzt nicht wahr", murmelte ich zu mir selbst. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich weg von der Tür. Mit einem enormen Krachen fiel die Tür wieder zu. Erschrocken rüttelte ich an der Tür, nur um zu sehen, ob sie sich noch öffnen ließ. Beruhigt stellte ich fest, dass sie dies noch tat. Die Beruhigung wurde schnell durch ein anderes Gefühl ersetzt. Panik bereitete sich in mir aus.
"Jemand muss in dem Haus gewesen sein."
Dieser Erkenntnis folgte eine Reaktion, die eine Mischung aus Unglaube, Panik und Erleichterung war. Der Einzige, der in dem Haus gewesen war, war Gabe.
Aber es kann unmöglich Gabe gewesen sein. Ich meine so etwas würde er doch niemals tun... oder?
Die gestrige Warnung von Giulia kam wieder in mein Gedächtnis. Vielleicht war es ja das, was sie gemeint hatte. Möglicherweise spielte Gabe gerne irgendwelche perfiden Spielchen mit jungen Frauen. Schließlich war er gestern ohne guten Grund in der tiefsten Nacht vor meiner Tür aufgetaucht.
Tief im Inneren wusste ich, dass ich gerade total durchdrehte. Fakt von Lüge konnte ich nicht unterscheiden, genauso wem ich vertrauen konnte und wem nicht. Der Brief meiner Eltern kam mir wieder in den Sinn.
Vertraue niemandem.
Bevor ich wusste, was ich überhaupt tat, schob ich mit aller Kraft die schwere Holzkommode aus dem Flur vor die ebenso schwere Metalltür. Ein Lachen entrang meiner Kehle.
"Hier kommt keiner mehr durch. So viel ist sicher!"
Wer auch immer ein Spielchen mit mir trieb, ich würde auf keinen Fall wie in den schon so oft gesehenen Horrorfilmen im Keller nachschauen gehen. Bei dem Blick in den Spiegel erschrak ich mich. Das Bild der verrückten, ungepflegten Frau, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, drängte mich dazu, wieder rational zu denken.
Das Abendessen und der Filmabend bei den Nachbarn fiel mir wieder ein und in meinem Kopf begann sich, ein Plan zu formen. Dass jemand in der Villa meiner Eltern gewesen war, war auf jeden Fall klar und nicht diskutierbar. Jetzt war es an mir, herauszufinden, wer die- oder derjenige gewesen war. Und vor allem warum. Und ich spürte, dass ich es wissen würde, wenn es soweit war.
Hallo ihr Lieben,
ich entschuldige mich dafür, dass die Kapitel der letzten zwei Wochen erst so spät kommen, aber ich hatte die letzten Wochen Urlaub (inklusive Internet-, Smartphone- und Notebookurlaub, was wirklich jede/r mal machen sollte ^^), weshalb ihr leider erst jetzt weiterlesen dürft. Ich hatte schlicht und einfach vergessen, euch darüber zu informieren. Deshalb gibt es heute auch zwei Kapitel. Donnerstag geht es wieder im gewohnten Rhythmus weiter ^^
Jedenfalls freut es mich, euch mitzuteilen, dass ich Band 1 soweit abgeschlossen habe und ihr auch nicht mehr lange auf die letzten Kapitel warten müsst. Band 2 ist bereits in der Feinplanung 😍
Eine schönes Restwochenende wünsche ich euch!
Eure federwunsch ❤️
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