13. Wolfsbegegnung
Melissa lag schon einige Zeit wach, als die ersten Sonnenstrahlen durch die helle Zeltdecke auf ihr Gesicht fiel. Sie spürte wie sich die Luft langsam erwärmte. Gähnend richtete sie sich auf. Sie hatte in den Klamotten des vorherigen Tages geschlafen und der Gestank von Rauch war im Stoff noch deutlich wahrnehmbar. Sie wollte nachsehen, ob James noch spät in der Nacht gekommen war. Aber vor allem wollte sie nachsehen, wie es Mark ging.
Sie öffnete den Reißverschluss am Eingang des Zeltes und lugte hinaus. Der harte Boden hatte ihre Muskeln steif werden lassen und die ersten Bewegungen schmerzten. Sie war kurz davor zu dem Zelt von Mark zu laufen, als sie ein lautes wolfshundartiges Heulen aus dem Wald vernahm. Sie schielte in die Richtung, aus der die Laute kamen. Ein paar Blätter raschelten und im Licht der Sonne zeichnete sich die klare Gestalt eines Vierbeiners ab, die geradewegs auf Melissa zu hechtete.
Die spitzen Ohren, der buschige Schwanz, die Farbe des Fells und die wolfshundartige Haltung - sie kamen ihr so bekannt vor. Mittlerweile war der Hund einige Meter vor ihr zum Stehen gekommen. Ungläubig starrte sie auf diesen und verfolgte jede noch so kleine Bewegung. Sie kämpfte mit ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie wusste, er konnte unmöglich hier sein, aber sie sah ihn klar und deutlich vor sich.
„Skalli?", flüsterte sie leise. Der Hund kam auf sie zu, währenddessen wurden ihre Augen glasig. Sie ging in die Hocke und streifte über sein raues Fell. Seinen Geruch erkannte sie sofort und das markante rote Halsband ließ alle Zweifel fallen.
„Du bist real?!", sie wusste selbst nicht recht, ob dies eine Frage sein sollte. Er freute sich unbändig, sein Schwanz hörte nicht auf zu wedeln. Ein kurzes Lächeln überkam sie.
„Nein! Du kannst nicht hier sein. Das ist unmöglich.", sie hatte die Arme zwanghaft verschränkt, so dass es schon fast weh tat. Das Schmerzen ihrer Unterarme signalisierte ihr, dass sie nicht träumte. Eine salzige Träne rann über ihre Wange und sie atmete tief ein und aus um sich zu beruhigen. Der Wolfshund stupste sie aufmunternd und unaufhörlich an, so fest, dass sie ein wenig schwankte. Sie hob ihre zittrige Hand, nicht ahnend, dass sich alles nur in ihrem Kopf abspielte, und kraulte ihn hinter seinem struppigen Ohr.
„Was machst du da?" fragte James. Er war aus seinem Zelt herausgetreten und hatte sich an die Feuerstelle gesetzt. Melissa drehte sich zu ihm um und sah seinen verwirrten Gesichtsausdruck. Sie verstand nicht was er meinte. War es nicht offensichtlich, dass sie ihren Hund streichelte?
Sie blickte zurück zu der Stelle, an der Skalli gestanden und sich gefreut hatte, doch er war nicht mehr dort. Nun war auch sie verwirrt, hatte sie sich das ganze nur eingebildet? Halluzinierte sie etwa? Er schien doch so echt, das konnte kein Traum sein, dachte sie. Sie stand auf und ging zu James, der noch immer auf eine ausstehende Antwort wartete.
„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.", gereizt verschränkte sie die Arme erneut vor der Brust und lenkte von ihrem unerklärlichen Verhalten ab.
„Ihr habt aber auch nicht nach mir gesucht.", stellte James lachend klar.
„Ich werden nicht wieder überstürzt in den Wald rennen, vor allem nicht im Dunkeln.", rechtfertigte sie sich.
„Woher kommt die plötzliche Einsicht?", stutzte James.
„Gestern Nacht, hatten wir eine Begegnung.", begann sie. James blickte ungläubig zu ihr.
„Was meinst du damit?", sein Lächeln verschwand.
„Es hat Mark angegriffen, ihm eine üble Fleischwunde verpasst und ist dann in die Tiefe gestürzt.", sie deutete auf den Abgrund während er ungläubig auf das Zelt von Mark und danach in Richtung Abgrund starrte.
„Was war das für ein Vieh und vor allem wie geht es ihm?", fragte er besorgt.
„Das solltest du ihn lieber selbst fragen.", mit ihrem Kopf deutete sie an, dass Mark gerade aus seinem Zelt gekrochen kam.
„Kann ich die Wunde sehen?"
„Wo warst du?", Mark blickte James vorwurfsvoll in die Augen und antwortete nicht auf seine Frage.
„Ich war auf der Suche nach Wasser.", begann er.
„Hast du welches gefunden?", funkte Melissa dazwischen. James beachtete die Frage nicht sondern ging zielstrebig auf Mark zu. Behutsam strich er über die verkrustete Haut.
„Wir hatten nichts zum Nähen, und die Wunde hörte nicht auf zu bluten.", Melissas Stimme klang wehleidig als sie ihr Handeln rechtfertigte. James nickte: „Das war auf jeden Fall die richtige Entscheidung.", er ließ Mark los und marschierte an den Abgrund. Die anderen beiden folgten ihm. Der Anblick, welcher sich ihnen bot, als sie über den Rand der Schlucht blickten, löste bei allen Entsetzen aus.
Die Kreatur lag tot auf dem Boden. Die Klauen und Beine weit von sich gestreckt. Mit dem Schnabel nach unten. Obwohl sie sich etwas mehr als 25 Meter entfernt in der Tiefe befand, konnten sie die rote Blutlache erkennen, welche über Nacht aus dem armen Tier herausgequollen war, nachdem es auf dem steinernen Boden aufgeschlagen war.
Melissa wurde schlecht. Es war nicht die Höhenangst, die ihr zu schaffen machte, es war nicht der Anblick des entstellten Tieres, welcher ihr den Magen verdrehte. Von oben aus hörte sie das Gekreische eines kräftig gebauten, mit dem Blut der Kreatur verschmierten, Vogels, welcher in einem unersättlichen Blutrausch verfallen war. Einem Kapgeier ähnelte diese Gestalt noch am ehesten. Mit seiner großen Flügeldecke beschirmte er den Unterleib der Kreatur um sie sein Recht an der Beute anzuzeigen und begann mit seinem scharfen Schnabel die schuppige Haut vom Rücken der Kreatur zu lösen.
Doch nicht nur der Vogel bemerkte die Beute. Eine Echse mit kurzen Beinen, leuchtenden Farben, schuppiger Haut und langem Schwanz hatte das Blut gerochen. Seine Rückenstachel glänzten in der Sonne, während sie sich unbemerkt anpirscht. Ein einzelner krächzender Schrei und der Anblick der scharfen Zähne vertrieb den Vogel in die Lüfte. Triumphierend machte sich die Echse über den toten Kadaver her.
Melissa wollte nicht hinsehen, wie die Kreatur zerfetzt wurde, aber genauso wenig schaffte sie es wegzusehen.
„Ich habe eine Abkürzung, die uns etwa drei Stunden Zeit spart und im Angesicht der Verletzung von Mark unser einziger Weg nach unten ist, entdeckt.",unterbrach James die bedrückende Stille, „Wenn wir uns beeilen, kommen wir heute Nacht noch an der Kapsel an."
„Was ist das für einen Abkürzung?", skeptisch blickte Mark zu James.
„Ich habe einen Fluss entdeckt, er mäandert ein wenig, aber dann stürzt er keine zwei Kilometer von hier in die Tiefe. Das Wasser ist garantiert tief genug, dass wir einfach springen können.", erklärte James gelassen.
„Was? Nicht dein Ernst.", entsetzt blickte Mark erst zu James und dann zu Melissa.
„Deine Wunde ist versiegelt und Dreck kann nicht eindringen. Aber du könntest niemals mit ihr klettern, dafür ist die Verbrennung zu tief. Melissa hat deinen Muskel mit verbrannt, du könntest dich nicht lange halten. Das wäre dein Tod direkt neben der Kreatur."
„Was ist mit den Rucksäcken? Und all den Klamotten?", fragte Melissa als habe sie nichts dagegen einzuwenden.
„Die unzerbrechlichen Gegenstände schmeißen wir einfach nach unten ans Ufer, die anderen müssen wir gut genug schützen um sie heil herunter zu bringen.", schlug er vor.
„Hört ihr eigentlich wie verrückt das klingt?", Mark war entsetzt.
„Verdammt, ich will hier nicht länger im Freien schlafen, das ist unsere Chance zu den anderen zu kommen.", erklärte James nun gereizt.
„Sehe ich genauso, wenn wir hier wieder herunterklettern verlieren wir kostbare Zeit. Und denk an die Echse, ich bin mir sicher, dass sie uns als eine Bedrohung wahrnimmt.", stimmte Mel ihm zu.
„Ich verstehe dich nicht! Du hast Höhenangst und jetzt willst du einen sehr hohen Wasserfall herunterspringen, in einen Fluss, von dem wir nicht wissen, wie tief er ist? Das ergibt keinen Sinn!", Mark blickte vorwurfsvoll zu Melissa. Auch James erkannte ihr merkwürdiges Verhalten.
„Dann ist es wenigsten schnell vorbei. Vergiss nicht ich habe noch etwas gut bei dir, du wirst mich herunterstoßen müssen.", sie lächelte kurz, hoffte aber auch, dass Mark ihr nicht mehr widersprach.
Für Melissa und James war klar, dass die Abkürzung der beste Weg war, damit wurde Mark kurzerhand überstimmt. Sie bauten die Zelte ab, zu dritt funktionierte es wesentlich besser als am Tag zuvor, als Melissa sie alleine aufbauen musste.
Der Marsch begann am frühen Vormittag und es dauerte nicht lange, bis sie an besagtem Wasserfall standen. Melissa betrachtete das ganze aus einiger Entfernung, die Höhenangst hatte sie wieder eingeholt und sie wollte erst nah an den Abgrund herankommen, wenn Mark sie stoßen sollte.
„Wir wären jetzt so weit", rief James ihr zu. Mit ihrem Rucksack auf den Schultern kam sie zu ihnen und begann wie die anderen beiden ihre Schuhe und Jacke auszuziehen und in den Rucksack zu stopfen. Es weckte ein mulmiges Gefühl in ihr zu wissen, dass sie gleich fallen wird - in eine ihr unbekannte Tiefe, in ein ihr unbekanntes Gewässer mit ihr unbekannten Tieren. Mel warf ihren Rucksack als erste über den Abgrund direkt ans Ufer. Sie stand an der Klippe, neben ihr der reißende Fluss. Sie blickte nach unten in die schäumenden Wellen. Eigentlich war es ein schöner Anblick, aber sie genoss ihn mit Vorsicht, denn ihre Knie wurden wie so oft weich.
„Eine schöne Windrose.", bemerkte Mark als er hinter ihr stand und ihre Tätowierung am Nacken betrachtete. Melissa wollte gerade antworten, dass ihr Verlobter auch dieses Tattoo hatte und es den Weg symbolisieren soll, der sie beide letztendlich getrennt hat, weil sie ungleiche Richtungen eingeschlagen haben. Und die Windrose soll ihnen den Weg weisen, um sich irgendwann wieder zu finden. Doch soweit kam sie nicht, denn Mark hatte sie gepackt und riss sie mit sich in die Tiefe. Er hatte ihr nicht Bescheid gegeben, so wie sie es bei seiner Wunde nicht getan hatte. Sie schrie entsetzt auf. Im Flug schlug sie um sich, bis sie mit ihm ins tosenden Wasser eintauchte. James sprang elegant hinterher. Mit ruckartiger Schnappatmung tauchte sie auf und schwamm mit den anderen an das Ufer zu ihren Sachen.
„Danke, ohne dich hätte ich das nicht geschafft.", gab Melissa zu. Lächelnd reichte Mark ihr den Rucksack. Sie zogen sich ihre Schuhe wieder an und machten sich auf den langen Weg zur Kapsel zurück.
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