Kapitel 1

Goldene, ausgeblichene Sterne auf Kirschbaumholz. Das war das Erste, was meine Augen erblickten, als ich meine Augenlider langsam dazu bewegen konnte, sich zu öffnen. Ein kleine Bewegung mit dem Kopf reichte bereits aus, um eine Welle an Schmerzen durch die Schädeldecke fahren zu lassen. Stöhnend versuchte ich mich aufzusetzen, doch ich scheiterte. Kraftlosigkeit bestimmte meinen gesamten Körper. Obwohl ich wusste, dass es zwecklos war, versuchte ich immer wieder, zumindest meinen Kopf anzuheben. Ich ließ es erst bleiben, als mich der Schmerz fast vollkommen übermannte und wieder in gänzliche Schwärze ziehen wollte.

Mein Brustkorb hob und senkte sich schwer. So trocken wie ich mir die Wüste der Sahara vorstellte, war meine Kehle. Während ich versuchte, meine Atmung zu regulieren, fiel mir auf, wie der Geruch um mich herum den Würgereiz in mir hervorrief. Die Luft war abgestanden und drückte auf mein Gemüt. Die schwere Decke, die meinen gesamten Körper bedeckte, roch nach Schweiß und geronnenem Blut. Außerdem war es unerträglich heiß. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, erneut die Augen zu öffnen, ließ ich es geschehen. Dieses Mal ließ ich meinen Blick von dem Holz über mir zu der Decke gleiten, die meinen Körper bedeckte. Ein dunkelroter Satinbezug war als Bettwäsche genutzt worden. Enorme Holzbalken hielten die Sternendecke aus Holz über mir an Ort und Stelle. Burgunderfarbene Vorhänge, die sich an den Balken entlang schlängelten, wurden von einer Flamme beleuchtet, die aus einem Kamin unweit von dem enormen Bett entfernt flackerte. Eine Bewegung meiner eigenen Hand genügte, um das Feuer, das Licht und somit auch die Hitze, im Kamin zum Erlöschen zu bringen. Schweiß perlte bereits von meiner Stirn und ich musste nicht lange darüber nachdenken, woher dieser widerwärtige Geruch herkam. Ekel über mich selbst ließ mich wieder aufstöhnen.

Was ist bloß passiert?

Als ich meinen Blick weiter durch den nur noch spärlich beleuchteten Raum schweifen ließ, verstärkte sich mein Eindruck, dass hier etwas ganz und gar nicht normal war. Überall um mich herum befanden sich weiße Geräte, die mich stark an eine Krankenhauseinrichtung erinnerten. Von den Maschinen schlängelten sich unzählige, durchsichtige Kabel in jegliche Richtungen. Mit aller Kraft stieß ich die schwere Decke von meinem Körper. Es überraschte mich nicht, als einige der Kabel an den unterschiedlichsten Stellen meines, in einem Krankenhaushemd befindlichen, Körpers endeten.

Langsam wurde mir der Ernst der Situation bewusst. Wenn ich zu Beginn noch ansatzweise gedacht hatte, dass dies nur ein merkwürdiger Traum gewesen sein könnte, dann wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Wie so oft war die Realität schlimmer als jeder Traum, den man sich vorstellen konnte. Instinktiv wusste ich, warum mein Hirn nicht zuließ, dass ich mich erinnerte. Wenn dieses Szenario vor mir die Konsequenz von dem war, was zuvor geschehen war, dann konnte dies nichts Gutes bedeuten.

Ruckartig entfernte ich jegliche Kabel von meinem Körper. Obwohl mich der Schmerz, vor allem in der blau unterlaufenen Armbeuge, fast in die Ohnmacht trieb, konnte ich es nicht länger ertragen, liegen zu bleiben. Während das Blut durch die geöffneten Wunden, wo zuvor die Kabel befestigt waren, munter meinen Körper hinab liefen, schaffte ich es nach einigen Anläufen, mich aus dem Bett zu erheben. Während ich mich an einem der Bettpfosten hochzog, blickte ich geradewegs auf dicke Stoffvorhänge, die mir den Blick nach draußen verwehrten. Schritt für Schritt näherte ich mich meinem Ziel, auch wenn ich einige Male innehalten musste.

Die burgunderfarbenen Vorhänge waren erstaunlich schwer und ließen sich nur mit viel Kraft zur Seite bewegen. Zwei hohe, mit Schnörkeln verzierte Fenster erwarteten mich. Das Glas war beschlagen. Wie von selbst legte sich meine Hand auf das Fensterglas und wischte die Flüssigkeit weg. Graues, tristes Wetter erwartete mich in der tiefsten Nacht, wo vereinzelt Sternenlicht durchdrang. Die Tannen unweit von dem Fenster entfernt waren fast vollends mit Schnee bepudert. Langsam rieselten Flocken hinab und landeten auf dem Fenster, das mich von der Außenwelt abschottete. Im Hintergrund glaubte ich, die Schatten enormer Berge ausmachen zu können.

Ich runzelte die Stirn. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Kopf, der bis in den Nacken reichte. Instinktiv schloss ich die Augen und massierte mir über die knochigen Schultern. Ich war mir ziemlich sicher, dass dieses gesamte Bild, das ich vor mir erblickte, nicht zu dem passte, was ich erwartet hatte. Erneut versuchte ich mich zu konzentrieren, doch keine einzige Erinnerung wollte zu mir durchdringen. Ich kniff die Augen zusammen. Frustration wurde langsam Herr über meinen gesamten Körper. Die Hoffnung, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die dringend benötigten Erinnerungen wieder zu mir durchdringen würden, war das Einzige, was mich vom Schreien abhielt.

Draußen hatte ich genug gesehen. Langsam drehte ich mich wieder dem Zimmer zu und ging auf die mir nächste Tür zu. Mehr als alles Andere wünschte ich mir, den Dreck, Schweiß und das Blut von meinem Körper zu waschen. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich hinter der Tür tatsächlich eine Art Badeoase erblickte. Diese war durchgehend mit weißen Fließen gefliest worden, die mit goldenen Schnörkeln aufgewertet wurden. Eine moderne Dusche, in die mindestens zehn Personen hineingepasst hätten, befand sich zu meiner Rechten. Den Mittelpunkt des Badezimmers bildete eine goldene, freistehende Badewanne. Obwohl ich spürte, wie sehr mein geschwächter Körper sich nach einem wohltuenden Bad sehnte, wollte ich keine weitere Zeit verlieren.

Das Krankenhaushemd, das ausschließlich von einer Schleife an meinem bloßen Rücken gehalten wurde, zerriss ich ohne Bedenken. Bestimmten Schrittes ging ich auf die Dusche zu und stieg schließlich hinein. Sofort lief das kalte Wasser ungehindert und ohne mein Dazutun am Körper hinab. Die Temperatur des Wasser kühlte angenehm meine erhitzte Haut und ließ mich wieder etwas ruhiger atmen. Als ich meinen Kopf nach hinten neigte, bemerkte ich, wie unfassbar schwer mein Haar war. Ich griff hinter meinen Rücken und staunte nicht schlecht, als ich meine nassen Haarspitzen an meinem Steißbein erfühlte. Verwundert ließ ich das erste Mal einen Blick auf meinen Körper hinab werfen. Nicht nur mein Haupthaar war gewachsen. Auch mein restlicher Körper konnte langsam aber sicher mal einer Rasur unterzogen werden. Ein weiterer, näherer Blick nach unten offenbarte Knochen, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Die Beckenknochen bohrten sich dermaßen spitz durch meine Haut, dass ich Angst hatte, jede weitere Spannung würde sie zerreißen. Stirnrunzelnd musste ich feststellen, dass meine Arme ebenfalls kaum mehr als Haut und Knochen waren. Ich glaubte mich daran erinnern zu können, dass dies neu war und nicht zu mir passte. Selbst meine Beine wirkten dünner als jemals zuvor. Ein Blick von meinen Zehen zu meinen Händen offenbarte mir, dass ich mich dringend einer Mani- und Pediküre unterziehen musste.

Die Frage, wie ich es soweit kommen lassen konnte, derart ungepflegt auszusehen, beschäftigte mich mehr, als ich erwartet hatte. Immer mehr Fragen wollten meine Aufmerksamkeit erregen, was mich immer unruhiger werden ließ. Die erhoffte, beruhigende Wirkung der Dusche blieb leider aus. Ich wollte nichts mehr, als wieder aus dieser gläsernen Kammer zu entfliehen. Wie von Zauberhand versiegte der Wasserstrahl, als ich die Duschentür wieder öffnete. Nach einem Handtuch suchend ließ ich meinen Blick durch das gesamte Badezimmer schweifen, nur um festzustellen, das sich nichts dergleichen in diesem befand. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Badezimmer schon lange nicht mehr benutzt worden war.

Die Suche nach dem Handtuch erledigte sich schneller als erwartet, als ich vor mir eine Frau erblickte. Nasse, rötliche Strähnen hingen der mageren Frau über die Brüste bis hin zur Hüfte. Knochen und Haut bedeckten den fragilen Körper, an dem einzelne Wassertropfen hinabperlten. Der Zeigefinger der Frau glitt zu einer der eingefallenen Wangen, die immer noch leicht errötet waren. Alles an diesem Spiegelbild wirkte wie eine Maske. Eine Maske, die ich verkörperte. Ausschließlich die Augen wirkten wie lebendig gewordenes, flüssiges Karamell. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, wie aufbrausend sie wirkten. Wenn ich nur lange genug in diese Augen sehen würde, dann würde ich alle Antworten bekommen, deren Fragen ich noch nicht einmal wusste. Da war ich mir sicher.

Ich konnte nicht genau sagen, wie lange ich die mir fremd wirkende Frau im Spiegel betrachtet hatte. Als ich jedoch das nächste Mal wieder wegsehen konnte, war meine Haut bereits gänzlich getrocknet. Gänsehaut hatte sich über den gesamten Körper gelegt. Ich ging wieder in das Hauptzimmer zurück. In der einen Ecke des Raumes erblickte ich einen Schrank, den ich als nächstes ansteuerte. Der aus Kirschbaumholz bestehende Schrank offenbarte mir eine spärliche Sammlung, die mich nur mäßig zufrieden stimme. Ausschließlich Bettwäsche war darin enthalten sowie ein einziger, noch eingeschweißter, weißer Bademantel. Nach Unterwäsche oder nach irgendwelchen normalen Klamotten suchte ich vergeblich. Seufzend nahm ich den Bademantel heraus und zog ihn über. Das Frottee legte sich unangenehm kratzend über meine Haut, doch es half etwas, um das Zittern meines Körpers im Zaum zu halten.

Obwohl mein Körper sich nach nichts mehr als nach Schlaf und Ruhe sehnte, wollte mein Geist keine Ruhe geben. Die schwere Holztür neben dem Schrank verleitete mich dazu, diese zu öffnen und das zu erkunden, was mich dahinter erwarten würde. Kaum war die schwere Tür hinter mir zugefallen, schon sah ich mich in einem enormen, dunkel gehaltenen Flur stehen. Edler, blauer Teppich war auf dem gesamten Boden verteilt worden, während Wandleuchten etwas Licht spendeten. Wie von selbst bewegten sich meine Füße den Gang entlang, der nur in eine Richtung ging. Alles, was mich erwartete, waren Türen und weitere Lampen.

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, in der ich durch den Gang schlenderte, während ich mich ab und zu an der Wand abstützen musste, um nicht umzufallen. Noch bevor ich das Licht sehen konnte, das durch eine der geöffneten Doppeltüren in den dunklen Flur drang, hörte ich zahlreiche Stimmen. Lachen wie auch einfache Worte entwichen mehreren Mündern, vermischten sich zu einer Kakophonie, die ich nicht zuordnen konnte. Neugier machte sich in mir breit. Zwar konnte ich nicht genau definieren, was ich jeden Moment zu erwarten glaubte, doch ich spürte, dass ich es jeden Moment erfahren würde. Nur noch wenige Schritte trennten mich von dem, was zwischen mir und meinen Erinnerungen stand.

Ich griff nach dem Türrahmen und wagte den ersten Schritt ins Licht. Das Erste, was mir ins Auge fiel, waren drei enorm große, lange Tische, an denen die unterschiedlichsten Menschen saßen und ihr Essen genossen. Viele der Gesichter, die lachten, konnte ich nicht zuordnen. Ich ging einen weiteren Schritt auf die Menge zu. Die ersten Gesichter blickten in meine Richtung und verstummten. Der Geräuschpegel in dem großen Saal wurde immer geringer. Immer mehr der anwesenden Menschen erblickten mich, während mein Kopf schmerzlich versuchte, den Zusammenhang herzustellen.

Wer waren diese Menschen? Was wollten sie von mir? Wieso waren sie derart glücklich, während ich nur Leere in mir spürte?

Eine ganze Weile dauerte es, bis vollkommene Stille in dem Raum eingekehrt war und alle Blicke auf mir ruhten. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass die Menschen in diesem Raum ganz genau wussten, wer vor ihnen stand. Doch noch immer gelang es mir selbst nicht, mich in diesem Kontext zu sehen. Immer hektischer blickte ich mich um, bis ich schließlich in ein Paar brauner, warmer Augen sah, die ich bereits seit meiner Kindheit kannte.

"Opa", formte ich lautlos mit meinen Lippen, während bereits die ersten Bilder vor meinem inneren Auge auftauchten. Mein Opa, wie er Pfannkuchen machte. Wie er mir eines seiner seltenen Lächeln schenkte. Wie wir auf den Treppen vor meinem Zuhause saßen und ich mit verschleiertem Blick auf einen enttäuschten Mann blickte, der die Person vor sich nicht mehr wiedererkannte.

Mein Herz zog sich zusammen. Sofort schnellte mein Blick zu der weißhaarigen Frau neben ihm, die bereits ihre Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Meine Oma sprang von ihrem Stuhl auf und zog meinen Opa hinterher. Obwohl ich sehen konnte, dass sie nichts anderes wollten, als zu mir zu hasten, hielten sie inne. Verwundert darüber blickte ich neben sie, nur um Suz, Max und Stefan zu sehen, die, sobald ich ihnen einen Blick zuwarf, sofort wieder weg sahen. Ich schluckte.

Ich wusste, dass diese drei Personen zu meinen besten Freunden zählten. Eine Erinnerung, wie wir uns gemeinsam bei einer Partie Monopoly die Hölle heiß machten, kam mir in den Sinn. Wie Max und Suz immerzu ihre Hände nicht voneinander lassen konnten. Außerdem erinnerte ich mich auch noch gut daran, wie Stefans Lippen sich auf meinen angefühlt hatten, doch mehr als ein angenehmes Gefühl hinterließ diese Erinnerung nicht. Dass mich diese, mir wichtigen, Menschen keines Blickes würdigten, verwirrte mich.

Auf der anderen Seite, neben meinen Großeltern, erblickte ich ein Paar, das ich kannte, obwohl ich sie noch nie zuvor im realen Leben gesehen hatten. Es war, als wären sie direkt aus dem Bild entsprungen, das ich immerzu in meiner Nachttischschublade aufbewahrt hatte. Ich wusste, das mein Gesicht ihrem einmal sehr geähnelt hatte. Ein Blick auf ihre Hände brachte ein verächtliches Schmunzeln auf meine Lippen. Die eine Hand hatte die Frau mit der Hand ihres Mannes verschränkt, die andere lag geradewegs auf der Hand eines Mannes mit smaragdgrünen Augen, die mich zu durchdringen schienen. Genau diese verschränkten Hände kannte ich aus Erinnerungen, die nicht meine eigenen waren.

Sizilien, schoss es mir durch den Kopf. Dieser Gedanke löste sofort eine Welle von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen in mir aus, die ich nicht länger zurückhalten konnte. Mein Geburtstag in Deutschland. Der verhängnisvolle Brief meiner tot geglaubten Eltern. Meine Reise nach Sizilien. Mein fürchterlicher Abschied mit Gabe. Meine hastige Abfahrt nach Deutschland. Eisblaue Augen. Ein immerzu grinsendes Gesicht. Michail.

Auf einmal wusste ich, warum sich mein Gehirn gegen die Erinnerungen gewährt hatte. Die Angst, innerlich zu zerbrechen, ließ mich meine Arme schützend um den eigenen Körper schließen.

Die Flut an Bildern ließ sich nicht mehr aufhalten. Alles, was ich erlebt und jemals gefühlt hatte, schien jede einzelne Faser meines Körpers zu durchdringen.

"Cassie!"

Im nächsten Moment spürte ich zierliche Arme, die sich um meinen Körper schlangen. Helle Haare verwirrten sich in mein Gesicht. Der Duft, der von der Person vor mir ausging, ermöglichte einen weiteren Anstoß an Bildern, die meinen Kopf durchzuckten. Der Moment, als ich in dem Kerker erwacht war und in ihr engelsgleiches Gesicht geblickt hatte. Eine weinende Frau, die mich enttäuscht musterte. Eine singende Fee, die mich, wie eine Mutter, im Arm gehalten und mir über den Kopf gestrichen hatte, während ich vor Kummer zerging. Meine Kerkerfreundin Ilvy.

Obwohl die Erinnerungen an sich nicht schlimm waren, spürte ich die Galle in mir hochsteigen. Mein Magen begann gefährlich zu rotieren. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, stieß ich Ilvy von mir weg. Auf der Suche nach etwas, worin ich meinen Mageninhalt entleeren konnte, sah ich mich in dem Saal um . Mein Blick fiel auf den halbhohen Schrank hinter mir, auf dem eine leere, große Vase stand. Mir blieb keine Zeit. Ich hastete zu dem Objekt der Begierde. 

Saurer Geschmack kämpfte sich von meiner Kehle in den Mund und, obwohl mein Magen vollkommen leer war, ließ die Säure nicht nach, die sich an die Oberfläche kämpfte. Während ich mich an der Vase festhielt, um bloß nicht den Halt zu verlieren, spürte ich unzählige Blicke in meinem Rücken, die mich durchbohrten. Selbst nachdem das Würgen nachgelassen hatte, brachte ich es nicht sofort fertig, mich wieder den anderen zu widmen. Erst eine Hand auf meiner Schulter ließ mich wieder einen Blick in die Menge wagen.

Ausnahmslos alle Blicke waren auf mich gerichtet. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so entblößt gefühlt. Meine Arme schlangen sich automatisch um meine Hüften, um jegliche Einblicke in mein zerbrechliches Inneres zu unterbinden. Es gab nur eine Sache, die ich mehr wollte, als für immer diesen mitleidsvollen Blicken zu entweichen. Antworten.

"Warum sehen sie mich alle so an, als wäre ich ein Dinosaurier?"

Mein Blick ruhte neugierig auf Ilvy, die wiederum überall hinsah, nur nicht zu mir. Sie ließ sich Zeit, bis sie sich eine zufriedenstellende Antwort zusammengereimt hatte und ihre tiefblauen Augen wieder in meine blickten.

"Mal ganz abgesehen von deinem Auftritt während der Jahreszeremonie, warst du eine Weile lang nicht mehr bei uns."

Ich kniff meine Augen zusammen und musterte die elfengleiche Frau neugierig.

"Ilvy..."

Mein Anstoß, sie zum Reden zu bewegen, schien nicht gefruchtet zu haben. Ihr Blick huschte zu etwas hinter mir, nur um dann zu erwidern: "Dir ist schon bewusst, dass du dich gerade in eine Ming-Vase übergeben hast?"

Ich trat einen Schritt näher auf sie zu, während meine Augen mittlerweile zu Schlitzen verengt waren. Mein Desinteresse an dieser Vase hätte nicht größer sein können.

"Ilvy...", murmelte ich und ging noch näher auf sie zu, während sie einen Schritt zurücktrat.

Beschwichtigend hob sie die Hände. Obwohl ich ihr ansehen konnte, dass sie die nächsten Worte nicht gerne sagen wollte, würde ich sie nicht davon kommen lassen.

"Schon gut, schon gut... Du warst über zwei Monate im Koma."

Meine Augen weiteten sich. Meine Kehle fühlte sich noch trockener als zuvor an.

"Was?", krächzte ich entsetzt, jedoch mehr zu mir selbst. "Wie ist das möglich?"

Ich wusste von einer Dokumentation, die ich einmal gesehen hatte, dass der Muskelschwund bei Menschen bereits nach zwei Wochen einsetzte und ein Lauftraining unumgänglich war, um nach einem solch langen Koma überhaupt wieder am Leben teilnehmen zu können. Obwohl ich zugegebenermaßen nicht mehr als Haut und Knochen war, konnte ich noch hier stehen. Und mich bewegen. Kopfschmerzen drohten, mich wieder in die Ohnmacht zu schicken, die mich sehnsüchtig erwartete.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie vereinzelte Personen von den Sitzbänken auf mich zugingen. Obwohl mein Körper zitterte und merklich mit Überforderung kämpfte, brachte ich noch folgende Worte zustande.

"Kommt mir nicht zu nah!"

Ein Blick zu der Menschenmenge bescherte mir den nächsten, kurzzeitigen Herzstillstand. Blaue Iriden aus einem kantigen Gesicht sahen mir entgegen und erinnerten mich an einen eiskalten Mann, der mir das Leben zur Hölle gemacht hatte.

Dimitri.

Ich erinnerte mich an einen wütenden Dimitri im Ring, der von meinem Feuerkreis umzingelt war. Ein mit mir tanzender Dimitri, der mich mit reinen Worten zur Weißglut getrieben hatte. Der feuchte Kuss, den er mir gestohlen hatte. Und das selbstgefällige Grinsen, als ich nur noch ein Häufchen Elend gewesen war.

Das kann nicht wahr sein!

Meine Füße bewegten sich, noch bevor ich ihnen bewusst den Befehl dazu gegeben hatte. Meine Augen fixierten den blonden, hochgewachsenen Mann, der mir nichts als Leid gebracht hatte.

Wie der Vater, so der Sohn!

Ich konnte genau beobachten, wie sein Adamsapfel sich bewegte, als er schluckte. Er wusste, dass er für das bezahlen würde, was er mir angetan hatte. Nur war ihm noch nicht bewusst, wie hoch der Preis dafür sein würde. Seine Hände hoben sich abwehrend und er machte einen Schritt nach hinten.

"Cassandra, ich bin auf eurer Seite."

Noch bevor er einen weiteren Satz herausbringen konnte, hatte sich meine knochige Hand um seine Kehle geschlungen. Obwohl ich außer Kraft war und jeder einzelne Muskel in meinem Körper ächzte, hob ich ihn empor, bis nur noch ein Röcheln aus seiner Kehle zu hören war.

"Du mieser, kleiner Wichser", spie ich ihm entgegen.

"Cassandra..."

Ein Blick zu meiner Linken genügte, um zu wissen, dass es Lians warnende Stimme gewesen war. So ruhig wie eh und je stand er dort, während er die Szenerie vor sich mit Argusaugen beobachtete. Doch alles, was ich tief in meinem Inneren spüren konnte, war Wut, Schmerz und Trauer. Und wenn Lian nicht Teil dessen werden wollte, musste er sich hüten!

"Geh mir sofort aus dem Weg oder ich schwöre dir, du verlierst dein Augenlicht schneller, als du blinzeln kannst", spie ich ihm entgegen, während mein anderer Arm bereits zu zittern begann. Das Röcheln von Dimitris Kehle war das Einzige, das die Stille im gesamten Raum durchdrang.

Meine volle Konzentration würde nun wieder vollkommen Dimitri dienen, was mir ein kleines Lächeln auf die Lippen zauberte. Die Macht durchflutete meinen Körper. Ich fühlte mich unbesiegbar. Und immer noch war ich außer mir vor Wut, was für Dimitri kein gutes Zeichen war.

"Wer hat dich geschickt, du kleine Ratte? Bist du hier, um mich weiter zu foltern? Sprich!"

Mit einem Satz ließ ich ihn wieder auf die Füße kommen, doch nicht bevor ich ihm einen saftigen Hieb in den Bauch verpasst hatte. Sofort beugte sich Dimitri nach vorne und hustete, bis das Blut auf den weißen Marmorboden spritzte. Er saugte nach Luft wie ein gestrandeter Fisch, was in mir tiefe Genugtuung wachsen ließ.

"Ich schwöre dir, ich habe mich geändert", röchelte er hervor, als er wieder genug Sauerstoff in den Lungen gesammelt hatte. In seinen blauen, rot unterlaufenen Augen hatten sich bereits Tränen angesammelt. Wie ein Häufchen Elend kniete er vor mir, konnte mir nicht länger in die Augen sehen.

"Cassie, es stimmt. Er ist auf unserer Seite", vernahm ich Ilvys ängstliche Stimme, die direkt hinter mir war.

Mein Körper zitterte wie Espenlaub, während ich beobachtete, wie die Flammen an meinen Händen unkontrolliert wuchsen und in der nächsten Sekunde wieder verblassten.

"Cassandra, beruhige dich! Du musst zu Kräften kommen!", befahl Lians Stimme hinter mir. Eine Hand legte sich bestimmend auf meine Schulter. Ich verdrehte genervt die Augen. Ich hatte es dermaßen satt, mir ständig irgendwelche Befehle erteilen zu lassen. Ruckartig drehte ich mich zu meinem ehemaligen Lehrer herum und kam ihm derart Nahe, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte.

"Ich möchte mich jetzt aber nicht beruhigen", hauchte ich ihm entgegen.

Mein Zeigefinger ging langsam zu seiner Stirn empor und drückte einige Male fest dagegen.

"Geht das da oben, in deinen beschissenen Kopf, hinein?"

Die einzige Reaktion, die Lian mir schenkte, war Ruhe, was mich nur noch wütender stimmte. Ich hörte meinen Atem, spürte den Puls in meinen Ohren. Doch außer meinem eigenen Atmen und Dimitris Röcheln war es immer noch still. Ich ließ meinen Blick durch die Menge schweifen. Pure Furcht war in sämtlichen Gesichtern zu lesen. Fast alle waren einige Schritte zurück gewichen. Es war, als hätte jemand den Vorhang vor meinen Augen fallen gelassen.

Dieses Szenario kam mir bekannt vor. Ich wusste noch ganz genau, welche Blicke Karina von jeder einzelnen Person im Raum abgewinnen konnte. Auch konnte ich mich wieder sehr gut daran erinnern, wie die Furcht durch meine Adern gefahren war, als ich Michail nur im Entferntesten erspäht hatte. Diese Blicke hatte ich für die zwei schlimmsten Personen in diesem Universum übrig gehabt.

Jetzt war ich diejenige, auf der diese Blicke ruhten.

Ich sah zu meinen Händen hinab, die nichts als Leid vollbracht hatten.

Es war zu viel. Stumme Tränen flossen bereits ungehindert über meine Wangen. Meine Hände griffen um meinen Kopf, um das Leid darin zu dämpfen. Doch es funktionierte nicht. Wieder spürte ich zwei Hände auf meinen Schultern, deren Nähe ich nicht länger ertragen konnte. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich zur Tür. Ich musste hier raus!

Doch bevor ich den Saal hinter mir ließ, musste ich noch eine letzte Sache erledigen. Langsam drehte ich mich zu der immer noch stummen und verängstigten Menschenschar. Ich würde es nicht zulassen, dass mir noch einmal jemand in die Nähe kommen und sich selbst in Gefahr bringen würde.

"Wenn auch nur einer von euch auf die Idee kommen sollte, mir zu folgen, mache ich demjenigen Feuer unter dem Hintern. Das schwöre ich bei meinem eigenen, beschissenen Leben!"

Hallo zusammen,

unsere Cassie war also zwei Monate lang weg. Da kann sehr viel passiert sein. Was das wohl für den weiteren Verlauf der Geschichte bedeutet? Und was hat das mit der versammelten Menschenmenge zu bedeuten?

Wir werden es bald erfahren.

Eure federwunsch ❤️

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