Kapitel 8
Ella
5 Jahre zuvor
Vogelgezwitscher drang an meine Ohren. Vermutlich hatten sie wieder in der Dachrinne genistet. Ich konnte es einfach nicht mehr hören. Mir kam alles so unerträglich laut vor. Zitternd wippte ich mit meinen Körper vor und zurück. Die Augen fest geschlossen saß ich auf dem kühlen Boden in der Abstellkammer.
Angst.
Das einzige, was ich in diesem Moment verspürte. Angst davor, dass Gabe jeden Moment hier hereinkommen und mich erneut schlagen würde. Und vor allem Angst davor, dass mich die Wände erdrücken würden, sobald ich meine Augen öffnete. Denn dann würde ich die niedrige Decke sehen, die auf mich zukommen würde, die kalten Betonwände, die mich von allen Seiten einsperren und mir die Luft zum Atmen rauben würden.
Ich war eingesperrt.
In letzter Zeit war es häufiger geworden.
Seit ich meinen Eltern davon erzählt hatte, um genau zu sein.
Dass Gabe mich hier einschloss war so viel schlimmer für mich als wenn er mich schlug. Es war die reinste Folter. Ich wusste überhaupt nicht, womit ich ihn heute wieder verärgert hatte, aber so langsam hatte ich das Gefühl, dass er überhaupt keinen Grund mehr dafür brauchte.
Er sah schlecht aus. Ihm ging es immer dreckiger, das konnte ich sehen. Und er ließ es an mir aus. Trotz allem verspürte ich Mitleid mit ihm. Es tat verdammt weh, ihn so zu sehen.
Ich spürte die salzigen Tränen, die meine Wangen hinabströmten, als ich daran denken musste, wie es früher gewesen war. Wie wir früher gewesen waren. Als statt dem so wütenden Blick noch ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht gewesen war. Als er mich noch nicht geschlagen hatte, sondern mit mir gespielt, gelacht und mich getröstet hatte, wenn ich mir weh getan hatte. Als er sich noch wie ein großer Bruder verhalten hatte.
Ich wollte keine Angst vor Gabe haben. Aber jedes Mal, wenn ich in seine Augen blickte, die viel zu großen dunklen Pupillen sah und seine lallende Stimme hörte, lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter, denn ich wusste, was folgen würde.
Ich klammerte mich an meinen Knien fest.
Ich wusste nicht, wie lange er mich schon hier drinnen gelassen hatte oder wann er das Schloss wieder öffnen würde. Das einzige was ich wusste, dass es schon viel zu lange gewesen. Jede Minute sorgte dafür, dass mein Kopf seine Spielchen mit mir spielte und meine Platzangst mich an den Rand des Wahnsinns trieb.
Ich musste hier raus.
***
„Jetzt hör mir doch einmal zu, verdammt!"
Ich war langsam mehr als genervt. Meine Mutter tat alles, was ich sagte, einfach so ab. Es interessierte sie nicht, was ich zu sagen hatte. Kein Stück. Es kam mir fast so vor, als wollte sie es überhaupt nicht hören.
„Ich bin mir aber sicher, dass er es war!" wiederholte ich zum dritten Mal. Ich war immer noch aufgewühlt. Tausende Gefühle und Gedanken trafen mich wie eine Lawine, die über mich hinweg rollte.
Ich war nicht nochmal zurück zu Madison und Amy ins Restaurant gegangen. Dazu war ich viel zu aufgelöst gewesen. Nachdem ich den Anruf in einer Kurzschlussreaktion weggedrückt hatte, war ich ziellos losgelaufen.
Die beiden durften mich nicht so sehen, das Ganze war sowieso schon beschissen genug. Amy wusste nicht Bescheid und das sollte auch so bleiben. Es war das Einzige, was ich meiner besten Freundin nie erzählt hatte.
Ich hatte ihr nur eine kurze Nachricht geschickt, in der ich ihr mitgeteilt hatte, dass mir übel wäre und ich daher nach Hause gegangen war. Es war besser so. Die beiden sollten den Abend genießen und ihn sich nicht von mir verderben lassen.
Allerdings war ich nicht wirklich nach Hause gegangen. Ich wollte nicht in der engen Wohnung sein und Angst davor haben müssen, dass mich die Wände zerquetschen würden.
So wie sie es damals immer getan hatten.
Er war Schuld an dieser beschissenen Klaustrophobie. Zwar war sie mit all den Jahren schwächer geworden, da ich schon lange keinen Gedanken mehr an ihn hatte verschwenden müssen, doch jetzt...
Als er angerufen hatte – und ich war mir sicher, dass er es gewesen sein musste, auch wenn es fast unmöglich war – fühlte ich mich allein schon bei dem Gedanken, alleine in der Wohnung sitzen zu müssen, erdrückt.
Ich brauchte das Freiheitsgefühl, dass mir diese Stadt bot. Hier draußen war alles offen nach oben, keine Decke, die mir entgegenzukommen schien. Hier konnte ich frei atmen, ohne dass meine Atemwege abgeschnürt wurden.
Das Erste was ich getan hatte, war meine Mutter anzurufen. Ich saß auf den Stufen vor irgendeinem Haus. Ich wusste, ich war noch in Brooklyn. Aber nachdem ich völlig ohne Ziel durch die Gegend gelaufen war, hatte ich die Orientierung verloren.
Meine Mutter hatte sehr überrascht gewirkt, als es meine Stimme gewesen war die auf ihr „Miranda Hayes, hallo?" mit einem leisen, kläglichen „Hi, Mom" geantwortet hatte. Ich rief genauso oft an, wie meine Eltern mich. Also fast nie.
Meine Stimme hatte gezittert, als ich ihr von dem Anruf erzählt hatte, den ich soeben bekommen hatte.
„Mom, es war Gabe! Ich weiß, es ist eigentlich unmöglich, aber er war es!" Meine Stimme versagte.
„Ach Schätzchen, das hast du dir mit Sicherheit eingebildet."
Mir hätte klar sein müssen, dass ich bei meiner Mom auf blankes Unverständnis stoßen würde. Sie war schon immer vor Problemen davon gelaufen und verschloss lieber ihre Augen vor der Wahrheit. Sie hatte mich schon einmal im Stich gelassen. Und all das nur für den Ruf der Familie. Ich war immer erst an zweiter Stelle gekommen. Was die Presse über uns an die Öffentlichkeit brachte, das war viel wichtiger gewesen. Kein Wunder, dass sowohl meine Mom als auch mein Dad mich immer geflissentlich überhört hatten, wenn ich von meinem Traumstudium angefangen hatte. Was würde es denn für ein Licht auf die Hayes werfen, wenn die perfekte Vorzeigetochter nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern tritt, sondern Modedesignerin wird?
Und jetzt glaubte sie mir nicht. Oder wollte es nicht wahrhaben. Denn das würde ja alles nur wieder verkomplizieren. Das war so typisch.
„Ella Liebes, jetzt sei doch mal realistisch! Wie soll es denn möglich sein, dass dieser unbekannte Anrufer Gabriel gewesen war? Wir wissen doch beide, dass er...", sie räusperte sich kurz, da ihre Stimme belegt klang, „Schätzchen, er ist tot." Erbarmungslos und ohne jegliche Emotionen warf sie mir diesen Satz an den Kopf.
Ja, natürlich wusste ich es. Mir war damals einerseits eine riesige Last vom Herzen gefallen, denn ich hatte das Gefühl, endlich aus meiner Hölle befreit worden zu sein. Doch der Gedanke daran, dass er in diesem Feuer verbrannt war, hinterließ immer noch einen schmerzhaften Stich in meiner Brust. Er war nach allem trotzdem noch mein Halbbruder, mein großer Bruder. Auch wenn er sich schon längst nicht mehr so verhalten hatte. Er war nicht er selbst gewesen. Drogen und Alkohol können Menschen zerstören, sie innerlich zerfressen und sie zu Monstern machen.
Der Anruf hatte zugleich Angst als auch Hoffnung aufkeimen lassen. Natürlich konnte ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass es mein großer Bruder gewesen war, der mich angerufen hatte. Doch ich kannte seine Stimme und die des Anrufers hatte einfach so verdammt ähnlich geklungen. Die Art, wie er meinen Namen ausgesprochen hatte.
Was, wenn er es wirklich war? Was dann?
Ich verspürte eine unsägliche Angst davor, dass er sich kein Stück verändert hatte und davor, was passieren würde, wenn er mich fand. Ob sein Gesicht immer noch so wutverzerrt war, sein Blick derart aggressiv?
Doch auf der anderen Seite wollte ein kleiner Teil von mir wissen, dass es ihm gut ging. Dass er damals nicht so grausam verbrannt war.
„Hör zu, Ella, dein Vater und ich haben gerade einen Klienten und ich habe wirklich keine Zeit für diesen Unsinn. Hör dir doch mal selbst zu, dein Geschwafel ergibt keinen Sinn. Sieh einfach zu, dass du für keine Skandale sorgst und streng dich bei deinem Studium an! Ich melde mich bei dir."
Würde sie nicht.
„Tschüss Mom", erwiderte ich deprimiert. Noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, ertönte das monotone Tuten in der Leitung.
Ich hab dich auch lieb, Mom. Seufzend ließ ich mein Handy sinken und stützte meinen Kopf auf meinen Armen ab. Es war schon fast dunkel geworden, doch die bunten Lichter ließen New York hell erstrahlen.
Meine Mutter war wirklich schwierig. Ich glaube sie sah überhaupt nicht, wie wenig sie ihre Mutterrolle wahrnahm. Nach außen hin, sei es auf öffentlichen Veranstaltungen oder Familienfesten, spielte sie allen immer die perfekte Familie vor, um auf keinen Fall unserem guten Ruf in Clarksburg zu schaden.
Als die Nachricht von Gabes Tod bekannt wurde, hatte sie ein mitleiderregendes Interview gegeben, in dem sie ihrem geliebten Sohn nachtrauerte, der ja ein so außergewöhnlicher und anständiger Junge gewesen war und sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Während der Trauerfeier, bei der natürlich die halbe Stadt eingeladen gewesen war, hatte sie die ganze Zeit ihren Arm um mich gelegt und sämtlichen Gästen beteuert, wie untröstlich ich doch über den Verlust meines Halbbruders war.
Nie hatte sie mich gefragt, wie es mir ging, nach all dem, was ich die letzten Jahre durchgemacht hatte. Als ich mich endlich getraut hatte, zu meinen Eltern zu gehen und ihnen davon erzählte, was Gabe mir antat, war das einzige, das sie zu mir sagte, ich solle mich doch nicht so von meinem Bruder ärgern lassen.
Sie sah nicht, wie Gabe sich verändert hatte, sie bekam nie mit, wenn er sturzbetrunken nach Hause kam oder wenn er mich mal wieder schlug oder einsperrte. Denn sie wollte es überhaupt nicht sehen.
In Wahrheit hatte sie sich nämlich nie Zeit für Gabe oder mich genommen. Ihr war die Arbeit in der Kanzlei schon immer wichtiger gewesen als ihre Kinder.
Mein Dad war ein mindestens genauso besessener Anwalt. Auch er wollte unbedingt, dass ich nach meinem Studium in die Kanzlei einstieg und das Familienerbe einmal übernehmen würde. Dennoch hatte ich zu ihm stets eine engere Beziehung gehabt als zu meiner Mutter, da er sich wenigstens ab und zu Zeit für mich genommen hatte.
Warum nur, war meine Familie so verdammt kompliziert? Ich hatte eine beschissene Vergangenheit, meine Mutter scherte sich einen Scheißdreck darum, wie es ihrer Tochter ging und jetzt rief mich auch noch mein vermeintlich toter Halbbruder an?
Was wollte man mehr?
Nachdem ich noch eine Weile auf der Treppe saß und die Menschen beobachtete, die an mir vorbeieilten, beschloss ich, zurück nach Hause zu gehen. Zu Amy und Maddy. Die beiden müssten bald zu Ende gegessen haben und ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machten, wenn sie eine leere Wohnung vorfanden.
Ich öffnete Google Maps auf meinem Handy, gab mein Ziel ein und machte mich auf den Weg.
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