Prolog

Langsam klärte sich der Schleier, der über seinen Augen lag, doch stimmte ihn das keineswegs fröhlich. Dessen Verschwinden würde etwas anderes, was er nicht willens war zu sehen, wieder in sein Bewusstsein drängen. Der Junge würde am liebsten nie mehr aus diesem lockenden, umhüllenden Rot auftauchen, verhieß es doch Vergessen und dies wollte er, mehr als alles andere. Vergessen wollte er, wie lange er schon hier war und was er hier tagein, tagaus anrichtete. Das Geräusch eines dumpfen Aufschlags riss ihn aus seinen Gedanken.

Deswegen wollte er vergessen, dachte er. Schmerz. Wegen diesem kleinen Bündel, welches nun dort vor ihm auf dem dreckigen, mit Stroh bedeckten Boden kauerte. Mit noch verschleiertem Blick studierte er abwesend seine Hände, welche das Bündel zu Boden brachten, und senkte sie zögernd. Fast augenblicklich nach dem Aufschlag näherten sich die Schritte eines Mannes, die aber langsamer wurden, je näher sie der Zelle kamen. Fast schien es, als wollte der Mann umkehren, doch da schloss er schon die schwere Eisentür auf und trat ein. Seine Atmung und sein Herzschlag beschleunigten sich drastisch. Er hatte Angst, bemerkte der Junge, nun vollkommen aus seiner Starre erwacht. Vielleicht sollte er seiner Wache einen berechtigten Grund dafür geben...

Langsam, lautlos schlich er, so weit, wie es seine Fußfessel erlaubte, an ihn heran. Freudig begrüßte er das zaghafte Aufwallen des Schleiers. Er hatte schon lange aufgehört, sich gegen ihn zu sträuben, wenn dieser an die Oberfläche seines Bewusstseins trat und dieses übernahm. Es befreite, machte Spaß. Die Wache hatte eine Lektion dafür verdient, dass man ihn hier in diesem Raum aus immerzu feuchten und glitschigen Stein gefangen hielt. Nun würde er sie ihm erteilen. Doch gerade, als er ihn fast erreichte, seine Hand ausstreckte,

Spaß. Spaß. Spaß. Alles würde rot werden. Rache. Rot. Rot wie der Schleier.

da fing das auf dem Boden liegende Bündel zu wimmern an und wälzte sich umher. Schlagartig verflog der rote Schleier, überließ ihm wieder die Kontrolle, nur um zu einem späteren, passenderen Augenblick die Führung zu übernehmen. Es schüttelte ihn, die Erinnerungen an die letzten Stunden kehrten zurück. Wie aus einem Traum erwacht, zog er seine Hand zurück, lief, während die Wache das Bündel aufhob und leise darauf einredend den Raum schnellen Schrittes verließ, rückwärts der Wand entgegen und rutschte, an dieser gelehnt, zu Boden.

Wache und Bündel waren schon lange verschwunden und der Angekettete hockte, das Gesicht in den Händen vergraben, noch immer dort und dachte an den Anfang seiner Gefangenschaft zurück.

Verletzt und dreckig wurde er damals in diese Zelle geführt, war verängstigt und schwankte zwischen Besinnungslosigkeit und Panik. Verflucht und als Monster beschimpft hatte er diejenigen, die ihn hierher brachten. Lange Zeit bekam er keine Nahrung und mit jedem Tag, der verstrich, fühlte er sich dem Tod etwas näher. Der Schleier, den er seit frühester Kindheit zu bändigen wusste, gewann immer mehr Macht über ihn, je mehr Hass und Verzweiflung sich in ihm aufbaute. Als hätten seine Wachen, die sich normalerweise die Zeit mit Kartenspielen und Saufen verkürzten, nur darauf gewartet, führten sie gleich, als der Junge den Kampf gegen den Schleier verlor, ein kleines Kind in die Zelle. Es weinte, schrie so laut, als es zu ihm gezerrt wurde, als würde es ahnen, was gleich mit ihm geschehen würde. Dieses Schreien war das Letzte, was der Junge bewusst in dieser Nacht wahrnahm, ab dann verblassten die Erinnerungen. Spaß. Doch dieses Schreien hörte er auch in diesem Moment, es begleitete ihn in jeder wachen Minute und bedeutete für ihn, dass er damals Unrecht hatte. Nicht die Wachen waren die wirklichen Monster, sondern er.

Die Zeit verstrich. Wie lange er zusammengekauert an der Wand hockte, wusste er nicht. Erst, als etwas Warmes über sein Augenlied lief, schien er wieder aus seiner Lethargie zu erwachen. Es dauerte einige Sekunden, bis er merkte, dass die Ursache dafür seine Fingernägel waren, welche er so tief in die Haut über seinen Augen gegraben hatte, dass Blut wie ein kleines, warmes Rinnsal über sein Gesicht lief. Nachlässig wischte er es ab, verteilte es so wahrscheinlich nur noch mehr.
Es störte ihn nicht.
Seine Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Irrte er sich? Nein, ausgeschlossen. Es näherten sich wieder Schritte. Diesmal schienen es aber drei Wachen zu sein. Was wollten sie schon wieder? Das Gesicht erneut in den Händen vergraben, wartete er, bis sie die Tür aufschlossen. Sie rochen nach frischem Blut, anscheinend hatten zwei der Wachen Verletzungen. Ihn interessierte es nicht, nur erfassen tat er es automatisch, speicherte es ab. Alles Wissen konnte irgendwann von Nutzen sein. Als die Tür aufgezogen wurde und Licht den Raum seit langem einmal wieder erhellte, ließ er langsam die Hände vom Gesicht gleiten. Zögerlich öffnete er die Augen. An solch helles Licht war er nicht gewöhnt, da die Wachen normalerweise nur kamen, wenn draußen die Nacht schon angebrochen war. Er zuckte zusammen, geschockt von dem, was er sah. Tiefgrüne Augen, aus denen die Angst, aber auch Schock sprachen, fixierten ihn.

Sie hatten ihm wieder ein Kind gebracht.

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Dieses Kapitel ist story-for-me
gewidmet... Danke, dass du mich dazu ermuntert hast, endlich hiermit anzufangen 😄❤ (Auch, wenn auf dem Papier noch nicht mehr vorhanden ist, als ein ferner Hauch einer Story und erstmal alle Ideen sortiert werden müssen)

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