Kapitel 12

Kapitel 12

Ella

Mit solchen offenen Wunden war nicht zu spaßen. Damit kannte ich mich leider nur zu gut aus. Ich wusste, wie leicht sie sich entzünden konnten, wenn man sie nicht ordentlich desinfizierte. Allein bei dem Gedanken daran, konnte ich den leicht brennenden Schmerz des Sprays auf der offenen Haut spüren, dessen Geruch mich auf ewig an Gabe erinnern würde.

Sobald er zu sich gekommen war und ihm hinterher bei meinem Anblick die Schuldgefühle kamen, hatte er mir immer einen Erste-Hilfe-Koffer gebracht und mich anschließend damit alleine gelassen. Und jedes verdammte einzelne Mal hatte ich unter Tränen meine Wunden gesäubert, um dann die Zeugnisse der Gewalt meines Bruders unter den weißen Pflastern und Verbänden zu verstecken.

Tatenlos hatte ich die Schmerzen ertragen, die er mir zugefügt hatte – diese waren sowohl körperlich als auch psychisch. Ich hatte niemanden gehabt, der für mich da gewesen war. Niemanden, der mich verarztet hätte, mich mit Worten beruhigt oder gar in irgendeiner Weise von den Qualen erlöst hätte.

Und genau aus diesem Grund zog ich June jetzt auf die Damentoilette der Uni. Weil ich nicht wollte, dass sich irgendjemand genauso fühlen musste wie ich es damals getan hatte. Und weil ich diesen Drang hatte, anderen Menschen helfen zu wollen – den Drang, June helfen zu wollen. Ich konnte es nicht ertragen, Menschen, die mir wichtig waren, in irgendeiner Weise verletzt zu sehen.

Gehorsam folgte mir June zu den großen Waschbecken. Wortlos drehte er den Hahn auf und ließ den Wasserstrahl über seine Hände laufen. Nachdem er das getrocknete Blut von seinen Knöcheln entfernt hatte, lehnte er sich mit dem Rücken an das hinterste Waschbecken und sah wieder zu mir. Im Spiegel, der darüber hing, entdeckte ich Etwas auf seinem Nacken, das ich bisher nicht wahrgenommen hatte. Unter seinem Kragen lugte ein Tattoo hervor. Zwar war nur ein kleiner Teil nicht von seinem Shirt verdeckt, jedoch konnte ich erkennen, dass es sich hierbei um filigran geschwungene Buchstaben handelte. Ich wusste auch nicht, weshalb es mich so brennend interessierte, was er sich dort unter die Haut schreiben lassen hatte.

Ich nahm ein Papiertuch aus dem Spender und ließ ein wenig lauwarmes Wasser darüber laufen.

„Du musst das hier wirklich nicht tun, wenn du lieber zur Vorlesung gehen möchtest! So schlimm ist die Wunde überhaupt nicht." Junes leicht verzogener Gesichtsausdruck während er das sagte, überzeugte mich allerdings nicht.

„Glaub mir, du willst nicht, dass sich das entzündet."

„Klingt fast so, als hättest du Erfahrung damit..." Er musterte mich prüfend.

Ich ging nicht weiter auf seine Feststellung ein.

„Außerdem muss ich mich immer noch bei dir revanchieren. Für die Sache im Club. Und dafür, dass du auch heute...wie sagt man so schön – meine „Ehre" verteidigt hast."

June schmunzelte ein wenig. Erneut tauchten die Grübchen auf seinen Wangen auf, die mir schon bei unserer allerersten Begegnung aufgefallen waren.

Ich stellte mich ihm gegenüber - so nah, dass ich mit meiner Hand sein Kinn festhalten konnte. Dann tupfte ich vorsichtig mit dem feuchten Tuch das getrocknete Blut ab, das an seinen Mundwinkeln klebte. Mir entging dabei nicht, dass June mich ununterbrochen betrachtete.

„Was...was hat Tyler eigentlich vorhin gemacht, dass du ihn verprügelt hast?"

„Er hat sich wieder wie ein sexistisches Schwein benommen...shit!" June zuckte vor Schmerz zusammen, als ich die Wunde vorsichtig mit dem Desinfektionsspray aus meinem Erste-Hilfe-Kit besprühte, fasste sich jedoch schnell wieder.

„Ich kann es nicht leiden, wie er Frauen auf ihren Körper reduziert. Wie er dich vorhin auf deinen Körper reduziert hat." Zum Ende hin war seine Stimme immer leiser und rauer geworden. Mein Blick wanderte zu seinen unendlich blauen Augen. Noch immer beobachtete er mich mit diesem seltsamen, unergründlichen Blick.

Ich hielt in meiner Bewegung inne und spürte, wie meine Atmung zusehends stockte.

„Aber...", ich versuchte tief einzuatmen, „...wir kennen uns doch kaum. Wieso tust du das? Warum setzt du dich so für mich ein? Es kann dir doch eigentlich egal sein." Meine Stimme war alles andere als fest und glich einem Flüstern.

„Weil ich es einfach nicht lassen kann. Du löst etwas in mir aus... einen Beschützerinstinkt, der sich nicht aufhalten will. Das hast du bereits, als ich dich dort im Club auf dem Barhocker gesehen habe", raunte June.

Fuck, warum war er nur so verdammt sexy? Zudem sah er verboten gut aus, trotz der Wunde und den verwuschelten Locken, die ihm zum Teil wild ins Gesicht fielen. Und wieder einmal musste ich mich dazu zwingen, meine Gedanken zu zügeln. Mir war bewusst, wie falsch es war, so über ihn zu denken. June hätte vielleicht lieber mich verprügeln sollen, damit ich nicht ständig so schmachtete! Oder sollte eher ich ihn verprügeln, damit er mich nicht mehr mit diesem sonderbaren Blick ansehen konnte?

Doch stattdessen stieß June sich nur geschmeidig vom Waschbecken ab und machte einen  Schritt auf mich zu. Diese urplötzliche Nähe raubte mir fast den Atem. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass er mich um mindestens einen Kopf überragte. Seine Größe schüchterte mich ein. Verbissen starrte ich auf meine Fußspitzen und begutachtete den braunen Matsch, der meine weißen Turnschuhe seit unserer ersten Begegnung am heutigen Tag, schmückte.

„Du bist mir nicht egal, Cinderella." Und zack - er hatte erneut mit bloßen Worten dafür gesorgt, dass meine Knie zu Wackelpudding wurden.

Behutsam legte sich sein Finger an mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen.

„Du - ich...June, bitte. Nicht..." Meine Stimme hatte einen hörbar verzweifelten Unterton, der ihn anflehte, das hier nicht zu tun.

Ich wusste, dass wir beide die nervenzerreißende Spannung spüren konnten, die zwischen uns auf dieser Toilette herrschte. Wie benebelt standen wir in der Mitte des Raumes, neben Klokabinen und Waschbecken, auf einem glänzend weißen Fließenboden. Es sollte uns beiden eigentlich klar sein, wie unsäglich dumm es war, dass wir es überhaupt erst zu einer solchen Situation hatten kommen lassen. Anstatt, dass ich wegrannte, stand ich einfach nur da und rührte mich nicht einen Millimeter vom Fleck.

Junes Finger hatte sich inzwischen von meinem Kinn gelöst und begann, sanft über meine Wange zu streichen. Meine Haut kribbelte unter seiner Berührung und ich hatte das Gefühl, als wäre ich kurz davor, zu explodieren. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu seinem Mund, den ich vor wenigen Augenblicken noch verarztet hatte. Wir waren uns so nahe, dass ich jedes einzelne Fältchen auf seinen Lippen erkennen konnte, die trotz dieser Unebenheiten unendlich weich aussahen.7

Wie in Zeitlupe kamen wir uns näher. Alles fühlte sich surreal an. So, als ob dieses Mädchen in dem gelben Regenmantel und dem Desinfektionsspray in der rechten Hand, nicht ich wäre. Eine Stimme schrie mich in meinem Kopf förmlich an, Abstand zu bekommen und schnellst möglich diesen Raum zu verlassen, doch ich konnte einfach nicht anders.

June zog mich an wie ein magnetisches Feld. Mein Atem funktionierte nur noch stoßweise und ich hörte, dass es ihm kein bisschen anderes erging als mir. Immer wieder huschte sein Blick zwischen meinen Lippen und meinen Augen hin und her, so als würde er mich um meine Erlaubnis bitten.

Und ich gab sie ihm. Es war falsch. Es war absolut dumm und unüberlegt. Unterbewusst war uns das beiden klar. Dennoch konnte ich mich nicht aus seinem Bann zurückziehen und auch June schien nicht an die Konsequenzen denken zu wollen.

„Ella..." Mein Name war nur mehr ein Hauch aus seinem Mund. Wir waren uns so vertraut nahe. Wenige Zentimeter, dann Millimeter, trennten unsere Lippen voneinander. Ich spürte seinen angenehm heißen Atem auf meiner Haut. Junes Präsenz verursachte eine Gänsehaut überall auf meinem Körper.

Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust, als June auch noch den letzten Abstand überbrückte. Ganz automatisch schlossen sich meine Augen und mein Körper sehnte sich nach seiner Berührung. Wie von selbst bog ich mich June entgegen. Alles - jede noch so kleine Faser meiner Haut- fing an zu kribbeln, als Junes Lippen sich ganz langsam auf meine senkten und leicht darüber strichen.

Ein nervtötendes Klingeln riss uns aus der Starre. Mein Handy. Ich wusste nicht, ob ich froh war über diese Unterbrechung, die June und mich vor „Schlimmerem" bewahrte oder doch eher enttäuscht.

Die spannungsvolle Stille der Mädchentoilette war mit einem Mal durchbrochen. Mir stieg die Hitze in den Kopf. Die Realität hatte uns eingeholt und der kurze magische Moment zwischen uns war verpufft.

Der Klingelton schien wie ein Weckruf zu sein, denn schlagartig zog sich June zurück, als würde er erst jetzt realisieren, was wir gerade im Begriff waren zu tun.

„Fuck!" Fluchend fuhr er sich mit der Hand durch die lockigen Strähnen.

Auch ich setzte mich nach einer kurzen Schrecksekunde in Bewegung und eilte hinüber zu meiner Tasche, die ich unter dem Papierspender abgestellt hatte. Immer noch wie betäubt und mit klopfendem Herzen, kramte ich nach meinem Handy und erstarrte, als ich einen Blick auf das Display warf.

Jegliche Euphorie, jedes noch so kleine Glücksgefühl, das sich bis dato in meinem Körper befunden hatte, entwich augenblicklich und wurde durch blanke Panik ersetzt. Der Beinahe-Kuss mit June rückte weit in den Hintergrund, als ich den Namen las, den ich erst vor wenigen Tagen eingespeichert hatte, in der Hoffnung, ihn nicht wieder lesen zu müssen.

Gabriel Hayes.

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