Kapitel 11
June
Etwas verschlafen und vom Regen durchnässt betrat ich das Universitätsgebäude.
Heute früh hatte ich mich mit Amelia zum Frühstücken verabredet, damit meine Schwester endlich mal mit mir sprach und mir erzählte, wie es ihr ging. Um sicherzustellen, dass mein Vater wenigstens einen Tag mal nüchtern blieb, hatte ich von gestern auf heute bei ihm im Loft übernachtet. Seit Amelia aus Europa zurück war, wechselte sie allerdings kaum ein Wort mit mir. Stattdessen putzte sie nur wie besessen die Wohnung, räumte auf und reinigte alles immer und immer wieder. Selbst als der Boden schon so sauber war, dass man davon hätte essen können, hatte sie nicht aufgehört.
Es kam mir so vor, als wäre sie von gestern auf heute noch dünner geworden. Ihr Gesicht war kränklich schmal und auch den Avocado-Bagel, den ich ihr im Café bestellen wollte, hatte sie vehement abgelehnt. Ich machte mir mittlerweile ernsthafte Sorgen um meine kleine Schwester. Die Tatsache, dass sie mich damals einfach im Stich gelassen hatte und ohne ein „Auf Wiedersehen" auf einen anderen Kontinent abgehauen war, hatte ich ihr zwar noch nicht verziehen, dennoch beunruhigte es mich sehr, wie ausgemagert sie war.
Beim Frühstück hatte Amelia mir dann tatsächlich ein wenig von ihrem Leben in Europa erzählt. Sie war zuerst ziellos durch Frankreich gereist und anschließend fest nach Nizza gezogen, da sie sich dort in ein Mädchen verliebt hat. Warum sie ihre Freundin allerdings verlassen hatte, um nach New York zurückzukehren, verriet sie mir nicht. Da ich auch nicht unsensibel sein wollte und ohnehin einfach froh war, dass Amelia mir überhaupt irgendetwas erzählt hatte, hakte ich auch nicht weiter nach.
„Es tut mir so unendlich leid, dass ich gegangen bin Ju, aber ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten."
Diesen Satz hatte sie bestimmt fünf Mal zu mir gesagt. Nicht, dass ich ihr das nicht glaubte. Nur war die Enttäuschung darüber immer noch groß. Wahrscheinlich würden wir beide einfach etwas Zeit brauchen, um uns wieder anzunähern.
-
Der Zusammenstoß mit Cinderella eben war das einzige, das mich an diesem Morgen ein wenig aufheitern konnte. Noch immer hatte ich ihren sanften, blumigen Duft in der Nase und ganz unbewusst stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich hatte kaum mitbekommen, was sie gestammelt hatte. Dafür war ich viel zu fasziniert von ihrem Gesicht gewesen.
Mein schlechtes Gewissen meldete sich jedoch, als ich daran denken musste, wie weich ihre Lippen ausgesehen hatten. Immerhin war ich in einer Beziehung und sollte daher vermutlich nicht über eine andere nachdenken. Ich verdrängte das kribbelnde Gefühl, das sich auch immer dann breitmachte, wenn ich Ella begegnete, und ging die langen Flure der Uni entlang, bis ich bei meinem Hörsaal ankam.
Als ich gerade eintreten wollte, schubste mich jemand unsanft gegen die Wand.
Heute schien definitiv nicht mein Tag zu sein - das war bereits das zweite mich heute jemand anrempelte. Mein Vorhaben, einfach weiterzugehen und das Ganze zu ignorieren, scheiterte gänzlich, als ich grob am Arm gepackt wurde.
Was zur Hölle?!
Ich riss meinen Arm schwungvoll aus dem Klammergriff und drehte mich wütend zum Streitsüchtigen um.
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich erkannte, welcher Idiot gerade unbedingt eine Faust von mir ins Gesicht bekommen wollte.
Dieser Bastard. Das Blut pulsierte in meinen Adern und meine Hände ballten sich wie von allein zu Fäusten, als ich in das provozierende Gesicht von Tyler blickte. Er blickte mir frech grinsend entgegen.
Was fiel ihm eigentlich ein?
„Na wen haben wir denn da? Danke für das Hausverbot, Alter!" Tyler klopfte mir zwei Mal kräftig auf die Schulter. „Ist die heiße Rothaarige zufälligerweise auch hier? Die mit dem schönen Arsch und den süßen kleinen Brüsten." Gespielt suchend blickte er sich um. Sein ekelhaft anzügliches Grinsen ließ Übelkeit in mir aufkommen.
Obwohl eine Stimme in meinem Kopf mir schwerstens davon abriet, stürzte ich mich im nächsten Moment auf Tyler und knallte ihm eine meiner geballten Fäuste mitten ins Gesicht. Das war längst überfällig gewesen. Egal, ob sie mich dafür im Club gefeuert hätten oder nicht, dieses Schwein verdiente das zu hundert Prozent. Wie konnte er es wagen, so über Ella zu sprechen!
Geschickt wich ich Tyler aus, der mir ebenfalls eine verpassen wollte und schlug wütend immer und immer wieder auf ihn ein. Sein nächster Haken traf meine Lippe. Blut klebte mittlerweile an meinen Knöcheln. Allerdings wusste ich nicht, ob es meines war oder das aus Tylers Nase. Nur aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass ein paar vereinzelte Studenten, die noch nicht in ihren Vorlesungen saßen, stehen geblieben waren.
„Wag es ja nicht Ella auch nur anzusehen!" Ich spuckte ihm die Worte förmlich ins Gesicht. Schwer atmend packte ich Tyler am Kragen und funkelte ihn hasserfüllt an.
Ein letztes Mal traf meine Faust seinen Körper. Die Belustigung in seinen Augen war einem eingeschüchterten, beinahe ängstlichen Blick gewichen. Gut so!
„Zisch ab, Mann!" Ich verpasste ihm einen kräftigen Stoß gegen die Brust und Tyler verschwand hastig den Gang hinunter.
Arschloch.
Ich fuhr mir durch die Haare. Erst jetzt, nachdem das Adrenalin langsam wieder verschwand, spürte ich den stechenden Schmerz in meiner Lippe. Vorsichtig tastete ich meinen Mund ab und stellte resignierend fest, dass dieser blutete.
Plötzlich drang mir aus dem Vorlesungsraum, den ich vor dem Zwischenfall mit Tyler betreten wollte, eine Stimme entgegen, die in einem sehr lauten Ton „Nein!" rief. Moment mal...diese Stimme kannte ich doch! Ich blieb im Türrahmen stehen und entdeckte - Ella?
Okay, das war seltsam. Zumal hier eine Vorlesung für Pädagogik stattfinden sollte und sie meiner Auffassung nach Jura studierte und nicht Lehramt.
Bei genauerem Hinsehen, fiel mir auf, dass ihr Gesicht hochrot angelaufen war und sie sich mehr als betreten im Raum umblickte. Die Studenten waren ziemlich still geworden und blickten neugierig in Ellas Richtung. Dann war sie also diejenige, die hier gerade so laut geworden war.
Immer noch leicht außer Atem lehnte ich mich gegen den Türrahmen und richtete meinen Blick auf Ella.
Es tat mir fast ein bisschen leid mitanzusehen, wie Ella sich in Grund und Boden schämte. Allerdings konnte ich mir das Grinsen kaum verkneifen. Ihre tollpatschige Art war einfach zu süß.
Im nächsten Moment schob ihre Freundin sie Richtung Ausgang. Als die beiden nur noch wenige Meter vor mir entfernt waren, hob Ella den Kopf nur um ihn dann gleich wieder beschämt zu senken, als sie mich erblickte. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden, so sehr faszinierte sie mich. Als die beiden weiter auf mich zukamen, löste ich mich aus meiner Starre und stieß mich von der Tür ab.
„Hey, lange nicht gesehen." Das Grinsen wollte mein Gesicht nicht verlassen. Ella versuchte mich mit ihren Augen böse anzufunkeln, doch sie sah dabei einfach nur unglaublich süß aus.
„Selber hey", murmelte sie. Ihr war die ganze Situation sichtlich unangenehm.
Ich räusperte mich, bemüht, mein Grinsen zu verstecken, um sie nicht zu reizen.
„Mach dir keinen Kopf. Spätestens morgen werden alle den kleinen Vorfall schon längst wieder vergessen haben." Ich nickte mit dem Kopf in Richtung der anwesenden Studenten, die inzwischen wieder in ihre Gespräche vertieft waren.
Sie ging nicht auf meine Aussage ein, sondern betrachtete eingehend meine Lippe. Das war bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass sie das tat. Nur war ihr Ausdruck dieses Mal ein anderer. Besorgnis durchzog ihre leicht gerunzelte Stirn.
Der Geschmack von Blut, welches an meinen Mundwinkeln klebte, erinnerte mich an die Platzwunde. Der Schmerz hatte zwar etwas nachgelassen, doch so wie Ella meine aufgeplatzte Lippe betrachtete, sah es vermutlich immer noch ziemlich schlimm aus.
Ihre kleine Szene hatte mich die Begegnung mit Tyler tatsächlich für einen kurzen Moment lang vergessen lassen. Jedes Mal, wenn ich mich in ihrer Anwesenheit befand, schienen meine Probleme für ein paar wenige Atemzüge zu verblassen.
„Du hast dich geprügelt!", stellte sie schockiert fest. Ihre warmen braunen Augen musterten mich unterdessen intensiv.
Sie machte noch einen Schritt weiter auf mich zu, bis sie unmittelbar vor mir stand. So nah, dass ich den angenehmen Duft riechen konnte, der sie wie eine Aura umgab. Sachte hob sie ihre Hand und führte sie zu meinem Mund, fast so, als wolle sie meine Lippe berühren. Doch im letzten Moment überlegte sie es sich anders und ließ ihren Arm wieder sinken. Etwas unbeholfen stand sie mir gegenüber.
„Das habe ich wohl. Ist aber halb so schlimm". Ich deutete auf meine Verletzung. „Glaub mir Tyler sieht da definitiv mitgenommener aus. Der kommt so schnell nicht wieder!"
„Tyler?!" Blitzartig schoss ihr Blick, der mich bis dahin gemustert hatte, hoch zu meinen Augen.
„Du hast dich mit Tyler geprügelt?" Mir entging nicht, mit welcher Verachtung der Name über ihre Lippen ging. Doch da lag noch ein anderer Ausdruck in ihren Augen. Einer, den ich nicht wirklich deuten konnte. Dankbarkeit? Genugtuung?
Bestätigend zuckte ich mit den Achseln. Ich wollte daraus nicht unbedingt ein großes Ding machen.
„Moment mal, du hast diesen Kerl verprügelt, der Ella im Club blöd angemacht hat?" Jetzt mischte sich auch Ellas Freundin ein, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Anerkennend pfiff sie durch die Zähne. Sie blickte vielsagend zwischen Ella und mir hin und her und warf Ella einen fast schon wissenden Blick zu. Dieser stieg nur erneut die Schamesröte ins Gesicht, während sie versuchte meinem Blick auszuweichen.
„Naja, er hat es nicht anders verdient!", merkte ich an.
Sekunde - war Tyler etwa der Grund dafür, dass Ella sich in diesem Hörsaal befand?
„Du hast ihn auch gesehen, nicht wahr? Im Flur." Ich fing ihren Blick auf. „Ist er dir zu nahe gekommen?"
„Nein, nein. Keine Sorge. Deshalb bin ich ja überhaupt erst hier rein gestürzt. Ich wollte eine direkte Begegnung vermeiden und als der Mistkerl dann in meine Richtung geblickt hat, sind bei mir sämtliche Sicherungen durchgebrannt und ich habe einfach die nächstbeste Tür genommen."
Ich nickte, erleichtert darüber, dass sie ihm nicht erneut ausgesetzt gewesen war.
Ich bemerkte, dass Ella schon wieder mein Gesicht studierte.
„Das muss verarztet werden."
Fragend blickte ich sie an.
„Deine Platzwunde. Sie muss gereinigt werden. Komm mit, ich habe Desinfektionsspray und ein Erste-Hilfe-Set dabei. Maeve, gibst du bitte Bescheid, dass es einen kleinen Notfall gab, falls jemand fragen sollte?"
Ellas Blick war ernst und ließ keine Widerrede zu. Ihre Freundin Maeve nickte, umarmte sie kurz zum Abschied und verließ dann den Hörsaal nach links.
Ella packte mich sanft am Arm und schob mich bestimmt in die entgegengesetzte Richtung zu den Toiletten.
Ich verdrängte das Gefühl von tausenden kleinen elektrischen Schlägen, die ihre Berührung an meinem Arm auslöste.
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