Kapitel 11
Rauch wusste nicht, wo er war und was ihn geweckt hatte. Er spürte das Wasser noch immer an seinen Pfoten entlangfließen und nach einiger Zeit bemerkte er, wie kalt ihm war. Als er sich aufrappeln wollte, musste er husten und ein Schwall Wasser entrann seiner Kehle. Es ging dem kleinen Kater miserabel. Mit zitternden Beinen und hängenden Ohren stand Rauch auf, zog sich vom Ufer auf das sichere Land. Dann setzte er sich vorsichtig auf und sah sich um. Wo war er? Nichts kam ihm bekannt vor. Sogar die Gerüche schienen anders zu sein. Er war dort gestrandet, wo der Fluss seichter wurde und in einen See mündete. Um ihn herum war so viel Schilf, dass er gar nicht sehen konnte, wie groß dieser See überhaupt war. Rauch schob sich den kleinen Hügel hoch, an dem er stand und erkannte, dass dahinter eine gelblich-grüne Wiese lag, mit gelben und lila Krokussen übersät, und weit in der Ferne fing ein Wald an. Da hin?, fragte sich Rauch, der plötzlich erneut ziemlich müde wurde. Er sah sich um, doch an diesem Ort konnte er weit und breit keine Möglichkeit erkennen, sich irgendwo ein Nest zu bauen, das geschützt vor Feinden war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Nacht, die bestimmt bald hinein brach, im Schilf zu verbringen. Oder war die Sonne gerade erst aufgegangen? Da er nicht wusste, wie lange er bewusstlos gewesen war, wo er sich nun befand und wie weit seine Familie von ihm entfernt war, traute sich Rauch nicht einmal, nach ihnen zu rufen. Quelle hatte ihm einmal erklärt, dass dort draußen unzählige Gefahren für ein Junges lauerten, weshalb es niemals laut und kläglich um Hilfe rufen sollte. Oh, wo bin ich nur gelandet?, fragte sich der junge Kater im Stillen. Tränen stiegen ihm in die Augen und er musste ein Schluchzen unterdrücken. Schwach setzte er sich in den Schilf und wartete darauf, dass der Tag endete. Seine Gedanken schweiften ab zu seiner Familie und die letzte Nacht, an die er sich erinnerte. Qualm hatte gesagt, es würde alles wieder gut werden. Doch jetzt?
Warum musste Rauch auch nur in den Fluss fallen? Er hatte nun alles verloren. Der kleine Kater dachte an die Zeit, in der die drei Geschwister in der alten Ruine, ihrem Zuhause, gespielt hatten, zusammen mit Schatten und Quelle, ihr gemeinsames Jagd- und Kampftraining, wie sie alle zusammen gelegen haben, Fell an Fell, schnurrend und liebkosend. Nun gab es die kleine Familie nicht mehr. Vorbei, alles zerstört. Und während der Mond am dunkler werdenden Himmel aufging, weinte Rauch leise vor sich hin.
Am nächsten Tag hatte sich Rauch auf den Weg zum Wald gemacht. Beinahe den ganzen Tag hatte er gebraucht, bis er im abendlichen Dämmerlicht die Wurzeln des ersten Baumes mit den Pfoten berührte. Müde und kaputt setzte er sich darauf und sah zurück auf die Strecke, die er zurückgelegt hatte. Er dachte an den Grashüpfer, den er unterwegs als einzige Beute gefangen hatte und sein Bauch fing erneut an zu knurren. So langsam kam Rauch ans Ende seiner Kräfte, das bemerkte er. Seine Pfoten und Beine zitterten, der Kopf war schwer und das Schwänzchen schleifte er über den Boden, während er sich umdrehte und im Unterholz des Waldes verschwand.
Ein Mond verging, und Rauch hatte sich in der Zeit an die Jagd alleine gewöhnt, doch nicht an das Alleinsein. Nachdem er im Wald angekommen war, hatte er ein paar Tage und Nächte gebraucht, bis er sich in sein neues Leben halbwegs eingefunden hatte. Doch es fehlte ihm ein festes Nest. Rauch hatte sich schon beinahe damit abgefunden, jeden Tag auf der Suche nach einem neuen Unterschlupf Ausschau zu halten, bis er eines Tages nahe einer Lichtung einen verlassenen Kaninchenbau fand. Nachdem er gründlich untersucht hatte, dass der Bau auch wirklich leer stand, nistete er sich dort ein. Dort war er geschützt vor jeglichen Gefahren wie Füchsen und auch vor dem Regen konnte er flüchten. Noch immer dachte er viel an seine Familie und nahm sich vor, sie zu suchen, sobald er größer geworden war. Und vor allem stärker - denn Rauch hatte sichtlich und spürbar abgenommen. Seine Rippen stachen deutlich hervor und jede längere Unternehmung forderte mehrmalige Pause, da Rauch kaum Ausdauer dafür hatte.
Einmal weckte ein Kratzen über seinem Bau den jungen Kater, und Rauch wollte wissen, was das war. Sofort hatte sein Jagdtrieb ihn nach draußen geführt und der Graue sah sich um. Mit gespitzten Ohren und weiten Pupillen nahm er jede Bewegung und jedes Geräusch wahr und Rauch erkannte schnell, dass es ein Eichhörnchen war, welches Samen am nächsten Baum vor ihm knabberte. Immer wieder kratzte es am Boden, fraß und wiederholte dies einige Male. Dabei zuckte der rote, buschige Schwanz immer wieder, was Rauch als noch einladender empfand. Er schlich sich an und blieb einige Schwanzlängen vor dem roten Nagetier stehen. Sein Herz klopfte so laut, dass er dachte, die Beute würde es schlagen hören, doch es knabberte ruhig weiter. Noch zwei, noch eine Schwanzlänge... Rauch spannte seine Muskeln an und in diesem Moment sprang das Eichhörnchen einen Schritt zur Seite, weshalb es den Kater sehen konnte. Käfermist! So schnell Rauch konnte, sprang er nach vorne, der Hunger trieb ihn an. Er erwischte es beim buschigen Schwanz und das Tier kippte zur Seite. Zwar wehrte es sich heftig, doch der Hungerschmerz im Bauch des Grauen stach so sehr, dass er zügig zubiss und dem Eichhörnchen somit schnell das Leben nahm. "Ich danke dir für dein Leben, welches du ließest, um mich mit deinem Fleisch am Leben zu halten", murmelte Rauch leise, aber glücklich, während er das Tier, welches beinahe so groß war wie er selbst, zu seinem Bau zurück zerrte.
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