Kapitel 15
»Was ist das hier für ein Ort?«
Ich drehte mich einmal im Kreis, um die meterhohen Wände voller Kleidung zu bestaunen. Kleidung aus gefühlt allen Epochen war in dem Kostümraum zu finden. Egal ob du auf eine Party in den Zwanzigern gehen oder mit einem Flower-Power-Kostüm bestechen wolltest, dieser Raum konnte dir alles bieten.
Und was das Motto der heutigen Party – Kings und Queens – anging, war ebenfalls kein Wunsch zu groß. Es gab ausgefallene Kleider, die direkt aus dem Zeitalter des Rokokos entsprungen sein könnten, genauso aber auch schlichtere Varianten, die so hätten während der Regency-Zeit getragen werden können. Neben sämtlichen Varianten von Unterkleiden gab es eine beachtliche Sammlung an Perücken.
»Im Ernst – wofür braucht man an solch einem Ort so viele Kleider?«
Ich blickte zu Tamara, die in diesem Teil des Anwesens – so wie ich es beurteilen konnte – zum Grundpersonal gehörte.
Sie selbst wirkte mit ihren roten Locken, die unter einer Haube steckten, und dem schlichten schwarzen Kleid, als wäre sie geradewegs aus einer Folge Downton Abbey entsprungen.
Ein schüchternes Lächeln huschte über Tamaras Lippen und offenbarte Fältchen um die Augen, die einen Aufschluss darüber gaben, wie viel älter sie in Wahrheit war. Sie gehörte wohl zu den Menschen, die auch ohne Universalheilmittel ihr Leben lang ein jugendliches Aussehen behielten.
»Du musst wissen, dass diese Örtlichkeit im Normalfall anders genutzt wird. Du kannst es dir wie ein Winter-Resort vorstellen, nur dass es für sehr reiche Menschen konzipiert worden ist. Und Reiche lieben Kostümparties und Bälle.«
Ich strich über eines der dunkelblauen Kleider – erst über die sorgsam angebrachte Bestickung, dann über den Stoff des Rockes, der sich nach Seide anfühlte.
»Und wem gehört diese bescheidene Behausung?«
»Sir Ellington Westwood, natürlich.«
Ich wandte mich an Tamara.
»Sir? Was macht ein Brite in Norwegen?«
»Während des ersten Weltkriegs standen die Westwoods in engem Kontakt mit Norwegen. Sie waren unter anderem daran beteiligt, Flugabwehrgeschütze an Norwegen zu liefern. Nach dem Ende des Krieges war dieses Anwesen ein kleines, inoffizielles Geschenk an die Familie.« Tamara trat von einem Fuß auf den anderen. »Hast du dich denn schon für ein Kleid entschieden?«
Diese Wendung brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Ich war gedanklich noch bei einem gewissen Sir, der sich mit welcher skrupellosen Masche auch immer ein Schloss ergaunert hatte. Ein weiterer Blick an die Wände des Raumes ließ mich laut hörbar die Luft ausstoßen. Noch bevor ich antworten konnte, wurde die Tür zum Raum aufgerissen und Giulia stürmte hinein.
»Da bist du ja endlich! Wo hast du gesteckt?«
Ich warf meine Hände nach oben.
»Entschuldige, ich wusste nicht, dass ich mich bei dir abmelden muss.«
»Deine Ironie kannst du dir bei mir sparen, Liebes.« Giulia scannte meinen Körper. »Ihr habt noch nicht angefangen, sehr gut.«
Ich verengte die Augen.
»Und wieso ist das gut?«
Doch anstatt mir zu antworten, ging Giulia schnurstracks auf Tamara zu.
»Das Kleid, das eigentlich für mich bestimmt war, wird unsere liebe Cassie tragen.«
Ich ging auf die beiden zu. »Ach ja, werde ich das?«
Tamara nickte Giulia zu. »Das Kleid befindet sich noch im anderen Raum. Ich hole alles.«
Tamara ging an mir vorbei, als wäre ich Luft.
»Hallo, redet mal jemand mit mir?«
Giulia wandte sich mit einem Lächeln an mich. »Du, meine Liebe, wirst heute hautnah Zeugin, wie sich deine besten Freunde verloben.«
»Was?« Ich riss die Augen auf. »Ich verstehe nicht ...«
Dann weihte mich Giulia in Max' Plan ein. Als sie geendet hatte, war ich entsetzt.
»Also erstens, ich finde es nicht schön, derart für irgendwelche Spielchen missbraucht zu werden. Und zweitens, euer gesamter Plan ist eine furchtbare Idee! Suz wird uns alle einen Kopf kürzer machen, mich allen voran.«
Giulia zwinkerte mir zu. »Du wirst es überleben.«
Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du glaubst, dass ich bei so etwas mitmache, dann bist du mindestens genauso am Durchdrehen wie Max.«
Giulia ging auf die Tür zu, öffnete sie einen Spalt und rief: »Du hattest recht, was sie angeht.«
Im nächsten Moment trat ein Mann durch die Tür und schloss sie hinter sich. Er war hochgewachsen und schlank. Der mit Stickereien verzierte, schwarze Gehrock schmiegte sich perfekt um seine Silhouette. Ein ebenso schwarzes Band hielt seine schulterlangen Haare zusammen. Wäre mir sein Gesicht nicht derart bekannt gewesen, hätte ich den jungen Mann vor mir nicht wiedererkannt.
»Wo ist deine Strickmütze?« Nur selten hatte ich Max ohne seine Strickmütze gesehen. Selbst im Freibad trug er sie fast durchgehend. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Du meinst es ernst.«
Er nickte. Meine Hände fuhren durch meine Haare.
»Das kannst du nicht ernst meinen, Max. Wer hat dich auf diese bescheuerte Idee gebracht?«
Max grinste. »Meine Verlobte in spe, selbstverständlich.«
Froh darüber, dass jemand eine Ottomane in diesem Raum für notwendig erachtet hatte, ließ ich mich darauf nieder. Mein Kopf fühlte sich plötzlich derart schwer an, dass ich ihn mit den Händen abstützten musste. Max ließ sich neben mir nieder.
»Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem Suz und ich zusammengekommen sind.«
»Natürlich erinnere ich mich noch daran. Wie könnte ich diesen furchtbaren Abend jemals vergessen?«
»Also erinnerst du dich noch, wieso Suz mich geküsst hat?«
Es war eine Mittelstufenparty an unserer Schule gewesen, als Max und ich ausgelassen getanzt hatten. Zu der Zeit sind wir beide aus unserer Clique am engsten befreundet gewesen. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass Suz unsterblich in Max verknallt gewesen ist. Als Max mich und nicht sie zu einem Tanz aufgefordert hatte, waren bei Suz alle Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte mich vor versammelter Mannschaft als schlimmste Freundin aller Zeiten tituliert und Max den feuchtesten, ersten Kuss der Weltgeschichte gegeben. Während sich die beiden einem Kuss nach dem anderen hingegeben hatten, hatte ich mir an dem Abend die Augen ausgeheult, weil ich die Welt nicht mehr verstand. Es schüttelte mich.
»Sie war eifersüchtig auf mich«, antwortete ich schließlich. Dann blickte ich zu Max. »Du möchtest also das schlimmste und gleichzeitig schönste Erlebnis eurer Beziehung reproduzieren und ihren Lieblingsfilm als Kulisse nutzen?«
»Sozusagen, ja.«
Ich legte meine Hand auf seine, drückte zu und schmunzelte. »Du bist mindestens genauso bescheuert wie deine Verlobte.«
Max' Augen funkelten.
»Also bist du dabei?«
»Ob ich scharf darauf bin, von Suz die Augen ausgekratzt zu bekommen? Nicht wirklich. Aber ich kann dich von dieser Idee sowieso nicht mehr abbringen, nicht wahr?«
Max schüttelte den Kopf.
Ein Händeklatschen ließ mich zusammenzucken. »Na los, wir haben nicht ewig Zeit. Wir müssen das hier ...«, Giulia zeigte auf mich. »... noch in eine Prinzessin verwandeln.«
Ich erhob mich seufzend. »Ich habe dich auch lieb, Giulia.«
Ich kriegte kaum Luft. Der Stoff des Schleiers, der mein Gesicht ab der Nase bedeckte, war kaum luftdurchlässig und das Band unter meiner Brust war derart festgeschnürt, dass ich nur sehr flach atmen konnte.
»Ich hoffe Suz weiß auch nur ansatzweise zu schätzen, was ich für sie tue«, murmelte ich. Giulias Lippen verengten sich zu einer Linie.
»Jetzt stell dich nicht so an, Cassie. Es gibt Frauen da drin, die sich alle Organe abgeschnürt haben, um in ihren Korsetts hinreißend auszusehen.«
Ich blickte an mir herab. Zumindest vor einem Korsett war ich verschont geblieben. Der Stoff des Kleides wog fast nichts und schmiegte sich angenehm um meine Silhouette. Es sah dem Brautkleid aus dem Film Drei Haselnüsse für Aschenbrödel sehr ähnlich. Selbst die nachträglich angebrachten, goldenen Bänder um die Arme und unter der Brust passten perfekt zu dem leicht bläulich schimmernden Brautkleid. Das Einzige, was so gar nichts mit dem wohl bekanntesten Wintermärchen Deutschlands zu tun hatte, waren die Chucks unter dem Kleid. Obwohl Giulia ihr Bestes versucht hatte, war ich davon nicht abzubringen gewesen.
»Seid ihr beiden bereit?« Giulia blickte erst zu Max, der kaum merklich nickte, dann zu mir. Unter den Handschuhen waren meine Hände nassgeschwitzt und ich glaubte, dass mein Makeup mit jeder Sekunde mehr verwischte. Mir war unerträglich heiß und doch fröstelte es mich. Ich schüttelte den Kopf.
»Meine Güte, warum bin ich derart aufgeregt?«
»Kümmerst du dich darum?«, sagte Giulia an Max gerichtet und stolzierte die letzten Schritte zum Ballsaal hin, als würde sie den lieben, langen Tag nichts anderes machen. Max packte mich an den Schultern und zwang mich, zu ihm aufzusehen.
»Konzentriere dich auf mich, okay? Die nächsten Minuten gibt es nur dich und mich, niemanden sonst, verstanden?« Genau so etwas in der Art hatte Max schon einmal zu mir gesagt, als wir den ersten Tanz auf einem Ball unseres Tanzkurses hatten einleiten müssen. Während ich wie ein nervöser Flummi kaum hatte stillhalten können, bestach er mit einer Coolness, die nur angeboren sein konnte. Ich hörte Giulias Stimme durch die Lautsprecher. Die Bedeutung ihrer Worte ging jedoch vollkommen an mir vorbei. Mir reichte das Wissen, dass Max und ich gleich gemeinsam in den Ballsaal treten und den Tanz eröffnen würden. Ich trat von einem Fuß auf den anderen.
»Wie kannst du bloß so ruhig bleiben? Schließlich willst du dich verloben, nicht ich!«
Max schmunzelte. »Weil ich weiß, dass sie die Richtige ist. Wenn sie an meiner Seite ist, brauche ich keine Angst zu haben.«
Meine Augen wurden groß. Ich spürte Tränen aufsteigen, die ich jedoch schnell wegblinzelte. Ich griff nach Max' Händen und drückte fest zu.
»Suz kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.«
Und ich kann mich glücklich schätzen, solche Freunde wie euch zu haben, fügte ich stumm hinzu, während mein Herz bei dem Gedanken, was sie alles wegen mir durchgemacht hatten, blutete.
Max lauschte kurz und drückte dann ebenfalls meine Hände.
»Bereit?«
Ich löste meine linke Hand aus seinem Griff, stellte mich neben ihn und nickte.
Als die ersten Laute der Intro-Melodie von Drei Haselnüsse von Aschenbrödel durch die Lautsprecher ertönten, traten Max und ich in das Scheinwerferlicht. So wie Max mir zugesichert hatte, existierten in diesem Moment nur wir beide. Während wir flanierten, blickten wir uns in die Augen. Dann wirbelte er mich herum und legte seine Hand an meine Hüfte.
Als die Flöte einsetzte, machte Max den ersten Schritt in meine Richtung. Ich folgte, vertraute ihm, dass er wusste, was er tat. Plötzlich waren wir nichts als ein Tanzpaar, das über das Parkett wirbelte, als würde es den ganzen Tag nichts anderes machen als Walzer zu tanzen. Ich verstand ohne Worte, was Max von mir wollte, während er mich grazil von einer Figur in die nächste leitete. Die Minuten, die das Lied andauerte, fühlten sich endlos an.
Als die letzten Takte einsetzten, fragte Max mich: »Vertraust du mir?«
Ich nickte. Seine Finger schlangen sich um meine Taille und hoben mich hoch. Es hörte sich an, als wären die Leute, die uns zujubelten, kilometerweit entfernt. Während Max mich langsam an seinem Körper hinabgleiten ließ, schauten wir uns unablässig in die Augen. Dabei bemerkten wir erst viel zu spät, dass wir nicht mehr allein auf der Tanzfläche waren.
Durch einen unsanften Schubs wurden Max und ich in das Hier und Jetzt zurückkatapultiert.
Suz' dunkelbraune Augen glänzten voller Tränen. »Wie könnt ihr beiden mir das bloß antun?«
Ihr Finger bohrte sich in Max' Brust. »Ich will dich nie wiedersehen!«
Ihr Blick wandte sich an mich. »Und du? Ich weiß nicht, wer du bist, aber meine beste Freundin bist du ganz sicherlich nicht mehr.«
Suz schluchzte. Trotz der vielen Menschen, die sich im Saal versammelt hatten, war es totenstill. Mein Herz pochte und es fiel mir immer schwerer, Luft zu bekommen. Ich hatte Max und Giulia gewarnt.
Erst jetzt fiel mir auf, wie perfekt das himmelblaue Kleid zu ihren Locken passte. Trotz der Wut in ihren Augen sah sie aus wie eine Elfe ohne Flügel und spitze Ohren.
»Ich hoffe, ihr werdet glücklich!«
Suz machte auf dem Absatz kehrt und erstarrte. Vier Worte und ein Fragezeichen auf einer Papierrolle, welche Stefan und mein Opa hochhielten, genügten, dass sich Suz langsam umdrehte. Als sie wieder in unsere Richtung schaute, kniete Max bereits auf dem Boden, den Ring zwischen seinen Fingern.
Suz Mund öffnete und schloss sich wieder. Dann fing sie an, vehement den Kopf zu schütteln.
»Nein, nein, nein, nein, nein.«
Mein Herz blieb einen Moment stehen. Ein Raunen ging durch die Menge. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Ich griff nach dem Schleier und riss ihn von meinem Kopf. Jetzt sah Suz wieder zu mir, die Wut darin durch Besorgnis ausgetauscht.
»Mein Gott, Cassie! Du bist so bleich wie eine Leiche.«
»Mir geht es gut«, presste ich hervor. Meine Augenlider flatterten und der Saal fing an, sich zu drehen.
»Ich glaube, sie wird ohnmächtig!«
Suz' Worte waren das Letzte, was ich hörte, bevor mich mein alter Freund – die Dunkelheit – in die Tiefe zog.
Einen wunderschönen Nachmittag ihr Lieben,
Finger hoch, wer mit so einem Kapitel gerechnet hat 😅
Ernsthaft, wenn das so sein sollte, spendiere ich euch einen Kaffee! 🤣
Aber so viel Wissen traue ich mir noch zu, dass ihr sicherlich auf eine interessante Begegnung zwischen Gabe und Cassie gehofft habt. Was das angeht, kann ich euch beruhigen. Im nächsten Kapitel treffen die beiden wieder aufeinander. Doch die Umstände ...?
Ich verrate nur so viel: Ihr werdet vermutlich noch viel überraschter sein als in diesem Kapitel. Bis dahin könnt ihr mich ja gerne wissen lassen, was ihr im nächsten Kapitel erwartet. Ich bin gespannt auf eure Ideen 😋
Eure Kat 🧡
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