Die Macht der Bilder


Bestes Sommerwetter herrschte in der Mainzer Altstadt, aber Phoebe hielt sich lieber in ihrer alten Studentenbude auf und war, wie meistens, ganz mit sich allein, führte Selbstgespräche.

Bei dieser Hitze trug sie lediglich ihre kleine Tangahose und genoss die Nacktheit. So konnte sie selbst den einen oder anderen Blick auf die farbigen Rock & Roll Tattoos werfen, mit denen ihr zierlicher, knabenhafter Körper übersät war. E-Gitarren, Zitate aus ihren Lieblingssongs, ein flammendes Herz, ein Anker und ein Kreuz, Falling Stars und Tumbling Dice gehörten dazu, vor allem aber ein farbiges Porträt ihres Idols.

Blonde Locken, strahlend blaue Augen und ein Blick, der aus einer anderen Galaxie unsere kleine Welt mit einem milden Lächeln zu streifen schien, mit einem Ausdruck, der alles verstand und alles verzieh. Ein in der Szene gefeierter Ink Artist hatte sich damit selbst übertroffen und Frank, dessen Name darunter stand, auf Phoebes Haut als buntes Bildchen zum Leben erweckt.

"Frank, was hast du mit mir gemacht? Was hast du aus mir gemacht?"

Diese Fragen stellte sich Phoebe, das schwarze Schaf aus einer angesehenen Wiesbadener Unternehmerfamilie, in letzter Zeit immer häufiger. Zweiunddreißig war sie letzte Woche geworden und immer noch saß sie hier in diesem Zimmer, dessen Wände Bilder und Fotos des Stargitarristen Frank zierten. Ihr Leben bestand darin, ihm von Konzert zu Konzert, von Auftritt zu Auftritt zu folgen. Ihre Berufung war, Fan zu sein, mit Leib und Seele und aus tiefstem Herzen.

"In der Schule galt ich als hochbegabt, habe eine Klasse übersprungen, mit siebzehn das Studium aufgenommen. Philosophie, Germanistik, Ethnologie, Kunstgeschichte, so vieles habe ich probiert und bin schließlich bei den Musikwissenschaften gelandet. Nun ist meine Promotion endlich abgeschlossen, das Rigorosum erfolgreich absolviert. Frank wird stolz auf mich sein."

Kein Mensch hält solche Vorträge nur für sich selbst, Phoebe schon, sie, die endlose Stunden damit verbringen konnte, Bilder von Frank zu betrachten, nicht nur von Frank, sondern auch von seiner Gitarre, einer legendären Les Paul, ganz in schwarz. Der Mann und sein Musikinstrument, beides war für sie untrennbar und die Gitarrensoli, mit denen er berühmt geworden war, lieferten den Soundtrack ihres einsamen Lebens.

Morgen würde Franks großer Auftritt in seiner Heimatstadt Frankfurt auf der Waldbühne stattfinden, dem Stadion, das für Phoebe immer noch den alten Namen trug, obwohl es inzwischen längst anders hieß. Nach dem Konzert würde sie ihm ihre gebundene Dissertationsschrift überreichen:

"Die E-Gitarre in der Rockmusik am Beispiel der Gibson Les Paul und des Musikers Frank."

Die schlichte Sachlichkeit und Klarheit dieses Titels überwältigte Phoebe jedes Mal wieder. Einen musikwissenschaftlichen Meilenstein hatte sie setzen wollen und nur Frank selbst konnte entscheiden, ob es ihr letzten Endes gelungen war.

Laut las sie sich einige Abschnitte aus einem der ersten Kapitel vor:

"Ein Zitat sagt oft mehr aus als umständliche Erläuterungen. 'Wie Sie sehen können, bin ich keine Gitarre!', mit solchen Worten konnte der Jazz-Musiker Les Paul in den späteren Jahren seiner Karriere das Publikum erheitern, denn die Gibson Les Paul war möglicherweise berühmter und bekannter geworden als der Mann, auf dessen Ideen und Entwürfen sie basierte.

1915 unter dem wenig bühnentauglichen Namen Lester William Polsfuss ins Leben getreten, begann er bereits als Kind, sich der Musik zu widmen und landete schließlich bei der Gitarre. Für den amerikanischen Kleinstadtjungen aus Wisconsin fing alles mit der Countrymusik an, aber dabei sollte es nicht bleiben.

Seiner späteren Frau, Iris Colleen Summers, verpasste er den eingängigen Künstlernamen Mary Ford. Sie besaß genau die Stimme, welche perfekt zu seinem Gitarrenspiel passte, und trug entscheidend zum Erfolg der beiden mit unvergesslichen Titeln wie 'The World is Waiting for the Sunrise' oder auch 'How High the Moon' bei. 'I'm Sitting on Top of the World' und 'Vaya Con Dios' sowie 'Bye Bye Blues' müssen ebenfalls erwähnt werden." 

Les Paul und Mary Ford, ein Musiker und eine Sängerin, für sie ein unerreichbarer Traum, denn Phoebe kann nicht singen. In ihrer Kindheit hatte man es ihr sogar verboten, weil sie keinen einzigen richtigen Ton traf. Niemals wird Frank sie auf der Gitarre begleiten und sie spielt auch kein Instrument so gut, dass sie gemeinsam musizieren könnten. Desto mehr bewundert Phoebe den epochalen Künstler, der Frank in ihren Augen ist. Ihr selbst gelingt der Zugang zur Musik nur über die wissenschaftliche Schiene. Immerhin das hat sie mit ihrer Doktorarbeit beweisen können, aus der sie jetzt den nächsten Abschnitt laut vorträgt, allein für sich:

"94 Jahre waren dem Ausnahme-Gitarristen, der zugleich ein begnadeter Bastler und Tüftler war, vergönnt. Er experimentierte mit innovativer Aufnahmetechnik und entwickelte Prototypen von E-Gitarren. Der Hersteller Gibson brachte schließlich die nach ihrem geistigen Vater benannte Les Paul auf den Markt, deren warmer und voller Klang Künstler wie Jimmy Page, Jeff Beck, Peter Green, zeitweise auch Eric Clapton und George Harrison, Carlos Santana und Slash, um nur einige zu nennen, zu musikalischen Höchstleistungen inspirierte."

Alle hier genannten Künstler mussten sich, wollte man Phoebe glauben, ganz hinten anstellen, wenn ihr Idol Frank zur Les Paul griff und eines seiner legendären Soli zelebrierte. Morgen würde er wieder einmal die Frankfurter Waldbühne zum Beben bringen.

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