88 - Am I Wrong
────•~❉ ✿ ❉~•────
Kapitel 88
»Am I Wrong«
────•~❉ ✿ ❉~•────
Julia
Als unser Chauffeur den Wagen in die Auffahrt des terrakottafarbenen Hauses lenkte, tauchte die Abendsonne die Umgebung bereits in goldenes Licht. Kaum wurde mir die Autotür geöffnet, drangen auch schon das Hundegebell und Kinderrufe aus der Nachbarschaft zu mir. Es war ein befreiendes Gefühl, von dem Großstadttumult Seouls hier in den Randsiedlungen anzukommen – es erinnerte mich ein wenig daran, wie es sich anfühlte, von Berlin nach Blankenfelde zu fahren.
»Es scheinen alle im Garten zu sein«, murmelte mir Taehyung zu, der nun ebenfalls mit Yeontan aus dem Wagen gestiegen war. Er nickte in Richtung der dichten Kirschlorbeerhecke, hinter der man tatsächlich undeutliches Stimmengewirr ausmachen konnte.
»Lass uns heute nicht so lange bleiben, ja?«, bat ich ihn. »Ich weiß, es ist deine Familie. Aber wenn uns morgen so ein langer Flug bevorsteht, würde ich gern vorher genug Schlaf bekommen.«
»Keine Sorge, ich hatte nicht vor, ewig zu bleiben«, antwortete er und schenkte mir ein versicherndes Lächeln. »Ich habe auch nochmal über die Sache mit dem...du weißt schon...Erzählen vom Körpertausch...nachgedacht. Ich kann das heute doch nicht machen. Es ist...ach, ich weiß auch nicht...«
»Es ist okay«, unterbrach ich sein nervöses Gemurmel schnell. »Ich verstehe dich.«
Wir sahen einander kurz an – wobei »kurz« eine neue Bedeutung bekam, wenn man Blickkontakt mit Taehyung hielt. Dieses Ziehen, welches meine Magengegend durchfuhr, sobald seine Augen an meinen hängen blieben, schien alles um uns herum kurz in Zeitlupe zu versetzen. Es klang kitschig...aber was konnte man schon anderes von Romeo und Julia erwarten? Ich lächelte ihn sanft an und senkte dann meinen Blick mit hitzigen Wangen gen Boden zu Yeontan, der uns mit schwarzen Knopfaugen geduldig musterte.
»Danke«, erwiderte Taehyung schließlich und griff vorsichtig nach meiner Hand. »Na dann...Bereit, nochmal das Vorzeigepärchen zu spielen?«
Ich verstärkte ermutigend unseren Händedruck. »Das wird schon.«
────•~❉ ✿ ❉~•────
Das wird nicht.
Ich konnte dieses Treffen mit Taehyungs Familie und ein paar Leuten aus der Nachbarschaft nicht einmal als Katastrophe bezeichnen – dafür waren hier alle viel zu nett. Dennoch war mein Optimismus bereits nach fünf Minuten am Esstisch verraucht und schwabberte jetzt irgendwo in der Abendluft herum. All diese Augenpaare, die erwartungsvoll auf mir lagen, machten mich allmählich wahnsinnig. Natürlich hofften sie darauf, dass ihr geliebter Taehyung sich ein wenig an ihren Gesprächen beteiligte...doch diesen Gefallen konnte ich ihnen leider nicht tun. Mich hatte allein die Begrüßung mit Umarmungen von allen Seiten so überfordert, dass ich erstmal kraftlos auf dem Stuhl zusammengesackt war und ein halbes Glas Weinschorle meine Kehle hinuntergekippt hatte.
Doch von all den Blicken, die sich immer mal wieder neugierig auf mich legten, beängstigte mich einer am meisten. Was wollte Jeongyu nur von mir? Ich spürte, wie seine Augen pausenlos an mir klebten und mich scheinbar durchbohren wollten. Bisher hatte ich sein Gestarre kein einziges Mal erwidert – zu groß war die Angst, er könne mich durchschauen. Dass er das schräge Verhalten seines »Bruders« beim letzten Besuch nicht vergessen hatte, stand überhaupt nicht zur Debatte. Wenn ich Pech hatte, hatte er sogar Nachforschungen angestellt...aber ob man dabei eine passable Wahrscheinlichkeit auf Erfolg besaß? Ich konnte nur beten, dass dem nicht so war.
Um mich nicht komplett in meiner Paranoia zu verlieren, konzentrierte ich mich auf Taehyung, der sich gerade angeregt mit seiner älteren Cousine unterhielt. Er war die einzige Person hier, mit der ich vertraut war...doch ich wollte mich nicht an ihn klammern. Wir würden die kommenden Wochen in Amerika ohnehin wieder den lieben langen Tag aufeinander hocken, also wollte ich ihm nun wenigstens den Freiraum mit seiner Familie lassen – so sehr es mir auch widerstrebte. Insgeheim wäre es mir am liebsten, wenn er die ganze Zeit nicht von meiner Seite weichen und mir alle Gespräche abnehmen würde.
»Taehyung, Jeongyu, könnt ihr mich bitte ein wenig beim Grillen unterstützen? Ich habe hier wirklich alle Hände voll zu tun!«, rief Taes Vater vom anderen Ende des Gartens und versetzte mich damit in eine fürchterliche Schockstarre.
Meine Muskeln fühlten sich wie gelähmt an. Ich sollte...was?! Nein. Auf keinen Fall. Die bloße Vorstellung davon, allein mit den beiden Männern in einer Ecke zu stehen und Tierüberbleibseln auf einem Metallrost beim Bräunen zuzusehen, schnürte mir halb die Kehle zu. Ich spürte mehr unterbewusst, wie sich die Hand von Taehyungs Tante auf meinen Arm legte. Es sollte wohl eine fürsorgliche Geste sein, doch ich hatte alle Mühe, mich nicht zu verkrampfen und weg zu zucken.
»Na los, mein Guter, geh deinem Vater helfen«, lächelte sie.
Die Angst davor, von ihr in ein Gespräch verwickelt zu werden, befreite mich schließlich aus meiner Starre und verhalf mir dabei, mich von meinem Stuhl zu erheben. Jeongyu sah mich schon wieder abwartend an, doch ich schenkte meinen Blick lieber Taehyung, der mich ebenfalls kurz besorgt musterte. Meine Lippen erbarmten sich dazu, ihm ein versicherndes Lächeln zu schenken, ehe ich neben seinem Bruder her Richtung Grill schlurfte.
»Komisch«, zischte Jeongyu leise und mit einem abfälligen Ton in der Stimme. »Sonst bist es immer du, der so verbissen darauf ist, dass ich ihm Beachtung schenke. Und heute muss ich dich anflehen, mich auch nur eines Blickes zu würdigen?«
Ich schluckte die aufkommende Panik hinunter und lächelte stattdessen verbissen Taes Vater zu, der uns wiederum freudig zuwinkte.
»Lass gut sein, Jeongyu«, flüsterte ich durch die Zähne zurück. Erwidern konnte er nichts, denn nun befanden wir uns in der Hörweite seines Vaters.
»Wie ich sehe, nähert ihr Jungs euch wieder an«, strahlte dieser und übergab mir die fettige Grillzange, die ich angewidert möglichst weit weg von meinem Gesicht hielt und schließlich schnell an Jeongyu weiterreichte. »Das freut mich. Dann lass ich euch hier mal allein, ja? Ich wollte ohnehin noch etwas Holz für das Lagerfeuer heute Abend hacken.«
»Ja, wir kriegen das allein hin«, erwiderte ich schnell und versuchte dabei nicht zu erleichtert zu klingen, zumindest einen von den beiden losgeworden zu sein. So gemein das auch sein mochte.
Während Jeongyu die Hähnchenstücke auf dem Grill zu wenden begann, warf ich einen Blick in Richtung des Tisches, an dem ich bis vor wenigen Sekunden selbst gesessen hatte. Ungefähr fünfzehn Personen unterhielten sich dort angeregt, lachten miteinander und lagen sich in den Armen. Ein wenig entfernt bei den Obstbäumen balancierten Taes kleine Cousins und die Nachbarskinder auf der Slackline, nur um sich dann gegenseitig herunter zu schubsen und kreischend durch den Garten zu jagen.
Taehyungs Familie war so unglaublich herzlich, offen und vertraut. Sie nahmen Tae als »Julia« einfach in ihren Kreisen auf, stellten Fragen und ließen sich deutsche Wörter beibringen. Sogar die Kleinen waren schon auf ihn zugekommen und hatten ihn schwören lassen, nachher ebenfalls die Slackline auszuprobieren. Wäre ich nicht gerade im falschen Körper, würde auch ich mich hier unglaublich wohl fühlen. Aber diese Situation würde nie kommen, dessen war ich mir bewusst.
»Na, Sehnsucht nach deiner Familie?«, fragte Jeongyu hämisch.
»Jeden einzelnen Tag«, murmelte ich wahrheitsgemäß – nur eben nicht auf die Familie bezogen, von der er redete. »Aber jetzt bin ich ja wieder hier. Es ist schön, alle zu sehen.«
»Das meinte ich eigentlich nicht«, erwiderte Jeongyu, doch als ich ihn fragend ansah, wandte er sich schulterzuckend wieder dem Grill zu.
Ich musterte ihn für einen kurzen Moment. Jetzt, wo das Abendlicht der Sonne ihn so von der Seite anstrahlte, wurde mir das erste Mal vollends bewusst, dass er die gleiche natürliche Schönheit wie Taehyung besaß, die ihn wie ein Gemälde-Ausschnitt wirken ließ – zu ästhetisch, um real zu sein. Die beiden sahen einander wirklich extrem ähnlich. Nur die Kommunikation lief mit Taehyung inzwischen um einiges besser...bei Jeongyu stand ich in dem Zwiespalt, dass ich ihn einerseits um jeden Preis meiden wollte, andererseits dringend in Erfahrung bringen musste, was er über unsere Situation wusste. Er machte ständig diese komischen Anspielungen...
Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um mit intelligenten Fragen etwas aus Jeongyu herauszubekommen, ohne selbst zu viel verraten...doch in dem Moment hörte ich einen lauten, kindlichen „Taehyung!"-Ruf. Inzwischen war ich so daran gewöhnt, auf diesen Namen zu reagieren, dass ich mich sofort reflexartig umdrehte. Ein kleines Mädchen, vermutlich um die vier Jahre alt, rannte mit ihren kleinen Beinchen über den Rasen direkt auf mich zu.
Schnell entfernte ich mich ein paar Schritte vom Grill, damit auch die Kleine nicht in dessen Nähe kommen würde. Dann beugte ich mich ein wenig hinunter und streckte die Arme aus, woraufhin sie sofort laut zu lachen und schneller zu rennen begann. Ich konnte gar nicht verhindern, dass sich ein breites Grinsen auf meinen Lippen ausbreitete und eine unglaubliche Wärme in Wellen durch meinen Körper schwappte. Fröhliche Kinder machten mich einfach so glücklich.
Als die Distanz zwischen uns fast völlig aufgehoben war, griff ich nach den Hüften des kleinen Mädchens und wirbelte sie einmal durch die Luft, wobei ihre zwei Zöpfe wild hin und her flogen und laute, schrille Jauchzer ihre Kehle verließen. Ich lachte ebenfalls und drückte ihren zierlichen Körper fest an mich.
Noch während ich sie knuddelte, drehte ich den Kopf zum Tisch, wo die anderen saßen, und suchte Taehyungs Blick. Als ich feststellte, dass er mich bereits mit einem sanften Lächeln auf den Lippen anstarrte, durchfuhr ein plötzliches Kribbeln meinen Magen. Ich lächelte zurück und wandte mich dann mit schnell schlagendem Herzen ab, um das Mädchen wieder auf dem Boden abzusetzen.
»An deiner Stelle würde ich nicht so glücklich-verliebt gucken«, meinte Jeongyu plötzlich ganz beiläufig. »Diese Kleine hier ist nämlich die Tochter deines Lieblingshalbcousins. Und dem stehst du so nah, dass ihm jegliches verdächtiges Verhalten deinerseits auffallen wird. Glaub mir...dem Typen kannst du nichts vormachen. Viel Glück dabei, mit euren vielen Inside-Jokes und alten Handschlägen mitzuhalten.«
»W-was?«, stotterte ich und starrte das Mädchen an. Von einem Lieblingshalbcousin hatte mir Taehyung nichts erzählt! Oder...doch, hatte er! Aber er hatte ihn nur in einem Nebensatz erwähnt, weil der Typ eigentlich inzwischen im Ausland lebte und eh nie zu Besuch war. Wieso zur Hölle sah ich ihn dann gerade dort Hand in Hand mit einem anderen Mann in den Garten spazieren?! Oh nein.
»Appa!«, rief das Kind vor mir laut und begann auf die Männer zuzurennen. Jeongyu musterte mich mit einer gewissen Genugtuung im Blick.
»Was wirst du jetzt tun? Zu Julia«, er setzte den Namen in Anführungszeichen, »rennen und um Hilfe betteln? Wie werdet ihr rechtfertigen, dass sie die Insider kennt, aber du nicht?«
Mein Blick flog tatsächlich zu Taehyung, der alarmiert zurücksah. Offenbar hatte er inzwischen selbst verstanden, dass dieses kleine Kind und vor allem dessen Vater ein riesiges Problem werden könnten. Doch ich schüttelte langsam den Kopf und nickte zu Jeongyu. Komm nicht her, dein Bruder weiß irgendetwas, wollte ich ihm damit sagen.
»Was ist dein Problem, Jeongyu?«, zischte ich ihm entgegen.
»Ich will die Wahrheit wissen«, erwiderte er mit durchdringender Stimme. »Gib zu, dass du etwas mit Nankurunaisa zu tun hast, und ich helfe dir.«
Mein Magen verkrampfte sich sofort bei der Erwähnung des Spiels. Jeongyu wusste zu viel...viel zu viel. Panisch flog mein Blick von ihm zum Großcousin und wieder zurück.
»W-was? Was redest du da? Ich –«
»Ja oder nein?«, unterbrach er mich zischend.
Der Typ inklusive Lebenspartner näherte sich noch immer in stetigem Tempo. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken und ich versuchte, meine Atmung und meine Finger ruhig zu halten. Verdammt, aus dieser Sache hier würde ich nicht kompromisslos rauskommen. Entweder vor Jeongyu auffliegen, der eh schon extreme Vermutungen hatte, oder vor einem mir fremden Großcousin...
»Okay«, murmelte ich durch die Zähne und behielt dabei das gezwungene Lächeln auf den Lippen. »Ja. Es gibt eine Verbindung.«
Ich beobachtete, wie Jeongyu neben mir kurzzeitig in eine Art Schockstarre fiel und nicht zu wissen schien, wie er mit der Situation umgehen sollte. Das war meine Bestätigung, dass er bereits so viele Informationen hatte, dass unsere Verbindung zu Nankurunaisa lediglich das letzte fehlende Teil in dem Puzzle war, das er sich zusammengelegt hatte. Wie auch immer ihm dies gelungen war.
Zum Glück schien er sich schnell wieder zu fangen, denn er griff hastig nach der Flasche Whisky, die auf dem Beistelltisch neben dem Grill stand, und reichte sie mir.
»Kipp das in den Grill. Schnell.«
»Bitte was?!«, quiekte ich.
»Mach schon.«
»Was Besseres hast du nicht?!«
Er verdrehte die Augen. »Dann lass deinen Vorschlag hören. Nur zu.«
»Ist ja gut«, fauchte ich zurück.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich die Flasche Whisky über den Grill hielt und kippte, bis der erste Schluck Alkohol zischend auf ein Steak floss. Beruhigt davon, keine Stichflamme erzeugt zu haben, goss ich mutig etwas mehr auf das Fleisch, bis der Whisky auf die Kohlen tropfte. Nun begann ein wildes Feuer inmitten des Grills zu züngeln. Ich zuckte überrascht zusammen und sprang zurück.
Jeongyu nickte mir zufrieden zu, drehte sich dann zu diesem Großcousin um und brüllte laut: »Sorry, Minhyuk, wir sind gerade mit Flambieren beschäftigt! Wir begrüßen euch später!«
»Das nennt man Brandstiftung, nicht Flambieren«, zischte ich Jeongyu leise zu. Ich würde ihm nicht die Genugtuung geben und zeigen, wie erleichtert ich war, dass die beiden Männer uns nun tatsächlich nicht mehr ansteuerten, sondern Richtung Esstisch liefen.
Taehyungs Bruder schnaubte und stellte sich neben mich an den Grill, um sich um das Fleisch zu kümmern. »Du schuldest mir eine Erklärung für das alles, Julia.«
Ich sog scharf Luft ein. »Ich bin nicht Julia. Julia sitzt da drüben.«
Mein Kopf schaffte es einfach nicht, zu verarbeiten, dass es da womöglich eine Person gab, die ich nicht davon überzeugen hatte müssen, mir die Sache mit dem Körpertausch zu glauben. Dass es da jemanden gab, der es von selbst herausgefunden hatte und dem Desaster Glauben schenkte. Jeongyu war wirklich...unglaublich.
»Warum versuchst du so verzweifelt, dieses Lügengestell aufrechtzuerhalten? Ich kenne die Wahrheit«, murmelte er leise, schien aber selbst noch etwas baff.
»Hast du keine Angst?«
»Vor dir?«, lachte er auf, doch ich nickte völlig ernst, also setzte auch er wieder eine nachdenkliche Miene auf. »Nein. Taehyung vertraut dir so sehr, dass er dich mit hierhergebracht hat. Und so lange du sein Vertrauen hast, habe ich keinen Grund zur Angst.«
Ich schluckte. »Und du glaubst ehrlich an...?«
»Körpertausche? Noch nicht so lange«, gab er zu und kratzte sich am Hinterkopf. Er wagte es nicht, mich anzusehen. Vielleicht fiel es ihm nun doch schwer, hinter diesem Körper eine andere Person zu sehen.
»Ich kann nicht fassen, dass du das alleine herausgefunden hast.«
»Und ich kann nicht fassen, dass all meine Arbeit nicht umsonst war und meine Theorie, dass ihr Körper getauscht habt, tatsächlich stimmt«, erwiderte er, während er das Fleisch auf dem Grillrost drehte und etwas Whisky nachkippte.
»Du hast all diese Arbeit auf dich genommen, weil du dir Sorgen um Taehyung gemacht hast, richtig?«, murmelte ich. »Er ist dir wichtiger, als du je zugeben würdest.«
Jeongyu starrte stur in die Flammen des Grills. »Nachdem ihr das letzte Mal hier wart, dachte ich wegen Taehyungs komischen Verhaltens wirklich, er ist total abgestürzt und drogenabhängig. Nicht, dass ich mir Sorgen gemacht hätte oder so...mir taten Eomma und Appa leid, das ist alles.«
»Also hast du Nachforschungen angestellt...und die Theorie mit dem Körpertausch kam da genau richtig«, ergänzte ich.
»Es war ein Wunschdenken, verstehst du? Eine Erklärung, an die ich mich klammern konnte, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass mein Bruder ein Junkie sein könnte, wenn doch alle Anzeichen dafürsprachen. Ich dachte, ich werde ein Wahnsinniger...aber plötzlich hat das mit dem Körpertausch immer mehr Sinn gemacht und ich hab angefangen, es wirklich zu glauben...oder zu hoffen. Wie auch immer. Jedenfalls ist es erleichternd, festzustellen, dass ich nicht verrückt bin und Taehyung nicht abhängig.«
Ich nickte langsam. »Aber es muss doch trotzdem schwer sein, zu akzeptieren, dass der eigene Bruder einen Teil seiner eigenen Identität verloren hat, oder?«
»Es fühlt sich überraschend gut an, zu sehen, wie er in einem Frauenkörper gefangen ist und kein Idol mehr sein kann. Er hat es eh nicht verdient, auf der Bühne zu stehen.«
»Hey!«, fuhr ich ihn an. »Das ist nicht wahr. Taehyung ist ein außergewöhnlicher Performer. Das habe ich selbst endgültig verstanden, als ich ihn auf der Bühne imitieren sollte. Es war mir nicht möglich, sein Charisma einzufangen.«
»Wenn du meinst.«
Wir beide sahen nachdenklich zu Taehyung, der unsere Blicke schnell bemerkte. Er musterte mich mit einer gehobenen Braue und als ich behutsam nickte, stand er sofort vom Tisch auf und kam zu uns herübergeeilt. Ich lief ihm ein Stück entgegen und zog ihn dann in eine feste Umarmung. Tae schien überrumpelt, legte aber sofort seine Arme um mich und presste mich noch ein Stück fester an sich. Sein warmer Atem streifte mein Ohr, als er sich zu mir vorbeugte, und ließ mich erschaudern.
»Ist alles in Ordnung?«, wisperte er auf Deutsch.
»Mehr oder weniger«, erwiderte ich leise und vergrub mein Gesicht nervös in seiner Halsbeuge. »Jeongyu weiß Bescheid über den Körpertausch. Es tut mir so leid, Tae.«
Ich würde ihn nicht mehr anlügen, das hatte ich mir selbst irgendwann versprochen. Dennoch fürchtete ich mich ein wenig vor seiner Reaktion. Würde er wie beim letzten Mal wütend reagieren und seine Emotionen nicht kontrollieren können? Jetzt gerade schien er etwas unschlüssig zu sein, wie er reagieren sollte...
»Es ist okay«, flüsterte er und strich mir langsam über den Rücken. »Wir klären das.«
Wir lösten uns voneinander, doch Taehyung griff direkt wieder nach meiner Hand und schenkte mir ein beruhigendes Lächeln, ehe er sich seinem kleinen Bruder zuwandte. Jeongyu musterte ihn missmutig. Die beiden interagieren zu sehen, rief sofort ein beklemmendes Gefühl in mir hervor – man merkte mit jedem kleinen Blick, wie viel Unausgesprochenes da zwischen ihnen lag. Es war wie die Grenze zwischen Atlantik und Pazifik, wo das Wasser in unterschiedlichen Farben gegeneinander schwappte und eine harte Kante voller Gischt entstand. Diese Gischt schäumte noch mehr auf, wenn die beiden einander ansahen, und Wellen wurden zu meterhohen Türmen, wenn sie das Wort an den jeweils anderen richteten. Mein Blick huschte nervös zwischen ihnen hin und her.
»Du weißt es also?«, fragte Taehyung dümmlich und biss sich gleich darauf auf die Unterlippe, um auf ihr herumzukauen.
»Logisch«, erwiderte Jeongyu und sah zur Seite. »Nicht jeder ist so schwer von Begriff wie du. Es war so offensichtlich, dass ich es sogar ohne jegliches Zutun herausbekommen hab.«
Taes Mundwinkel zuckte verdächtig. »Charmant wie eh und je.«
»Kann ich auch über dich sagen«, hielt Jeongyu sofort dagegen an und musterte seinen Bruder durchdringend. »Oder findest du es charmant, alle hier anzulügen?«
»Dieser Vorwurf ist nicht fair, und das weißt du auch. Es ist ja nicht so, als wäre ein Körpertausch etwas, das man der Familie leichtfertig bei einem Kaffeekränzchen erklären könnte. Es tut mir ehrlich leid, dass ich es euch nicht sagen kann und euch stattdessen Lügen auftischen muss. Und ich bin stolz darauf, dass du es selbst herausfinden konntest. Aber dir ist hoffentlich bewusst, dass du diesen Triumph für dich behalten musst. Die anderen dürfen es nicht auf diesem Weg erfahren.«
Die beiden starrten einander unentwegt an, wobei ich als mittellose Zuschauerin fast die Nerven verlor. Ich war nicht in der richtigen Position, mich hier einzumischen – niemand war das. Taehyung und Jeongyu hatten ein Gespräch ohne den Einfluss anderer Personen dringend nötig, weshalb ich mich am liebsten sogar verzogen hätte. Aber Taehyung hielt meine Hand noch immer fest...und ich wusste nicht, wessen Finger gerade mehr zitterten.
Jeongyu stieß schließlich laut Luft aus und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin nicht dumm, weißt du?«
»Ist das deine Art, mir zu versichern, dass unser Geheimnis bei dir sicher ist?«
»Es ist meine Art, dir zu sagen, dass du als großer Bruder verkackt hast«, antwortete Jeongyu, wobei er nicht einmal wütend klang. Einfach nur verletzt. »Nur, weil du uns verlassen hast, als ich noch ein kleiner Junge war, heißt das nicht, dass ich immer noch dieses kindlich-naive Denken habe. Ich habe auch dazugelernt, okay? Im Gegensatz zu dir weiß ich, dass mein Handeln Konsequenzen hat. Auch, wenn dir die Leute vielleicht verzeihen, wird es nicht mehr wie vorher. Und genau deswegen würde es mir nie auch nur im Traum einfallen, dieses Geheimnis auszuplaudern. Projiziere deine eigenen Fehler nicht auf andere, Bruderherz.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top