Kapitel 13
Es war heiß – so unerträglich heiß. Und ich liebte alles daran. Ich ließ mich tiefer in das Badewasser sinken, schob den Schaum von einer Seite zur nächsten und seufzte.
Nach diesem anstrengenden Tag hatte ich mir das verdient.
Ich korrigiere, nach diesen anstrengenden Monaten!
Jedes einzelne Körperteil schmerzte, nachdem ich meinen ehemaligen Mitstreitern immer und immer wieder geholfen hatte, mit der Energie um uns herum zu interagieren. Mit Dorian hatte ich versucht, die Breite seines Konzentrationsfeldes zu erweitern, während Ilvy fleißig versucht hatte, erneut einen Gegenstand in die Luft zu kriegen. Dimitri und Kamal hatte ich mehr oder weniger die Übungen machen lassen, die wir bereits mit Akuma und den anderen in der Hölle gemacht hatten, um ihre Konzentrationsfähigkeit und mentale Stärke zu fördern.
Ich konnte nicht genau sagen, wieso es mir leichter als den anderen fiel, meine Kräfte und damit die Energie um mich herum zu nutzen. Vielleicht hatte es etwas mit den Fieberschüben zu tun, die meines Wissens nur bei mir derart ausgeprägt gewesen waren. Vielleicht war auch etwas an dem dran, was Dimitri über mich gesagt hatte. Vielleicht war ich ein Naturtalent.
Ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Einen entscheidenden, meiner Meinung nach stark unterschätzten Vorteil hatte diese Hybriden-Sache jedoch – durch den rasanten Stoffwechsel konnte mein Körper ziemlich schnell Alkohol abbauen.
Ich warf einen Blick auf das Glas Rotwein in meiner Hand und gönnte mir einen großen Schluck. Ein Schmunzeln schlich sich auf meine Lippen, als ich daran dachte, wie elendig sich Suz gerade fühlen musste.
Ich schüttelte den Kopf. Solange ich in der Badewanne lag, wollte ich solche Gedanken nicht mehr zulassen.
Es fühlte sich an, als wäre es in einem anderen Leben gewesen, dass ich mich auf irgendwelche Fantasiewelten und Spinnereien eingelassen hatte. Und damit meinte ich keineswegs die Traumwelten, die ich mir mit Gabe teilte. Vielleicht wurde es mal wieder Zeit, die Realität für einen kurzen Moment zu vergessen und diesen Fantasiewelten einen Besuch abzustatten.
Ich schloss die Augen. Auch wenn ich Gabe gerade nicht in der Nähe spüren konnte, ließ ich die gedankliche Schranke zu ihm hochfahren. Das, was in der Badewanne geschah, sollte privat und ganz allein meine Sache bleiben. Und ein wenig Entspannung würde mir und meinem geschundenen Körper sicherlich nicht schaden.
Meine Arme schlossen sich um meinen Oberkörper, umarmten ihn, schenkten ihm Trost und Geborgenheit. Meine Finger kraulten meinen Rücken und setzten ihren Weg weiter fort zu meinem Bauch. Ich strich über die Beckenknochen, die spitz hervorstanden, bildete mir jedoch ein, dass die Haut drum herum nicht mehr derart papierdünn war wie noch vor ein paar Tagen. Meine Hände bewegten sich weiter nach oben, über die Rippen zu den Brüsten.
Ich erinnerte mich, wie ich einen erheblichen Teil meines Lebens die Größe meiner Brüste verschmäht hatte. Doch jetzt, als sich meine Finger um sie legten und die Fettabnahme deutlich spürten, wünschte ich sie mir zurück – Rückenschmerzen und blöde Blicke inklusive. Meine Hände setzten die Erkundung meines Körpers fort. Sie strichen über den Hals, über die Brustwarzen, hinunter zu meinen Innenschenkeln. Sanft fuhren meine Finger die inneren, weichen Seiten der Schenkel nach, immer mehr dem Zentrum entgegen.
»Micina?«
Ich runzelte die Stirn. An Gabe hatte ich doch gar nicht denken wollen. Ich schüttelte den Kopf und ließ meine Finger weitererkunden. Langsam – quälend langsam – näherten sie sich der empfindlichsten Stelle.
Ich atmete laut hörbar aus. »Ja.«
»Geht es dir gut?«
Als sich dieses Mal Gabes Stimme durch den Nebel in meinem Kopf kämpfte, passte der besorgte Unterton gar nicht in die Illusion, die ich im Begriff war, aufzubauen.
»Micina?« Dieses Mal war seine Stimme lauter und flehender.
Meine Finger hielten inne.
»Gabe?«, fragte ich in den Dampf im Badezimmer hinein, als würde er sich jeden Moment vor mir manifestieren.
»Ich habe gefragt, ob bei dir alles in Ordnung ist. Ich habe deinen erhöhten Pulsschlag gespürt und ...«
»Mir geht es gut!« Ich kniff die Augen zu. Nicht einmal einen kleinen Moment der Ruhe und Entspannung gönnte man mir. »Und was zur Hölle machst du in meinem Zimmer?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Mein Mund stand offen und mein Kopf war nicht in der Lage, anständige Sätze zu bilden, obwohl es da so einiges gab, das ich Gabe gerne vor den Kopf geknallt hätte.
Ich griff nach dem Schwamm am Beckenrand und ließ ihn fester als unbedingt nötig über meinen Körper gleiten. Als ich mich aus dem Wasser erhob und auf meinen geröteten Körper hinabsah, wurde ich nur noch wütender.
Ich zog meinen Bademantel über, wickelte das Handtuch um meine Haare und öffnete die Badezimmertür.
War ich überrascht, geradewegs in ein paar grüne Iriden zu blicken? Nicht wirklich. Einzig Gabes Hundewelpen-ähnlicher, besorgter Gesichtsausdruck hielt mich davon ab, ihm an die Gurgel zu springen.
»Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich auch hätte nackt herauskommen können, oder?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, Micina.«
Dieser Kosename. Wie ich ihn hasste und zugleich liebte.
Ich verdrehte die Augen.
»Oh man, Gabe, wir hatten das doch schon besprochen. Ich brauche keinen Beschützer. Wenn ich gerade irgendetwas brauche, dann ...«
»... einen Freund. Ich erinnere mich. Aber zu vergisst, dass man sich auch als Freund Sorgen machen darf.«
Ich ließ die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen.
»Ich brauche dringend Wein.«
»Da haben wir das Problem. Deshalb spielt dein Kreislauf verrückt! Alkohol und Baden ist keine gute Kombination. Vor allem nach eurer Party letzte Nacht.«
»Meine Güte! Du gehst mir dermaßen auf die Nerven!« Ich stapfte zum Schrank, um mir ein paar frische Klamotten herauszuholen. »Ich weiß, dass du vom Alter her mein Opa sein könntest, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mich zu bevormunden!«
Ich ließ die Schranktüren extra laut zufallen, um meiner Wut Ausdruck zu verleihen. Als ich zu Gabe zurückkehrte und ihn wie einen geprügelten Hund auf meinem Bett sitzen saß, seufzte ich.
»Es lag nicht am Wein, verstanden?«
»Cassandra, ich bitte dich. Sei vernünftig.«
Oh. Kein Micina mehr. Auch kein Cassie mehr. Da wird aber jemand ernst.
»Kannst du es nicht einfach darauf beruhen lassen und mir vertrauen?« Wispernd fügte ich hinzu. »Ist das zu viel verlangt?«
Seine Augen verengten sich.
»Wenn es nicht vom Wein kam ...«
Erst formten sich seine Lippen zu einem Schmunzeln, dann zu einem Grinsen.
»Untersteh dich, Gabriel Delanotte!«
Er gab sich nicht einmal Mühe, sein Lachen zu unterdrücken. Laut und herzlich füllte es mein gesamtes Schlafzimmer aus und ließ mich ihn mit geöffnetem Mund anstarren.
»Ist das dein Ernst? Lachst du mich gerade aus?« Ich stemmte meine Hände in die Hüften und funkelte ihn bitterböse an.
»Na schön, ich gebe es zu. Vielleicht habe ich mich ein wenig ziehen lassen und ... nach den ganzen Disney-Filmen gestern Abend ... wieso erzähle ich dir das überhaupt?«
Obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, wurde Gabes Lachen nur noch lauter.
Es war mir nicht länger möglich, ihn anzusehen. Ich griff nach der Weinflasche auf dem Tisch, ließ den bereits angelösten Korken aus der Weinflasche ploppen und nahm mir ein paar Schlucke direkt aus der Flasche.
Gabes Lippen öffneten sich.
»Ein blöder Kommentar und ich zeige dir, was ich draufhabe!«
Er hob eine Augenbraue. Dann schenkte er mir das anzüglichste Lächeln, das ich je in meinem Leben erhalten hatte und mein verräterisches Herz im Stakkato hüpfen ließ. Ich verbarg meinen Kopf in den Händen.
»So war das doch nicht gemeint. Hör auf damit!«
Wieder ertönte sein Lachen.
»Das ist doch nichts, wofür du dich schämen musst. Es ist doch nur natürlich. Wenn du wüsstest, wie oft ich ...«
»Oh Gott!«
»Gabe reicht völlig.«
Erneut nippte ich an der Weinflasche, nur um ihn danach mit dem tödlichsten Blick zu strafen, den ich aufbringen konnte. Gabe hob seine Hände, als wäre er die Unschuld höchstselbst.
»Alles klar, ich habe verstanden. Dann lasse ich dich jetzt allein.« Er räusperte sich. »Es sei denn, du brauchst Hilfe?«
Ehe ich wusste, was ich tat, landete die volle Ladung meiner frischen Klamotten in seinem grinsenden Gesicht, allem voran das Höschen. Wäre die Situation nicht derart peinlich gewesen, hätte ich lauthals angefangen zu lachen. Stattdessen besah ich ihn eines strengen Blickes.
»Du bist alles andere als ein Gentleman, Gabriel Delanotte!«
Ich kam nicht umhin, an die vielen Male zu denken, in denen wir uns nahegekommen waren – in denen die Spannung zwischen uns immer klarer und unerträglicher geworden war.
Es wäre ein leichtes gewesen, dieser Spannung ein für allemal ein Ende zu setzen. Ich sah es genauso in seinem Blick wie ich es in meinem Bauch spürte. Doch ich war immer noch wütend auf ihn.
»Ist das der einzige Grund, warum du mich noch belästigst?«
Gabe sah aus, als hätte ihm jemand einen Kübel Eiswürfel über den Kopf gekippt. Er fuhr sich mit den Händen durchs schon viel zu wirre Haar.
»Ich dachte mir, dass heute ein guter Zeitpunkt ist, dir alle deine Fragen zu beantworten. Das, was mich betrifft, und das, was ich dir zu Michail und seinem Gefolge sagen kann. Nach deiner Ansprache heute Morgen habe ich gespürt, wie sehr du Antworten brauchst.«
Er ist ebenfalls dagewesen?
Ich spürte die Röte in meine Wangen aufsteigen.
»Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich es mächtig bei dir vergeigt habe.«
Gabe wirkte keineswegs zerknirscht darüber.
»Und wie du das hast.« Ich ging auf ihn zu, nahm meine Klamotten aus seinen Händen und legte sie auf den Tisch. Dann ging ich mitsamt Weinflasche in der Hand auf eine Seite des Bettes und kuschelte mich in meinem Bademantel unter die Bettdecke.
»Wenn du auch nur ansatzweise glaubst, ich würde die Flasche mit dir teilen, hast du dich aber dermaßen geschnitten.«
Als hätte Gabe nur auf das Stichwort gewartet, holte er eine Flasche Merlot unter meinem Bett hervor, die zuvor ganz sicher noch nicht da gewesen war, und machte es sich neben mir unter der Decke gemütlich. Ich ignorierte, dass mein nackter Oberschenkel den Stoff seiner Jeans spüren konnte. Genauso wenig sprach ich an, wie unlogisch seine Rede bezüglich meines Weinkonsums gewesen war, wenn er so oder so vorgehabt hatte, mich abzufüllen.
Er sah mich an. Ich konnte nicht ignorieren, wie dunkel das Grün seiner Iriden wirkte, jetzt wo die Kirschbaumholzdecke des Bettes das meiste Licht schluckte. Ich räusperte mich.
»Na dann, schieß los.«
Gabe lächelte.
»Wieso so ungeduldig?« Mit der Geschwindigkeit eines Faultieres holte er einen Korkenzieher aus seiner Hosentasche und setzte ihn an der Flasche Merlot an. Ich war wie hypnotisiert von seiner Handbewegung, die die Metallspirale immer weiter in den Korken forcierte. Als der Korken mit einem angenehmen »Plopp« aus der Flasche sprang, hatte ich das plötzliche Verlangen, mir einen ordentlichen Schluck aus meiner eigenen Flasche zu gönnen. Ich bildete mir ein, dass die Hitze, die in meiner Körpermitte pulsierte, einzig und allein auf mein Bad und den Wein zurückzuführen war und nichts – rein gar nichts – mit einer gewissen Person und seinen Händen zu tun hatte.
»Also, Micina.«
»Nenn mich nicht so!«
Er lächelte bloß.
»Womit soll ich beginnen?«
»Wie wäre es mit deinen Eltern?«
Gabe setzte die Weinflasche an seine Lippen und ließ gefühlt den halben Inhalt in seinen Hals fließen.
»Wow, ganz ruhig.« Gabe ließ die Flasche sinken und schloss seine Augen.
»Schlechtes Thema?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, von diesen werden wir noch einige haben. Also wieso nicht damit starten?«
Er atmete tief ein und aus.
»Als ich noch ein kleiner Junge war, hätte ich niemals mit irgendjemandem das Leben tauschen wollen. Meine Eltern liebten sich, sie liebten uns. Aber es gab ein entscheidendes Problem in der Gleichung.«
Gabe starrte auf seine Weinflasche, als wäre sie der Teufel höchstpersönlich.
»Mein Vater war Alkoholiker.«
Ich hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu sagen, doch kein Wort der Welt hätte etwas an dieser Tatsache geändert. Also überbrückte ich die Stille, bis Gabe bereit war, weiterzureden, mit dem Betrachten meines abblätternden Nagellacks.
»Der Alkohol veränderte ihn. Es gab Tage, an denen war er nur lustig. Doch es gab auch welche, die für keinen seiner Mitmenschen ertragbar waren.«
Gabe begann, an der oberen Ecke des Weinflaschenetikettes zu friemeln.
»Am Tag, als er starb, war er wieder stark betrunken gewesen. Mama und ich saßen in der Küche und bereiteten frische Pasta für den nächsten Tag zu, als er nach Hause kam und ... sehr aufdringlich wurde.«
Ein Teil von mir wollte ihn erlösen und ihm sagen, dass er nicht weiterreden brauchte. Doch der neugierige Teil in mir war stärker.
»Mama jagte ihn aus dem Haus. Doch ich konnte es nicht ertragen, Papa gehen zu sehen. Also setzte ich mich ins Auto.« Er schnaufte. »Du musst wissen, ich konnte kaum über das Lenkrad gucken, als Papa mir das Autofahren beibrachte. Von ihm habe ich die Faszination für Autos. An diesem Tag jedenfalls konnte ich sehr gut über das Lenkrad sehen.«
Er biss sich auf die Unterlippe.
»Die Bilder, wie das Auto immer näher auf ihn zufährt, wie er versucht, durch die Scheinwerfer hindurch ins Wageninnere zu blicken, sein schmerzverzerrtes Gesicht – Diese Bilder haben sich derart fest in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich manchmal immer noch schweißgebadet davon aufwache.«
Ich schlug meine Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Ein erstickter Laut drang aus meiner Kehle, doch Gabe schüttelte nur den Kopf.
»Bis heute weiß ich nicht, ob es ein Unfall oder Absicht gewesen ist.«
»Es tut mir so leid, Gabe.«
Noch immer sah er mich nicht an. Er schüttelte lediglich den Kopf.
»Wenn du glaubst, dass dies das Schlimmste ist, dann täuschst du dich.«
»D-Du musst nicht ...«
»Wir waren nicht besonders wohlhabend, doch es hat immer ausgereicht. Papa hat Autos repariert, während sich Mama um uns Kinder gekümmert hat. Doch mit Papas Tod war Mama nicht nur alleinerziehend – sie musste sich von dem Tag an auch ums Geld kümmern. Erst viel später erfuhr ich durch Klassenkameraden, wie sie unseren Lebensunterhalt finanzierte.«
In meinem Kopf schwirrten viele Berufe herum, doch mir fiel keiner ein, der schlimm genug war, dass er Gabe bis heute belastete.
»Sie prostituierte sich.« Ich schluckte. »Mama prostituierte sich, weil ich Papa umgebracht hatte.«
Fast gleichzeitig nahmen Gabe und ich einen weiteren Schluck aus unseren Weinflaschen. Er sah mich immer noch nicht an, selbst als ich meine Hand auf seine legte und zudrückte.
»Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie mein Leben danach weiterging. Der Spott meiner Mitschüler trieb mich immer weiter in die Isolation, Mama konnte ich nicht länger in die Augen sehen. Also setzte ich alles daran, in der Schule gut zu werden, um später als Mann der Familie gut für Mama und Giulia sorgen zu können.«
Er lächelte, doch es erreichte seine Augen nicht.
»Irgendwann zahlte sich das ganze Lernen aus. Mein Chemielehrer bemerkte mein Talent und die Fortschritte, die ich in den letzten Monaten an den Tag gelegt hatte. Ihm habe ich es zu verdanken, nach Cambridge gekommen zu sein.«
Ich hörte, dass Gabe das ruhige Atmen immer schwerer fiel.
»Es war nicht schwer, von Zuhause wegzugehen, doch in Cambridge wurde es ehrlich gesagt nicht leichter. Wie du weißt, war ich den Spott anderer Leute gewohnt. Doch die reichen Studenten in Cambridge waren eine vollkommen andere Hausnummer. Die meisten von ihnen waren nur dank des Familieneinflusses und des Geldes zu einem Studienplatz gekommen. Damals, musst du wissen, war Studieren ein Privileg, das sich nur wenige leisten konnten. Und die, die es sich leisten konnten, waren ihr Leben lang Macht gewohnt. Das ließen sie einen gerne spüren.«
Er räusperte sich.
»Jedenfalls verkroch ich mich auch in Cambridge so sehr in die Bibliothek und – wie du weißt – das Forschungsgebiet der Genetik, das für mich nichts anderes mehr existierte. Bis ich Michail begegnete, zumindest.«
Das erste Mal seit langem blickte Gabe zu mir.
»Den Rest der Geschichte müsstest du, soweit ich weiß, kennen.«
Ich nickte. »Mehr oder weniger jedenfalls.«
Ich musste scharf nachdenken, welche Frage ich ihm als Nächstes stellen konnte, die hoffentlich nicht so fordernd sein würde.
»Also hast du mich damals in Sizilien angelogen, als du gesagt hast, dass du Koch bist?«
Als ich Gabes tiefes und ehrlich gemeintes Lachen hörte, wurde es auch um mein Herz etwas leichter.
»Tatsächlich nicht. Ich habe vor zwanzig Jahren eine Ausbildung zum Koch gemacht. Irgendwie muss man sich ja die Zeit vertreiben. Ich habe sogar Kunst studiert.«
»Wirklich?«
Er nickte.
»Damals habe ich gedacht, dass mir möglicherweise ein Studium helfen würde, zu verstehen, wie man in so manchen Kunstwerken mehr als nur Pinselstriche und Farben sehen und dafür Tausende von Euros ausgeben kann.«
»Und? Ist dir das gelungen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich gehöre wohl eher zu der Fraktion der Logisch-Denkenden, nicht so zu den Kreativen.«
»In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns wohl sehr.«
Er lächelte. Ich lächelte zurück. Dann fiel mir etwas ein, dass Lian damals über Gabe gesagt hatte.
»Stimmt es, dass du, bevor du Michail begegnet bist, dürr gewesen bist?«
Gabe runzelte die Stirn.
»Woher weißt du das?«
»Lian ist ein ausschweifender Geschichtenerzähler.«
»Und dieses Detail ist dir besonders in Erinnerung geblieben, weil ...?«
»Ich stelle hier die Fragen.«
Gabe lachte.
»Falls du wissen möchtest, ob ich schon immer solch einen Adoniskörper vorweisen konnte, dann ist meine Antwort: Nein, das ist harte Arbeit. Wenn wir mal wieder in Sizilien sein sollten, zeige ich dir gerne ein Foto.«
Wir. Auf Sizilien?
Das fühlte sich so weit weg – so surreal – an. Ich schluckte. Dieses Thema war für mich vorerst beendet.
»Wieso hast du Michail jahrelang unterstützt?«
Gabe seufzte.
»Ich würde gerne sagen: Ich war jung und dumm. Aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Gabe kniff die Augen zusammen. »Reichtum und Macht kann jeden ködern. Jeder, der etwas anderes behauptet, lügt.«
Ich nickte. Vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag hätte ich mit hoher Wahrscheinlichkeit lautstark protestiert. Doch ich konnte nicht ignorieren, wie gut es sich angefühlt hat, mächtiger als Michail zu sein und seinen letzten, angsterfüllten Blick vor seinem Ableben zu sehen.
»Wieso bist du dann doch gegangen?«
»Mit dem Phönixprojekt nahm alles eine neue, verquere Dimension an. Und mit solch skrupellosen Personen wollte ich nichts mehr gemein haben. Durch das Phönixprojekt bin ich übrigens das erste Mal auf Lian getroffen. Schon damals hatte er weitaus weniger Skrupel als ich.«
Ich schnaubte. »Dann muss es ja immer schlimmer geworden sein, wenn sich selbst Lian gegen Michail gestellt hat.«
Gabe zuckte mit den Schultern.
»Ich würde ja sagen, Menschen ändern sich. Doch wir beide wissen, dass sie im Kern gleichbleiben. Also hast du vermutlich recht.«
Was den ersten Teil betraf, hatte ich da so meine Zweifel, aber die behielt ich für mich.
»Also vertraust du Lian nicht?«
Dieses Mal war es an Gabe, zu schnauben.
»Nein. Aber eine Zusammenarbeit mit ihm ist die beste Chance, die wir momentan haben.«
Ich nickte. Schließlich war es nicht ratsam, aus den wenigen Verbündeten, die wir hatten, Feinde zu machen.
»Lian hat erzählt, dass Michail mit allen Mitteln versucht hat, das Universalheilmittel zu bekommen. Was genau hat er damit gemeint?«
Als Gabe dieses Mal die Weinflasche an seine Lippen führte, konnte ich die Richtung der Antwort bereits erahnen.
»Er hat meine Mutter umgebracht. Später hat er mich gefoltert, indem er Giulia unaussprechliche ...«
Ich sah ihm an, dass er um Worte rang.
»Ist schon okay.«
»Ohne das Heilmittel hätte Giulia nicht überleben können.«
»Dieser Mistkerl!« Ehe die Bilder aus dem Folterkeller mit Karina vor meinem geistigen Auge auftauchten, hatte ich schon mehrere Schlucke aus der Weinflasche genommen. Ich musste dringend das Thema wechseln, nicht nur um Gabes Willen.
»Was genau passiert eigentlich mit jemandem, der das Heilmittel einnimmt?«
Gabe grinste.
»Es ist eigentlich ähnlich wie bei dir, nur dass die Veränderungen nicht in Schüben kommen, sondern alles mit einem tagelangen, schmerzhaften Fieber vonstattengeht.«
Ich nickte.
»Und wie alt ist der älteste Langlebige?«
»Siebenundachtzig.«
»Und wie sieht er aus?«
»Nicht wie ein Siebenundachtzigjähriger.«
Ich schüttelte den Kopf. Das waren zu viele Informationen für meinen Kopf, über die ich lieber nicht mehr nachdenken wollte. Es schüttelte mich. Und doch war da eine Frage, die mich seit Sizilien nicht mehr losgelassen hatte.
»Wie konntest du dich in sie verlieben?« Gabe schaute mich stirnrunzelnd an. »In Sophia, meine ich.«
Gabe gab einen Laut der Erkenntnis von sich.
»Wie verliebt sich überhaupt irgendjemand in irgendwen? Im Körper entsteht ein Hormonüberschuss, der dazu führt, ...«
»Gabe!«
»Weißt du? Als ich sie kennengelernt habe, war da diese Unschuld. Diese Leichtigkeit in ihrem Lächeln. Und der Klang ihrer Stimme erst.« Er schloss die Augen und lächelte. »Sie war all das, was ich niemals hätte sein können.«
Ich lachte humorlos.
»Also unschuldig ist an ihr wirklich nichts mehr.«
Gabe besah mich mit erhobener Augenbraue.
»Ich bin ihr gestern begegnet und es ist nicht sonderlich gut gelaufen.«
Ein weiterer Schluck Wein landete in meinem Rachen und hinterließ eine angenehme Wärme.
»Möchtest du darüber sprechen?«
»Sehe ich so aus?«
Er seufzte.
»Du hast dich auch verändert, Micina. Als ich dich kennengelernt habe, warst du dieses Kätzchen, das niemals jemandem auch nur ein Haar hätte krümmen können. Gespielt gefährlich.«
Er hielt inne. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder.
»Ich weiß, was du denkst. Jetzt bin ich nichts weiter als ein mutiertes monstruo.«
Ich sah Gabe dabei zu, wie er meine Weinflasche nahm und sie gemeinsam mit seiner auf der Schlafkommode abstellte.
»Was soll das werden, wenn es fertig ist, Gabe?«
Sein Gesicht kam meinem immer näher. Seine Lippen öffneten sich leicht. Dann spürte ich seine Hand an meinem Gesicht und ich konnte nicht anders, als seinen stets nach Sommer riechenden Duft zu inhalieren.
»Du bist kein Ungeheuer, Micina. Dich trifft in diesem ganzen Debakel am allerwenigsten die Schuld.«
Seine grünen Tiefen strahlten derart viel Wärme aus, dass ich ihm fast geglaubt hätte.
»Das sagt derjenige, der sich nach all den Jahren immer noch die Schuld an dem Tod seiner Eltern gibt«, flüsterte ich.
Gabe presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Wie von selbst wanderte meine Hand zu seinem Gesicht und strich mit dem Daumen über seine unendlich weichen Lippen.
»Glaubst du, wir werden uns jemals vergeben können?«
Alles, was ich sehen konnte, waren Gabes wohlgeformte, volle Lippen und sie machten nicht die Anstalten dazu, Worte zu formen. Stattdessen kamen sie meinen immer näher und ich war mir sicher, wenn sie auf meine treffen würden, wüsste Gabe ganz genau, wie heftig mein Herz für ihn schlug.
»Gabriel? Gabriel Delanotte! Dove sei?« Trotz der geschlossenen Tür klang Giulias Stimme, als wäre sie direkt neben uns. Ich erstarrte.
»Santo cielo!«, stöhnte Gabe, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und setzte sich wieder auf die andere Seite des Bettes. »Hier bin ich, Schwesterherz!«
Die Tür wurde aufgerissen und der Wirbelwind namens Giulia stürmte ins Zimmer.
»Morgen ist Party angesagt. Keine Ausreden! Das Thema ist Kings & Queens. Verkleidung ist verpflichtend! Genauso wie Anwesenheit!«
»Giulia, das ist nicht der richtige Zeitpunkt!« Dabei konnte ich nicht genau sagen, ob es Gabe eher darum ging, dass wir mitten im Krieg waren oder weil wir mal wieder kurz vor einem Kuss unterbrochen worden waren.
»Doch, doch, Gabriel. Dieses Jahr kommst du mir nicht davon. Wir alle brauchen mal eine Feier. Vor allem du!« Giulia nickte. Damit war das Thema für sie gegessen. »Wir sehen uns morgen!«
Genauso schnell wie sie ins Zimmer gestürmt war, verließ sie es tänzelnd wie eine angehende Primaballerina.
»Verdammt!«
Ich sah zu Gabe.
»Gib es auf. Gegen Giulia hast du keine Chance.«
»Das ist es nicht.«
Ich starrte ihn aus schmalen Augen an.
»Was ist es dann?«
»Es ist nicht so wichtig.«
»Sag es mir sofort! Du bist es mir schuldig! Und wie du es mir schuldig bist.« Ich sah ihn aus großen Augen an und nickte unablässig, bis mir seine größer werdenden Augen zusicherten, dass er wusste, von welcher peinlichen Situation ich sprach.
»Nur wenn du es nicht weiterverrätst. Es soll schließlich nicht publik werden.«
»Ich schwöre es bei meinen toten Eltern.«
Der Blick, den Gabe mir daraufhin zuwarf, hätte so manche Menschen in die Flucht getrieben. Doch gegen mich hatte er keine Chance. Er seufzte.
»Giulia will unbedingt meinen Geburtstag feiern.«
»Was? Wie jetzt?« Ich rümpfte die Nase. »Ich wollte eigentlich gerade fragen, wie alt du wirst, aber ich glaube, die Antwort ist nicht neunundzwanzig.«
Gabe schmunzelte und starrte mich aus verengten Augen an.
»Ich hoffe, ich lebe noch lang genug, um dir in sechzig Jahren dieselbe Frage stellen zu können. Ich denke, du wirst immer noch wie eine rattenscharfe Mittzwanzigerin aussehen.«
»Was?« Ich schluckte. Darüber hatte ich mir noch keinerlei Gedanken gemacht. Jeder stellte sich im Laufe seines Lebens die Frage: Was willst du für ein Leben gelebt haben, wenn du alt und faltig auf der Verandaschaukel sitzt? Künstler wurden oft erst berühmt, wenn sie starben. Würde für mich dieser Moment vielleicht niemals kommen? Würde ich jemals eine berühmte Künstlerin werden können, wenn ich nach außen hin nicht alterte? Und was ist mit Kindern und Enkelkindern?
Ich spürte Gabes warme Hand an meinem Rücken, noch bevor seine Worte mich erreichten: »Hey, beruhige dich.«
Ich drehte mich zu ihm.
»Ich soll mich beruhigen?« Erst jetzt fiel mir auf, wie hektisch mein Atem kam. »Wie Gabe? Wie soll ich mich beruhigen?«
Meine Frage hatte schon lange nicht mehr nur mit dem Nicht-Altern zu tun. Es war vielmehr eine existenzielle Frage.
Gabes Arme umschlossen mich und zogen mich zu ihm. Ich war es satt, zu kämpfen. Ich ließ zu, dass mein Kopf auf seiner Brust landete und sein Duft mich einlullte. Ich ließ zu, dass seine Finger das Handtuch von meinem Haar entwirrten und seine Lippen an meinem feuchten Haar immer wieder die Worte »Es ist okay« murmelten.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis sich mein Herzschlag normalisierte. Es hätten Minuten, genauso gut Stunden sein können. Doch als ich meinen Kopf von Gabes Brust löste und ihn ansah, lächelte ich.
»Jetzt muss ich dir wohl noch ein Geschenk basteln.«
Gabe lachte und strich mit seinen Knöcheln über meine Wange.
»Ach Micina, es reicht mir schon, dass du bei mir bist.«
Seine Worte lösten etwas tief in mir aus, doch ich wollte nicht zu stark darüber nachdenken. Nicht heute, jedenfalls. Ich zuckte mit den Schulten.
»Na gut, wie du möchtest. So, jetzt musst du gehen. Ich bin müde und ziemlich angetrunken. Und wenn du hierbleibst, werde ich weder ausnüchtern noch schlafen können.«
Gabes melodisches Lachen erfüllte den gesamten Raum.
»Zumindest beim zweiten Teil stimme ich dir zu.« Er zwinkerte.
Ich haute ihm gespielt gegen die Brust. »Du Ferkel!«
Gabe grinste.
»Dann ist zwischen uns alles in Ordnung?«
»Aber sicher doch. Und jetzt raus mit dir, Casanova!« Ich schlug die Decke auf, um ihm den Abgang zu erleichtern. Quälend langsam erhob er sich.
»Dormi bene, Micina.«
Das Ziehen in meiner Körpermitte war kaum zu ignorieren.
»Du auch, Gabe!«
Ich ließ die Gedankenmauer, die ich im Badezimmer zwischen Gabe und mir errichtet hatte, wieder sinken und fügte in Gedanken hinzu: Und hoffentlich nicht bis gleich.
Er schmunzelte und setzte einen Fuß vor den anderen. Vor der Tür hielt er inne. Durch sein T-Shirt konnte ich sehen, wie angespannt er war. Wie muskulös sein Rücken war. Als er sich umdrehte, war sein Blick nicht minder verschleiert, wie meine Gedanken benebelt waren.
»Wenn du mir etwas schenken möchtest, dann einen Tanz. Und zwar in der echten Welt.«
Hallo ihr wundervollen Menschen 🧡
Wir haben endlich mal wieder was von Cassie und Gabe gehabt. Und auch wenn die beiden immer noch nicht zum Zug kommen, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie sich immer näherkommen. Das ist doch etwas Gutes, oder?
Ob es wohl zu einem Tanz kommen wird? Ihr werdet es bald, wenn auch noch nicht im nächsten Kapitel, erfahren 🤭
Ich wünsche euch ein wunderschönes und hoffentlich entspanntes Wochenende 🤗
Eure Kat 🧡
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