Kapitel 5

Schatten führte Rauch in die Richtung des Bachs, doch weiter, sodass der Weg durch Steine ersetzt wurde. Auf den Steinen wuchs weiches, feuchtes grünes Moos und lauter kleine, weiße Schneeglöckchen. Rauch stolperte ein paar Mal, weil er auf den langen Schwanz der Maus trat und staunte, als er die Umgebung näher betrachtete. Beinahe ließ er seinen Fang fallen, so sehr verzauberte ihn die Aussicht.

"Wir kommen jetzt zur Quelle des Bachs. Dort habe ich eure Mutter kennengelernt", flüsterte Schatten verträumt. Rauch sah sich um. Er sah seine Familie nicht. "Wo sind sie denn?" Schatten setzte sich und leckte sich die Pfote. "Sie werden gleich kommen. Nur Geduld."
Rauch legte die Maus ab und wartete aufgeregt. Während er sich die Umgebung einprägte, kam ihm wieder die Bilder aus seinem Traum in den Sinn. Er schauderte. Schatten schien das bemerkt zu haben. "Was ist los?", fragte er und sah Rauch in die Augen.
Sollte er es ihm erzählen? Rauch war sich unsicher. Er trat von einer Pfote auf die andere. "Du musst es mir nicht erzählen, wenn du es nicht möchtest." Schatten legte seinen Schwanz auf die Schulter seines Jungens. "Ich habe geträumt", fing Rauch an, nachdem er einmal tief eingeatmet hatte. "Ach, das ist käferhirnig", meinte er dann. Schatten sah ihm noch immer in die Augen. "Geträumt? Wovon?", fragte der schwarze Kater ernst, als Rauch abbrach. Schatten legte sich vor ihm hin. "Ich träume auch oft. Träume sind wichtig. Einige zeigen dir, was du schon gelernt hast, einige, was du noch lernen musst. Träume zeigen, was du dir am meisten wünscht oder wovor du am meisten Angst hast. Und dann sind da noch die, die dir zeigen, was in der Zukunft passieren wird. Also los, möchtest du mir erzählen, was dich bedrückt?"

Ohne nachzudenken fing Rauch einfach an, zu erzählen. "Ich habe geträumt, ich wäre auf einer Lichtung, aber alles um mich herum war still. Als wäre der Wald stumm. Dann..." Plötzlich fegte Wind durch die Äste der Bäume und ließ Blätter zu Boden fallen. Rauch verstummte kurz, da das Rauschen seine Stimme übertönte. "Ich bin erste!", quiekte eine Stimme aus dem Wald zu ihnen hinüber. Kurz darauf preschte Qualm zwischen den Bäumen hervor, die die Quelle verbargen. 
"Och. Doch nicht erste", murmelte sie laut genug, dass die beiden Kater es hören konnten, und blieb kurz stehen. Ihre Augen blitzten und plötzlich sprang sie die letzten Schwanzlängen zu ihnen hinüber. "Wow! Du hast deine erste Maus gefangen! Wie hast du das gemacht? Ich war nicht so gut. Aber warte mal ab, was Mama gefangen hat! Wolke hat es auch probiert, aber -", sprudelte es aus Qualm heraus, bis Schatten ihr den Schwanz auf den Mund legte. "Denkst du nicht, Wolke möchte das selber erzählen?", fragte er liebevoll. Qualm nickte. "Oh, natürlich."
Wolke und Quelle standen bereits hinter der kleinen Kätzin und ließen ihre Beute fallen. Rauch staunte. Einen so großen Vogel hatte er noch nie gesehen! Daneben lag ein kleiner, brauner Spatz, den Wolke gefangen hat. "Das ist eine Möwe. Sie leben häufig in der Nähe von Wasser", erklärte Quelle mit ruhiger Stimme. Rauch legte bewundernd den Kopf schief. "Er ist riesig!" Wolke plusterte sein Fell auf. Jetzt sah er wirklich wie eine flauschige Wolke aus. "Hallo! Und ich habe einen Spatz gefangen! Meine erste Beute, die war so flink! Es war eine Mühe, den zu fangen." Schatten und Quelle nickten mit großen Augen, sodass es nicht wirklich ernst gemeint herüber kam. Rauch lachte. "Meine Maus war auch nicht leicht zu fangen", meinte er. Zwar hatte er keine große Mühe gehabt, doch trotzdem war er sehr aufgeregt und irgendwie wollte er sich auch vor seinen Geschwistern beweisen. Qualm seufzte. "Toll, und ich hab keine erwischt!" Schatten leckte seiner Tochter über den Kopf und miaute: "Keine Beute ist leicht zu fangen. Vielleicht hast du nächstes Mal mehr Glück." Dann legte er sich vor den dreien auf den Boden. Quelle stimmte zu, indem sie nickte. Dann fragte sie: "Habt ihr euch denn für das Leben bedankt?" Wolke nickte. Rauch bekam einen Schreck. Hatte er das? Schnell schloss er die Augen und bedankte sich still für das Leben der Maus. Dann nickte auch er. Qualm wurde unruhig. "Wieso muss man sich denn bedanken?", fragte sie und tippelte mit den Vorderpfoten auf den Steinen herum.
Quelle antwortete mit sanfter Stimme: "Durch jedes Leben, das genommen wird, kann ein anderes weiter bestehen. Wir bedanken uns dafür, dass sich dieses Leben für unseres aufopfert." Qualm, Wolke und Rauch nickten ernst. Sie hatten es verstanden.
"Lass uns unsere Beute nehmen und sie nach Hause tragen", entschied Schatten und stand auf. Er nahm die Möwe, um Quelle die große Last abzunehmen, und Quelle nahm die Beute ihre Jungen auf. Rauch war insgeheim froh darüber, da er sonst andauernd aufpassen musste, nicht über den langen Schwanz zu stolpern. Die drei hüpften hinter ihren Eltern her und die Sonne ging gerade unter, als sie ihr Zuhause erreichten.
Der Himmel war in sanftes Rot getaucht und die Wolken schimmerten gelb.

"Na dann, auf ein Festmahl!", schnurrte Schatten mit rumpelnder Stimme und sah auf die erlegte Beute hinab. Sie saßen in dem großen Raum der Ruine, vor ihnen die Möwe, der Spatz und die braune Maus. Die Katzen saßen im Kreis vor den erlegten Tieren.
Rauch fand seine Maus unbeschreiblich lecker. Doch als er die Möwe probierte, kräuselten sich seine Lippen. "Die schmeckt ja komisch!", gab er von sich. "Lass mich auch mal!", quiekte Qualm und schob Rauch zur Seite. Sie nahm einen Bissen und war sofort begeistert. "Ich weiß nicht, was du hast", sagte sie mit vollem Mund. Kurz darauf schob Rauch die Überreste seiner Maus von sich und miaute: "Ich weiß, was ich nicht mehr habe - Hunger!" Der kleine graue Kater fühlte sich überfüllt. So lecker war noch keine Beute gewesen. "Selbst gefangene Beute ist immer noch die beste!", miaute Wolke zufrieden. Qualm schlug ihn mit der Pfote weg. "Das stimmt", bestätigte Rauch lachend und zog Qualm damit noch mehr auf. "Genug", miaute Schatten streng und trieb die drei auseinander. "Jetzt wird geschlafen. Es ist spät."
Rauch spürte erst, wie müde er eigentlich war, als er darüber nachdachte. Er tappte zu seiner Mutter, die schon auf ihrem Schlafplatz lag und kuschelte sich an ihren Bauch. Seine Geschwister folgten ihm und hüllten ihn ein in eine wohlige Wärme. Schnell war Rauch eingeschlafen.

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