66 - Hongkong Pt. II

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Kapitel 66
»Hongkong Pt. II«

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Julia

»Alles okay bei dir? Wie war der Soundcheck? Hat es dir arg viel ausgemacht, da oben zu stehen?«

Angesichts der Fragen, mit denen mich Taehyung bombardierte, kaum hatten wir den Aufenthaltsraum wieder betreten, musste ich erst einmal heftig blinzeln. Schlimm genug, dass mir immer noch das Geschrei der Fans in den Ohren klingelte, die ein heiß ersehntes Ticket für den Soundcheck zugelost bekommen hatten. Meine Finger zitterten ebenfalls noch ein wenig, aber ansonsten überraschte es sogar mich selbst, wie gut mein Zustand gerade war.

»Es geht schon«, antwortete ich ihm ehrlich und ließ meinen Blick durch den Green Room schweifen. Nur die Members und eine engere Auswahl des Staffs wuselten herum, tummelten sich am Buffettisch oder fläzten sich auf die Sofas.

Mit dem Soundcheck hatten wir den ersten Stressfaktor des Tages überstanden. Nun blieben uns noch ganze fünf Stunden bis zum Konzertbeginn. Ehe es dann in zwei Stunden in die Maske ging, durften wir alle erstmal ein bisschen runterkommen und eigenen Beschäftigungen nachgehen. Die Crew würde unterdessen sämtliche Technikeinstellungen, die beim Soundcheck noch nicht perfekt gewesen waren, anpassen. Namjoon hatte irgendetwas davon erzählt, dass sie den Reverb-Effekt definitiv verringern müssten, aber ich hatte nicht wirklich verstanden, was er meinte. Viel zu beschäftigt war ich damit gewesen, mich an die ganzen Gerätschaften zu gewöhnen, mit denen ich verkabelt worden war. Zwar hatten wir unsere In-Ear-Monitor-Sets schon im Vorhinein ausprobiert, aber auf der Bühne hatte es mich dennoch ein wenig überfordert. Es war so seltsam gewesen, mit einem Schlag das Geschrei zum großen Teil ausgeblendet zu haben und stattdessen nur noch die Melodie des entsprechenden Songs zu hören. Ganz so, als würde man sich in einer eigenen, kleinen Blase befinden...

Ansonsten war der Soundcheck tatsächlich besser als gedacht gelaufen. Maya und ich hatten Gesichtsmasken tragen dürfen und eigentlich war es wirklich nur darum gegangen, den Text zu den angespielten Songs zu singen und ein bisschen auf der Bühne herumzulaufen. Und eben einen auf Taehyung zu machen. Die Fans, die da gewesen waren, hatten nicht einmal die Hälfte des ohnehin begrenzten Stehbereichs gefüllt. Trotzdem waren sie so gut wie alle mit ARMY-Bombs, Merchandise, Plakaten, Lichterketten und Knicklichtern ausgestattet gewesen.

Es hatte sich so seltsam angefühlt, zusammen mit den anderen hinaus auf die Bühne zu laufen. Die Jungs hatten Maya und mir im Vorhinein empfohlen, nie an einem Fleck stehen zu bleiben, um die Beine vom Zittern abzuhalten, weshalb ich tatsächlich konstant in Bewegung geblieben war. Die Beleuchtung hatte man angelassen, so dass eigentlich noch gar kein Konzert-Feeling aufgekommen war, trotz der Scheinwerfer-Tests und der dröhnenden Musik. Die Fans hatten gekreischt, als wäre ihnen Gott höchstpersönlich erschienen, so dass man es noch weit bis in die Hallen des Backstage-Bereichs gehört hatte...doch ich konnte es ihnen nicht wirklich verübeln. Wie sehr hätte ich mich vor wenigen Monaten noch an ihre Stelle gewünscht? Tatsächlich tat ich es jetzt nach wie vor...denn dort unten zu stehen, würde für mich bedeuten, dass alles beim Alten wäre.

Zu meiner großen Überraschung war die erste Aufregung gegenüber den ARMYs allerdings relativ schnell verflogen. Es gab ja beim Soundcheck auch echt nicht viel, was man falsch machen konnte. Jimin hatte sich einmal in seiner Stimmlage verhaspelt, woraufhin er peinlich berührt das Gesicht in den Händen vergraben hatte – die Fans allerdings waren in Jubelrufe ausgebrochen, als hätte er etwas besonders gut gemacht. Irgendwie hatte mir genau dieser Moment extrem viel Zuversicht gegeben. Selbst, wenn etwas schief gehen sollte, so wäre da draußen wahrscheinlich niemand, der mich dafür verurteilen würde. Ich wusste es ja am besten von meinem eigenen Fan-Dasein...Ich hätte es genauso getan.

»Puh, das erleichtert mich gerade wirklich«, seufzte Taehyung schließlich mit einem freudigen Lächeln und stemmte die Arme in die Seiten. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich hier gezittert habe. Aber wenn du den Soundcheck gut hinbekommen hast, dann läuft das bei der Show allemal!«

Es tat gut, den Sänger so zuversichtlich zu sehen. Seit Boy With Luv und all den Gesprächen, die wir danach geführt hatten, gab er mir ein so viel besseres Gefühl bei dem, was ich tat. Eigentlich, so fiel mir genau in diesem Moment auf, war Taehyung eine wahre Motivationsspritze. Man musste eben nur im richtigen Verhältnis zu ihm stehen...so wie ich es ausnahmsweise – und ein Glück – gerade tat.

Ich musste sogar zugeben, dass ich es genoss, als ich kurz darauf mit ihm und Jungkook auf einer der bereitgestellten Couches saß und Reis mit typisch chinesisch zubereitetem Gemüse futterte. Sogar Taehyung verzichtete heute ganz bewusst auf das Fleisch, das es wirklich zur Genüge am Buffet gab, und grinste mich nur dämlich mit einem Mund voller Karotten und Sojasprossen an. Tatsächlich konnte ich in diesem Moment nicht anders, als ebenfalls dämlich zurückzugrinsen.

Niemals hätte ich gedacht, dass sich die Zeit kurz vor dem Beginn des Konzerts so entspannt gestalten würde. Hier in diesem Aufenthaltsraum kam eine geradezu urige, familiäre Atmosphäre auf, die in mir eine gewisse Geborgenheit erweckte. Nie zuvor hatte ich mich den anderen Members auf diese schräge Art so nah gefühlt. Irgendwann liefen wir alle mit Zahnbürsten durch den Raum, filmten hier und da lustige Videos voneinander oder nutzten die Mikrowelle am Buffet, um die Süßigkeiten zu schmelzen, damit wir das Obst – aufgespießt mit Zahnstochern – mit Schokolade ummanteln konnten. Jungkook rannte zum Aufwärmen zwei Kilometer auf dem Laufband und wurde dabei die ganze Zeit von Jimin geneckt. Taehyung zeigte mir unterdessen seine eigenen Kunstwerke, die er auf seinem privaten Insta-Account postete, und ich erzählte ihm ebenfalls von meiner Leidenschaft fürs Malen und Zeichnen. Lange Rede, kurzer Sinn: Mir ging es in diesem Zeitraum vor dem Konzert so gut wie schon lange nicht mehr.

Ein schlechtes Gewissen bekam ich nur dann, wenn mein Blick hinüber zu Maya fiel. Sie saß alleine mit Hoseok auf einer Couch und sah ständig so aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Gegessen hatte sie so gut wie gar nichts. Der Rapper redete ständig auf sie ein und ab und zu bewegte er sie auch dazu, aufzustehen und noch einmal langsam ein paar Schritte durchzugehen. Während ich sie dabei beobachtete, konnte ich nur unendlich dankbar sein, wie absolut wenig Choreografie ich für den heutigen Abend hatte lernen müssen. Auf der anderen Seite fühlte ich mich unsagbar schlecht, weil ich hier bei Taehyung saß und mich schlichtweg weigerte, auf sie zuzugehen.

Ich sah auch Yoongi, der Maya, ebenso wie ich selbst, immer wieder beobachtete. Doch genau wie ich machte er keine Anstalten, sich zu ihr zu bewegen. Als befände sich eine unsichtbare Mauer um sie herum, die uns beide daran hinderte, einen Schritt auf sie zuzumachen. Das war wirklich ein Punkt, der mich absolut frustrierte.

Von all der Entspannung und Geborgenheit musste ich mich dann jedoch mit einem Schlag um 17 Uhr verabschieden, als Sejin zu uns in den Raum kam und uns allen Zettel mit ein paar kantonesischen Vokabeln reichte.

»Geht sie in der Maske nochmal gründlich durch. Und wärmt eure Stimmen bitte vernünftig auf. Vergesst nicht, eure Vitamine zu nehmen und die Magnesium-Drinks zu trinken. Falls ihr noch irgendwelche Rückfragen habt, wendet euch wie immer ans Team. Noch drei Stunden bis zur Show. Los geht's.«

Mein Körper durchfloss mit einem Schlag so eine riesige Menge an Adrenalin, dass ich mich schüttelte und meine Hände zwischen die Oberschenkel klemmen musste. Taehyung warf mir einen prüfenden Blick zu, doch ich zwang mich zu einem Lächeln und hob den Daumen – der verdammt stark zitterte.

»Jetzt nicht in Panik verfallen«, sagte Namjoon zu Maya und mir, als wir alle gemeinsam von der Security Richtung Garderobe eskortiert wurden. »Lenkt euch irgendwie ab. Hört Musik oder lest irgendetwas.«

»Liest man so als Fan eigentlich Fanfictions?«, warf Jungkook grinsend ein.

»Hör auf damit«, erwiderte Jin sofort kopfschüttelnd. »Denkbar schlechtester Zeitpunkt für solche Fragen.«

Ich schluckte schwer und versuchte mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Doch nichts Schönes, worüber ich jetzt zur Ablenkung nachdenken könnte, wollte mir in den Sinn kommen. Eigentlich dachte ich gerade gar nichts. Da war einfach nur diese Panik, die jede Zelle meines Körpers füllte. Denn erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, was mir heute Abend eigentlich bevorstand. Dass der kleine Fanhaufen beim Soundcheck wahrlich ein Witz gewesen war zu der Menge an Menschen, der ich mich in wenigen Stunden stellen musste.

In der Garderobe ging es viel unruhiger als noch im Aufenthaltsraum zu. Hier und da wurde schon für den YouTube-Kanal gefilmt und jeder schien irgendetwas von Sejin zu wollen. Der Manager hatte alle Mühe, den Bitten und Fragen der Crew-Mitglieder nachzugehen, während die Members, Maya und ich in unsere Bühnenoutfits gesteckt wurden. Wir alle mussten schwarze Glitzeranzüge anziehen, allerdings trugen Namjoon, Jin und Jungkook noch eine Krawatte dazu. Mein Hemd hingegen war das einzige, was am Saum des Ärmels noch diese nervigen Bänder hatte, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen.

Während ich mich in diesem funkelnden Aufzug im Spiegel betrachtete, fühlte ich mich so fehl am Platz, dass ich am liebsten einfach weggerannt wäre. Das hier...das war einfach nicht ich. No shit, Sherlock – natürlich war ich nicht ich. Ich steckte in Kim Taehyungs Körper. Aber bislang war es immer so gewesen, dass ich mich nie durch diese Hülle definiert hatte. Ich wusste, wer ich war. Julia Maiwald. Doch jetzt gerade sah ich mich nicht mehr. Als wäre diese Julia nun endgültig von uns gegangen, um Platz für die Persona von V zu machen.

»Hey, ist alles okay bei dir? Du bist blass«, murmelte Taehyung, als er auf mich zugelaufen kam.

Ich schüttelte den Kopf. »Ne, ich...ich weiß nicht. Mir ist ein bisschen komisch. Aber wird schon. Nichts Ernstes.«

»Sicher?«, hinterfragte er mit besorgter Miene. »Warte, ich hole dir ein paar Bachblüten-Bonbons. Die helfen.«

Während Tae sich wieder von mir entfernte, suchte ich in der Menge von Teammitgliedern, die allesamt die gleiche schwarze Strickjacke mit dem BTS-Aufdruck trugen, nach Yoongis Gesicht. Ich musste mich unbedingt vergewissern, dass es Maya den Umständen entsprechend gut ging. Dass dies absolut nicht der Fall war, erkannte ich, als ich sie letztendlich neben Hoseok entdeckte. Was hatte ich überhaupt erwartet? Dass sie lächelnd einen Freudentanz aufführen würde?

Ganz sicher nicht. Maya gab sich im Gegensatz zu mir nicht einmal besonders Mühe, ihre Panik zu verstecken. Wie ein einziges Nervenbündel wippte sie neben Hobi hibbelig auf und ab, während dieser ihre Schulter festhielt und sie irgendwie versuchte davon abzuhalten, sich komplett in Rage zu reden. Denn wenn Maya einmal anfing, vor Angst vor sich hinzubrabbeln, dann bahnte sich der Heulkrampf quasi bereits an. Und das konnte sie sich hier vor den vielen Staff-Leuten definitiv nicht leisten.

»Kim Taehyung-ssi bitte in die Maske!«, rief eine weibliche Stimme.

Mein Blick wanderte von meiner besten Freundin ein letztes Mal zurück zum Spiegel und ich musterte Taehyungs Gesicht resigniert. Es stand ihm so viel besser...er konnte diese Augen strahlen lassen...und diese ulkigen Grimassen ziehen...und lachen, bis sich tiefe Falten um den Mund bildeten. Alles, was ich tat, war ihn leblos und depressiv aussehen zu lassen. Mundwinkel unten, Augen leer, Brauen vor Sorge zusammengezogen. Nichts daran war schön. Wenn ich daran dachte, dass die ARMYs ihr Idol heute so sehen würden, wurde mir richtig übel. Sie hatten etwas Besseres verdient. Aber ich eigentlich auch, oder? Was hatte ich falsch gemacht, dass das Schicksal mich mit einer derartigen Situation bestrafte?

»Kim Taehyung-ssi bitte in die Maske!!«, wiederholte die gleiche Frau nun ungeduldiger und lauter.

Das half mir, mich endlich von dem Spiegelbild loszureißen und zur Maske zu gehen, wo ich mich sofort auf den Stuhl setzte. Die Visagistin schien ein wenig genervt von meiner Verspätung zu sein, weshalb ich mich zu einer kleinen Entschuldigung durchrang. Sie tat ja nur ihren Job. Und ich tat meinen. Also Taehyungs.

Genau dieser tauchte nun wieder an meiner Seite auf, dieses Mal mit einer Handvoll Bonbons. »Hier. Die sind echt gut und beruhigen dich ein wenig.«

»Danke. Aber mach dir keinen Kopf, mir fehlt nichts«, murmelte ich und schielte zu ihm. Die Arbeit der Visagistin hinderte mich daran, mich ihm gänzlich zuzuwenden.

Taehyung zog sich einen Stuhl zu mir heran und setzte sich einfach neben mich, wodurch er einige verwirrte Blicke erntete. Doch es schien ihn nicht weiter zu kümmern, denn er ignorierte sie beflissen und begann stattdessen, mir stolz zu zeigen, dass er das Flechten gelernt hatte.

»Die Haare sind etwas kurz...aber schau mal, klappt doch schon ganz gut«, strahlte er.

Wir sahen einander durch den Spiegel an und ich hob die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. »Ja, sieht gut aus.«

»Noch zwei Stunden bis zur Show!«, rief Sejin laut durch den Raum, woraufhin mein Herz ein paar Schläge aussetzte und meine Finger sich fester an den Stoff meiner Hose krallten. Wie zur Hölle war die letzte Stunde so schnell vergangen? Die Zeit bis zum Auftritt schien zu rasen!

Tatsächlich kam es mir so vor, als wären wir hier Backstage in einer anderen Dimension gefangen, in der die Uhren anders tickten. Schneller. Denn als meine blauen Haare fertig gestylt waren, sämtlicher Schmuck von mir baumelte und wir gerade zusammen nochmal unsere Reden durchgegangen waren, verkündete der Manager auch schon, dass uns noch eine Stunde bis zum Auftritt blieb.

»Nicht. Hör auf damit. Sonst müssen sie dich nochmal schminken«, sagte Jimin zu mir und umgriff mein Handgelenk. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich wieder mal vor Aufregung angefangen hatte, an meiner Lippe zu pulen. Mit einem entschuldigenden Blick ließ ich die Hand schnell wieder sinken.

Die Stimmung im Raum war nun spürbar geladen. Jeder schien ein wenig mit seinen eigenen Gedanken und dem eigenen Lampenfieber beschäftigt zu sein, wobei die Members ihre Aufregung natürlich viel professioneller als Maya und ich in den Griff bekamen. Ich versuchte, ihre Atemübungen nachzuahmen, um ein wenig runterzukommen. Meine beste Freundin war indessen von Namjoon und Hobi davon abgehalten worden, die ganze Zeit hin und her zu tigern.

»Das macht dich einfach nur kirre und bringt gar nichts«, erklärte der Leader.

Dann begannen wir alle, unsere Stimmen aufzuwärmen. Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht über die vielen absurden Geräusche und Verzerrungen des Mundes lustig gemacht, aber jetzt war ich einfach nur dankbar, dass ich etwas hatte, worauf ich mich konzentrieren konnte.

»Noch 30 Minuten bis zur Show!«

Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, um einen tiefen Atemzug zu nehmen. Als ich den Blick wieder geradeaus richtete, sah ich, wie sehr Mayas Unterlippe zitterte. Alle fünf Sekunden zog sie am Kragen ihres Hemdes, als bräuchte sie mehr Freiheit am Hals. Und auch ich hatte allmählich das Gefühl, dass mir die Luft wegblieb.

»Leute, kommt alle her«, trommelte Namjoon uns zusammen. Er wartete, bis wir allesamt in einem Kreis um ihn standen, ehe er fortfuhr. »Wir haben noch nie zuvor unter solch ungewöhnlichen Umständen performen müssen. Ich will aber nicht, dass uns das heute einschränkt. Denkt daran, dass BTS bislang jede noch so große Hürde überwunden hat. Das hier ist nur ein weiterer Stolperstein, den uns das Leben auf unseren Weg an die Spitze gelegt hat. Betrachtet ihn nicht als Stolperstein, sondern als Stepping Stone. Als Erfahrung, an der wir alle nur wachsen können. Wir schaffen das. Fighting. Kommt schon...eure Hände.«

Wir hoben unsere Hände alle in die Mitte des Kreises, um den Bandchant durchzuführen. Doch ohne Taehyung und Yoongi unter uns fühlte es sich nicht so gut wie vor den Grammys an. Es sorgte nur dafür, dass das Adrenalin mir fast den Hals abschnürte. Nun würde es also echt losgehen...

Wir alle warfen Tae und Yoongi letzte Blicke zu, ehe wir die Maske endgültig verließen und der Security bis in das Backstage-Labyrinth aus Metallstangen, Planen und Kabeln direkt unter die Bühne folgten. Von hier aus konnte man in voller Lautstärke das donnernde Kreischen und die Stimmchöre der Fans hören, die gerade zu MIC Drop sangen. Mir bescherte es die vermutlich heftigste Gänsehaut, die ich je in meinem Leben gehabt hatte. Die Frage, wie viele Menschen da draußen wohl auf uns warteten, versuchte ich vehement aus meinem Kopf zu verbannen.

»Taehyung glaubt an dich«, verkündete Jungkook wie aus dem Nichts, während wir nebeneinander her liefen. »Ich hab's an seinem Blick gesehen.«

Mein Hals war komplett ausgetrocknet und meine Zunge lag taub in meinem Mund. Zum Sprechen fühlte ich mich absolut nicht in der Lage, weshalb ich einfach nur mit zusammengepressten Lippen nickte und gezwungen lächelte.

»Noch fünfzehn Minuten bis zur Show«, verkündete Sejin, als wir direkt vor dem Lift hielten, der uns gleich auf die Bühne heben würde. Ich wünschte, er würde mit diesen Zeitangaben aufhören. Sie machten mich wahnsinnig.

Hier war echt die Hölle los. Ich sah die Backgroundtänzer ein wenig von uns entfernt durch die Gänge huschen und im nächsten Moment auch schon wieder verschwinden. Dann tauchten weitere Crew-Members auf, die uns nun fertig verkabelten. Meine Nerven lagen völlig blank; ich konnte niemandem mehr in die Augen sehen.

»Noch zehn Minuten bis zur Show! Wir geben jetzt die Durchsage durch, dass V nicht tanzen wird!«

Während ein Staff-Member noch immer damit beschäftigt war, mein Earpiece an mir zu befestigen, hörte ich über uns die laute Stimme durch die ganze Arena hallen, gleich darauf auch die Schreie der Fans. Zwar verstand ich kein Chinesisch, aber den Inhalt der Durchsage kannte ich dennoch. Es war beinahe der gleiche, wie am Anfang der Tour, als Jungkook sich an seinem Fuß verletzt hatte und nicht tanzen konnte. Und auch wie damals in London, begannen die ARMYs einen Fanchant anzustimmen, der mir beinahe die Tränen in die Augen trieb.

»Kim Taehyung! Kim Taehyung! Kim Taehyung! Kim Taehyung!«

Ich war mir ziemlich sicher, dass Tae, der das Ganze über einen Fernseher mitbekam, gerade heulte. Wie gerne würde ich jetzt zu ihm gehen...weg von hier. Wie in meinem Traum einfach wegrennen. Egal wohin, einfach raus aus dieser Arena. Wieso fühlte ich mich gerade, als müsste ich hier alleine durch? Ich sah gerade in Maya nicht einmal mehr Maya. Sie war in Yoongis Körper...sie war Suga. Und sie war so gut in dem, was sie tat. Sie konnte tanzen, verdammt gut sogar. Und ihre Fähigkeiten zum Rappen hatten sich ebenfalls immens gesteigert. Ich hingegen war eine Doppelnull. Wollten die mich da ernsthaft rauflassen?!

»Noch fünf Minuten bis zur Show!«

Vielleicht hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch auf ein kleines Wunder gehofft, welches den Körpertausch mit einem Schlag wieder rückgängig machen würde, damit ich nicht auf die Bühne musste. Nun war es allerdings zu spät. Sie warteten alle auf uns. In meinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell und hunderte Fragen blitzten mit einem Mal auf – allem voran, warum ich diesem beschissenen Konzert je zugestimmt hatte. Ich wollte das nicht mehr. Ob es jetzt zu spät war, einen Rückzieher zu machen? Sie könnten doch einfach noch eine Durchsage machen, dass V gar nicht performen würde und dann –

»Bitte begebt euch jetzt alle auf den Lift. Der Countdown läuft.«

Mit der Hilfe des Staffs stiegen wir auf den Lift und hockten uns alle nebeneinander wie die Entlein. Ich schielte zu Maya. Sie zitterte und zuckte so heftig, dass ich nicht garantieren konnte, dass sie nicht gleich einfach nach vorne kippen würde. Jungkook lenkte meine Aufmerksamkeit jedoch auf sich, indem er seine Hand auf meine Schulter legte.

»Mach dir jetzt keine Sorgen um sie. Kümmere dich lieber um dich selbst. Das wird Stress genug. Ich hätte mir bei den ersten Malen fast in die Hose gemacht.«

»Wie beruhigend«, krächzte ich.

»Was bringt es dir, wenn ich es schönrede? Glaub mir, der Anfang ist immer die Hölle. Auch für mich...bis heute. Aber man kommt rein. Und dann macht es Spaß. Ist'n krasser Kick auf jeden Fall.«

Wenn es selbst für Jeon Jungkook die Hölle war, dann bestanden für mich keine Überlebenschancen mehr. Heilige Scheiße...ich musste hier weg.

»Zwei Minuten bis zur Show. Macht euch bereit.«

Konnte man sich für sowas überhaupt bereit machen? Ich bezweifelte es. Über uns begann nun die Lichtshow des Openings. Eine Intro-Version von Idol wurde als Soundtrack abgespielt und die Fans begannen stärker zu kreischen. Vom Staff wurde ich darauf hingewiesen, dass ich die Stöpsel noch nicht in meine Ohren gesteckt hatte, was ich schnell mit zittrigen Fingern nachholte. Im gleichen Zug richtete ich auch nochmal das Mikro, dass dicht vor meinem Mund befestigt worden war. Da musste ich gleich reinsingen. Dabei konnte ich nicht einmal singen!

Als ich die Geräusche der Flammenwerfer hörte und Sejin uns mit den Händen bedeutete, dass uns nur noch zehn Sekunden blieben, glaubte ich, in Ohnmacht zu fallen. Zwar waren die Geräusche durch die Earpieces gedämpft, doch nichts in der Welt hätte diese donnernden Jubelschreie völlig ausblenden können.

»Haut rein, Jungs!«, hörte ich den Manager rufen, dann hob er einen Daumen und der Lift unter unseren Füßen begann sich zu bewegen. Alles in mir verkrampfte sich und ich glaubte für einen Moment, mein Herz nicht mehr schlagen zu spüren. Da war einfach nur Angst...diese wahnsinnige Welle an Angst.

Als der Lift uns soweit hob, dass unsere Köpfe über den Bühnenboden reichten, fühlte sich die ganze Szene vor meinen Augen wie in Zeitlupe versetzt an. Die Menge explodierte, Hoseok schrie »Make some noise!« in sein Mikro. Aber ich bekam es mit, als würde ich in Watte schweben. Meine Augäpfel wanderten wild hin und her...und ich baute direkten Blickkontakt zu mehreren Fans auf. Eines der Mädchen heulte vor Freude. Und ich? Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde vor Panik platzen. Alles wurde heiß und schwitzig. Nicht die Fans angucken, bloß nicht die Fans angucken! Ich musste irgendwie ausblenden, wie viele Augenpaare auf mir lagen. Also starrte ich nicht auf die Gesichter direkt vor der Bühne, die ich so gut erkennen konnte, sondern sah weiter auf. Dort, weiter oben, erkannte man die Menschenmassen nicht. Ihre ARMY-Bombs sahen in der Dunkelheit des Stadions einfach aus wie Sterne. Sterne...

We were too close to the stars
I never knew somebody like you, somebody
Falling just as hard
I'd rather lose somebody than use somebody

Der Moment, in dem die Lyrics von Reflections in meinem Kopf auftauchten, war genau der, in dem auch das Blackout begann. Während der Angstschweiß mein weißes Hemd durchtränkte, herrschte in meinem Kopf gähnende Leere. Alles, was ich tun konnte, war von der Liftplattform hilflos zu dem Stuhl zu stolpern, den man mir aufgrund meiner »Verletzung« hingestellt hatte.

Nichts. Ich wusste nichts mehr. Keine Lyrics. Keine Teile meiner Rede. Keine Abfolgen der Setlist. Keine Vorgaben, wann und wo ich die Bühne verlassen musste.

Alles, was ich tun konnte, war heftig schlucken, um die aufkommenden Tränen zu verjagen, und beobachten. Die anderen performten einwandfrei die Choreografie von Idol. Hoffentlich lenkten sie die Aufmerksamkeit von mir ab.

Von mir, die einfach nur hier saß und in eine Schockstarre verfallen den Nachthimmel aus ARMY-Bombs beobachtete. We were too close too the stars. Ja, genau das waren wir. 

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