63 - Crack Pt. II
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Kapitel 63
»Crack Pt. II«
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Taehyung
Wenn Taehyung so dasaß und Julia beim Training für Singularity beobachtete, wusste er nie so ganz, ob er Stolz oder Angst verspüren sollte. Einerseits schöpfte sie ihre eigenen Möglichkeiten ideal aus und besaß eine immense Willensstärke. Andererseits passte das ganze mysteriöse, verführerische Konzept aber so gar nicht zu ihr. Die Art, wie sie auf Krampf versuchte, sexy in den Spiegel zu schauen, nur um dann selbst einen regelrechten Cringe-Anfall zu bekommen, ließ ihn des Öfteren besorgt zu Sungdeuk schielen. Ihr Tanzcoach musste doch auch spüren, dass Julia mit diesem Programm nicht harmonierte! Wieso tat er dann nichts, um die Situation für sie angenehmer und erträglicher zu machen?
Wie abgesprochen, hatte die Tanz-Crew von BigHit die Performance von Singularity tatsächlich abgeändert. Ein großer Teil der Choreografie wurde gestrichen und das Masken-Konzept so erweitert, dass Julia zumindest für die Hälfte des Auftritts ihr Gesicht verstecken konnte. Außerdem hatte man die Szene mit dem Garderobenständer am Anfang des Tanzes hinter eine Wand verlegt, um mit dem Licht ein Schattenspiel entstehen zu lassen. So konnte Julia diese Stelle zwar aufführen, war aber nicht gezwungen, ihre Mimik so extrem zur Geltung bringen zu müssen.
Trotz all dieser Änderungen würde sie jedoch nicht darum herumkommen, sich ab einem gewissen Punkt ohne Maske und ohne Schatten den Fans zu stellen. Dann würde nur noch die Qualität ihrer Mimik über den Verlauf der Performance entscheiden. Und genau das machte Taehyung solche Angst. Julia war einfach nicht bereit dafür. Sie hatte hart geprobt und beherrschte in der Theorie alle Schritte...doch das sagte rein gar nichts darüber aus, wie sie sich in drei Tagen auf der Bühne in Hongkong schlagen würde.
»He, Romeo, was soll das?«, riss Julias Stimme dicht neben sich ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte das Training offenbar beendet und leerte nun in nur wenigen Zügen ihre Trinkflasche.
»Was meinst du?«
»Diese Sorgenfalte, die du da gerade auf meine Stirn setzt, wird dauerhaft bleiben, wenn du weiterhin so böse guckst«, erläuterte Julia und neigte leicht den Kopf. »Alles okay bei dir?«
Taehyung lächelte müde und erhob sich von seinem Stuhl. »Klar, was denkst du denn? Ich habe mir nur gerade überlegt, wie das auf andere wirkt, wenn du weiterhin diesen komischen Spitznamen verwendest.«
»Ich find's witzig«, erwiderte sie nüchtern und schulterte ihre Tasche. »Bin dann erstmal duschen...Ach so, was ich dich noch fragen wollte...Maya meinte, dass sie heute Abend noch länger hierbleibt, also werde ich allein im Apartment sein. Wenn du Lust hast, nochmal über alles zu reden...du weißt schon...den Streit und so...dann komm gerne vorbei.«
»Klingt cool. Dann bis nachher.«
»Bis nachher.« Julia winkte ihm zum Abschied zu, verbeugte sich dann noch vor Sungdeuk und verließ schlussendlich mit einem Lächeln über die Schulter den Saal.
Taehyungs Blick verharrte dort bei der Tür, wo sie verschwunden war. Romeo. Julia nannte ihn seit dem ersten Drehtag von Boy With Luv so, weil seine Versöhnungsrede wohl eine Spur zu kitschig gewesen war. Vermutlich wollte sie ihn damit ärgern, aber eigentlich mochte er das Wortspiel und die Verbindung zu ihrem eigenen Namen ganz gerne. Die Idee war so brillant und doch provokant und einfältig, dass sie glatt von Jungkook hätte kommen können. Dieser Gedanke versetzte Taehyungs Freude über die Shakespeare-Referenz einen kleinen Dämpfer. Der Maknae und Julia verbrachten im Moment wirklich extrem viel Zeit miteinander, obwohl ihre privaten Trainingsstunden beendet worden waren. Irgendwie mochte Tae die Kombination von den beiden nicht so gerne. Er empfand es als unfair, dass Julia Jungkook mit seiner frechen, oft unreifen Art so schnell an sich herangelassen hatte, bei Taehyung selbst aber genau dieses Verhalten als Grund nahm, sich zu distanzieren.
»Pass bloß auf, Junge«, meinte Sungdeuk plötzlich aus dem Nichts. Er musste ihn für eine ganze Weile beobachtet haben.
»Was meinst du?«
»Ich bin nicht blind. Und das zwischen Julia und dir hat sich im Verlauf der letzten Wochen in eine sehr...interessante Richtung entwickelt. Verlier dich nicht in irgendwelche bodenlosen Romanzen.«
Taehyung schnaubte. »Romanzen? Was denkst du von mir? Dass ich mich in meinen eigenen Körper verliebe? Ich bin kein Narzisst –«
»Ich denke von dir, dass du ein sehr großes Herz hast, Taehyung-ah. Du bist nicht oberflächlich und verurteilst auch keine Menschen. Dass du dich in die Person hinter deiner eigenen Hülle verlieben kannst, ist also keine Sache der Unmöglichkeit. Aber du weißt hoffentlich selbst, wie schädlich das für das ganze Arbeitsklima hier wäre. Lenkt euch nicht ab. Das können wir bei all dem Chaos nicht gebrauchen.«
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Als Taehyung spät am Abend an der Tür zu Jins Apartment klopfte, hatte er ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Er konnte es einfach nicht beschreiben, aber irgendetwas stimmte nicht. Sein Bauchgefühl meldete sich tatsächlich sehr oft zu Wort...und hinterging ihn nur äußerst selten. So sollte es auch dieses Mal recht behalten.
Als Julia ihm die Tür öffnete, waren ihre Augen völlig verquollen und ihre Wangen von den salzigen Tränen gerötet. Ihr Philtrum glänzte wässrig vom Schnodder und die Haare standen ihr an allen Seiten vom Kopf ab. Es war wirklich das Bild blanker Verzweiflung und Taehyung konnte nur still beobachten. Seine Schockstarre verbot ihm jegliche Reaktion. Nie im Leben hatte er sich selbst so sehen wollen.
Julia begann schließlich heftig zu schluchzen und wandte sich von ihm ab, um ins Wohnzimmer zu wanken und sich dort auf das Sofa fallen zu lassen. Taehyung folgte ihr und musterte sie, während sie sich wie ein Embryo zusammenrollte und ihr verheultes Gesicht in einem Zierkissen versteckte.
»Was zur Hölle ist passiert?«, entfuhr es ihm schließlich und er nahm mit bleichem Gesicht neben seinem eigenen, zusammengekauerten Körper Platz. Alle möglichen Horrorszenarien bildeten sich in diesem Augenblick in seinem Kopf, eines schlimmer als das andere.
»Der Termin...ich...ich...Mit dem ganzen Stress...und dann Maya...und dann du...und dann noch mit Jungkook...und der Dreh...ich hab's vergessen...einfach vergessen. Was soll ich machen...sag's mir, Taehyung. Was soll ich jetzt machen?«, brabbelte Julia heulend vor sich hin.
»Stopp, Julia. Psschhht«, versuchte Taehyung sie zu beruhigen und hob langsam die Hände. Sie zu berühren, traute er sich nicht. Zu groß war die Angst, dass sie zusammenbrechen würde, wenn sie in so einer Situation auch noch von ihrem eigenen Körper angefasst wurde. »Du musst es mir genauer erklären. Welchen Termin meinst du?«
Für eine Weile sagte sie nichts und lediglich ihre heftigen Schluchzer zerrissen die Luft. Ihr Atem zitterte mit jedem Zug so stark, dass Taehyung zwischenzeitlich wirklich befürchtete, sie würde kollabieren. Doch nichts dergleichen geschah. Julia beruhigte sich nach einer Weile und er reichte ihr mit besorgter Miene eine Taschentuchpackung, bevor er in die Küche ging und ihr ein Wasserglas holte. Vom vielen Heulen bekam sicher auch sie Kopfschmerzen.
»Danke«, nuschelte sie mit nasaler Stimme. »Und tut mir leid, dass du mich...also dich...so sehen musstest.«
»Hör auf, dich dafür zu entschuldigen«, protestierte Taehyung sofort. »Erzähl mir lieber in Ruhe, was überhaupt dazu geführt hat, dass ich dich so gesehen habe.«
Julia sackte wieder ein Stück mehr in sich zusammen. »Naja...wir hatten in den letzten Wochen mit den Vorbereitungen auf den Musikvideodreh und die Konzerte so viel Stress, dass ich den...den Abgabetermin für meine Hausarbeit verpasst habe.«
Tae starrte sie völlig überfordert an. »Was – ähm...?«
»Bislang bestand noch Hoffnung, dass ich das Semester schaffe, auch wenn ich im Moment nicht zur Uni gehen kann. Aber das alles hätte nur funktioniert, solange...naja...solange ich diese verdammte Hausarbeit abgebe. Das habe ich verkackt...so wie so ziemlich alles in meinem Leben. Ist das nicht großartig? Nebenjob weg, Uni verbockt, Familie angelogen, mit bester Freundin kaum in Kontakt. Ich...ich weiß nicht, was ich machen soll, Taehyung. Es bricht alles zusammen.«
Es rannen stumme Tränen über Julias Wangen, die sie jedes Mal sofort mit einem Taschentuch wegwischte. Ihre Lippen zitterten und ihr Atem ging flach, doch sie begann nicht erneut zu schluchzen.
»Das...«, setzte Taehyung an, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Nichts könnte beschreiben, wie wehleidig ihn die Situation stimmte und wie schuldig er sich selbst fühlte. »Scheiße, Julia, man. Das...das wird alles wieder, ja? Wir bringen das wieder in Ordnung und dann kannst du in dein altes Leben nach Deutschland zurückkehren.«
Julia schnaufte verbittert. »Ich bitte dich. Was für ein altes Leben? Das gibt es nicht mehr. Mit der verkackten Hausarbeit hat sich das Ganze endgültig erledigt. Aber hey...spielt doch keine Rolle. Wozu brauche ich mein eigenes Leben? Ich bin ja jetzt Du.«
»Sag sowas nicht! Ich fühl mich doch so schon schlecht genug, dass du alles aufgegeben hast, um mir zu helfen, und deswegen jetzt in Deutschland alles den Bach runtergeht! Denkst du, mir gefällt das? Dass du dich so aufopfern musstest?! Ganz sicher nicht! Also sag mir, wenn ich irgendetwas für dich tun kann. Bitte! Zum Beispiel könnte ich mit deiner Familie skypen...Wolltest du nicht eh?«
»Nein«, unterbrach Julia ihn bestimmt. »Ich möchte meiner Familie so nicht gegenübertreten müssen. Du und ich...wir müssten sie weiter anlügen. Und ich würde es nicht übers Herz bringen, ihnen die Sache mit der Uni zu beichten. Also fällt das aus.«
»Bitte«, flehte Taehyung sie weiter an. »Lass mich irgendetwas für dich tun. Ich möchte für dich da sein...und so vieles wieder gutmachen, was ich verbockt habe...also bitte gib mir eine Chance... Lass mich dich unterstützen. Du musst da nicht alleine durch, ja? Bitte verschließ dich nicht. Dann wird es schlimmer.«
Julia sah ihn mit großen, wässrigen Augen an. »Du musst nichts wieder gutmachen...Ich habe dir doch schon lange verziehen. Als ich dich heute Nachmittag gefragt habe, ob wir nochmal über alles reden wollen, da habe ich nicht von dir erwartet, dass du dich dreitausend Mal entschuldigst oder dich revanchierst oder so. Ich wollte einfach nur reden. Das will ich immer noch...also brauchst du echt nichts für mich zu tun...bleib einfach hier.«
Ein kleines, trauriges Lächeln huschte über Taehyungs Gesicht. Und trotz der lieben Worte konnte er jetzt nicht lockerlassen. Dafür verstand er selbst zu gut, was Julia gerade durchmachte. Das Gefühl, dass einem nichts mehr blieb, kannte er aus der Rookie-Zeit der Band nur zu gut. Wie oft hatten sie wohl alle befürchtet, dass sie es nicht schaffen würden? Mit wie vielen Comebacks hatten sie die Insolvenz des Managements riskiert? Und wie oft hatte Klein-Taehyung sich gefragt, was er tun würde, wenn BTS sich auflösen musste? Immerhin war er als Trainee kaum noch zur Schule gegangen – in Südkorea sozusagen das eigene Todesurteil, wenn man einen normalen Beruf erlernen wollte. Dazu war die Situation mit seiner Familie gekommen...auch in diesem Punkt konnte er Julia verstehen.
»Hör zu...ich bin dir ja echt dankbar, dass du keine großen Taten als Entschuldigung verlangst. Aber Julia...Worte allein werden dich jetzt auch nicht weiterbringen«, murmelte Taehyung. »Du solltest wenigstens die Situation mit deiner Familie klären. Wir müssen ja nicht mit ihnen telefonieren oder skypen. Aber ich könnte wenigstens ein Video oder eine Sprachnachricht für sie aufnehmen...sozusagen als Lebenszeichen. Von der Sache mit der Uni muss ich ja nicht erzählen...aber meinst du nicht, sie sollten wenigstens erfahren, wo auf der Weltkugel du dich gerade befindest?«
Julia starrte ihn schon wieder so überrascht an. »Hey, wo kommt denn diese ganze Ernsthaftigkeit auf einmal her? Wer bist du und was hast du mit Tae gemacht? Bitte sag mir nicht, dass hier noch ein Körpertausch stattgefunden hat.«
»Witzig«, grummelte Taehyung, musste dann aber schief grinsen. »Nein, ich mein's ernst. Lass mich ein Video von mir aufnehmen. Das kannst du dann an deine Familie schicken.«
Insgeheim hatte er ja nicht geglaubt, dass Julia dieser Idee jemals zustimmen würde. Daher war er umso überraschter, als sie ihm schließlich mit einem resignierten Seufzen die Erlaubnis gab und aufzuzählen begann, was er alles in dem Clip sagen sollte. Es war schön zu sehen, dass ihr das Familienleben genauso wichtig zu sein schien wie ihm. Aus diesem Grund gab er sich extra viel Mühe, sich jedes noch so kleine Detail zu merken.
Die tatsächliche Aufnahme des Videos gestaltete sich schwerer als gedacht. Julia hatte ständig etwas zu bemängeln, ob es nun sein Vokabular oder seine Art, das Handy zu halten, war. Taehyung blieb jedoch geduldig und startete jedes Mal, nachdem Julia »Cut!« gerufen hatte, einen neuen Versuch.
»Du bist schlimmer als jeder Regisseur«, grummelte er gespielt beleidigt, als sich endlich ein zufriedenstellendes Video in der Galerie von Julias Handy befand.
»Ich habe halt hohe Ansprüche an dich. Immerhin bist du der Schauspieler hier«, konterte Julia schief lächelnd, ehe sie sich wieder ihrem Smartphone zuwandte. Doch anstatt darauf zu tippen, starrte sie einfach nur regungslos auf das Display.
»Was ist los?«, fragte Taehyung verwirrt.
»Ich traue mich nicht, es abzuschicken...Sie werden enttäuscht sein, dass ich ihnen nicht früher gesagt habe, dass ich in Seoul bin...«
»Besser spät als nie«, erwiderte er schulterzuckend. »Komm schon. Sonst mach ich's.«
»Vergiss es.«
»Drei.«
»Was?«, fragte Julia verwirrt.
»Zwei.«
»Oh nein. Hör auf damit.«
»Eins.«
Er grinste sie schief an, während sie ihn einfach nur mit zusammengekniffenen Augen anstarrte.
»Null Komma Fünf.«
»Null. Ja, klasse, du kannst rückwärts zählen, und was jetzt?«, seufzte Julia.
»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, meinte Taehyung noch, bevor er sich auf sie stürzte und sie so an der Hüfte zu kitzeln begann, dass sie das Handy nicht länger in der Hand halten konnte.
Doch Julia war flink. Quiekend piekte sie ihm unter die Achsel, sodass ihm das Smartphone aus den Fingern glitt und wieder bei ihr landete. Für eine ganze Weile ging es so hin und her, wobei sämtliche Kissen von der Couch rutschten und Taehyung sich den Musikantenknochen am Beistelltisch stieß. Am Ende war es dennoch Julia, die keuchend die Hände hob und um Frieden bat.
»Ist gut. Ich schicke es ab.«
»Super, ich suche uns in der Zeit Snacks für den Film raus«, nickte Taehyung.
»Welchen Film denn?«, fragte Julia ungläubig.
»Darfst du dir aussuchen. Hauptsache einen Film.«
»Jetzt noch? Es ist schon so spät.«
„Auf jeden Fall jetzt noch!", bestätigte er vehement nickend. »Nachts haben Filme doch nochmal einen ganz anderen Vibe!«
Taehyung fand, dass es die beste Art von Ablenkung war, das eigene Wohnzimmer spontan in ein Heimkino zu verwandeln und gemeinsam irgendwelche alten Klassiker zu schauen. Zwar hätte er an Julias Stelle eine Komödie gewählt, um etwas zu lachen zu haben, doch sie schien in Disneyfilmen den größten Komfort zu finden. Kurze Zeit später lief nämlich Mulan auf dem großen Fernseher, während sie beide eingekuschelt in Decken auf der Couch saßen. Auf dem Tisch vor ihnen standen verschiedene Schüsseln mit Schokobonbons und Chips gefüllt; als Getränke hatten sie sich Milch erhitzt und mit Kakaopulver verfeinert. Taehyung hatte den Film extra auf Deutsch gestellt, um Julia ein gewisses Heimatgefühl zu vermitteln, und freute sich insgeheim gerade wie ein Keks darüber, dass er in dieser fremden Sprache alles so perfekt verstehen konnte.
Als die Szene einsetzte, in der Mulan von der Heiratsvermittlerin zurückkehrte und Wer bin ich? zu singen begann, beobachtete Taehyung, wie Julias Blick völlig starr auf das Bild gerichtet war. Sie blinzelte kaum und lauschte wie gebannt den Lyrics. Als Taehyung näher hinhörte, verstand er auch, wieso.
»Kann es sein? Mach ich immer alles falsch? Doch ich weiß, wenn ich mich so gebe wie ich mich fühl, brech' ich allen hier das Herz. Was macht es mir so schwer? Ich erkenn' mich nicht mehr. Wer ist diese fremde Frau im Spiegel drin? Wann seh ich's endlich ein? Ich kann nicht anders sein. Wann zeigt mir mein Spiegelbild, wer ich wirklich bin?«
Aus den Augenwinkeln starrten sie beide einander an und dachten vermutlich genau das Gleiche. Taehyung begann sich zu fragen, ob Julia den Film nicht doch mit anderen Hintergedanken ausgewählt hatte. Mit jeder weiteren Minute, die auf dem Bildschirm verstrich, konnte er nämlich Mulans Konflikt mit der Rolle, in die sie aufgrund ihres Aussehens gedrängt wurde, besser nachempfinden. Julia, Yoongi, Maya und ihm selbst ging es doch genauso...nur, weil sie wie jemand anderes aussahen, durften sie nicht mehr sie selbst sein.
»Eigentlich...«, murmelte Taehyung, als Mulan gerade das erste Mal auf die anderen Soldaten traf und sich völlig übertrieben wie ein Mann verhalten musste. »Eigentlich wollte ich dich mit einem Film von unseren Problemen ablenken. Warum müssen wir jetzt etwas gucken, was so extrem an unsere Situation erinnert?«
»Psschht«, zischte Julia und nahm sich geistesabwesend ein paar Chips aus der Schale. »Die Stelle ist witzig.«
Taehyung seufzte leise und kuschelte sich schmollend tiefer in seine Decke, bevor er ihr einen vorsichtigen Blick zuwarf. Sie starrte immer noch wie gebannt auf den Bildschirm, wobei ein verträumter Ausdruck ihre Gesichtszüge zierte. Es war seltsam, wie leicht es Taehyung hin und wieder fiel, sich genau vorzustellen, wie es denn auf Julias eigenem Gesicht aussehen würde. Auch das leise Kichern, was sie gerade von sich gab, hallte in seinen Gedanken in ihrer eigenen Stimme durch den Raum.
Als Li Shang Sei ein Mann zu singen begann, konnte sich Taehyung ein Grinsen nicht verkneifen. Er kämpfte sich aus seiner dicken Deckenschicht und richtete sich gerade auf, um Julia augenbrauenwackelnd zu mustern. Sie starrte ihn einfach nur entgeistert an.
»Jetzt passt auf und hört gut zu. Jeder wird hier zum Mann, sogar du!«
Taehyung machte lachend große Gesten Richtung Julia, doch sie starrte ihn nur ziemlich frostig an.
»Komm schon, Tae. Hör auf damit, es ist nicht lustig.«
»Sei ein Mann!«, trällerte er den Einwand ignorierend mit und beobachtete mit einem fetten Grinsen, wie Julia augenrollend tiefer in die Kissen sank.
»Kannst du jetzt aufhören?«, murrte sie schließlich, als er weiterhin bei den entsprechenden Textstellen mit einem neckischen Schmunzeln auf sie deutete.
»Ist doch nur ein Spaß«, erwiderte er tröstlich. »Mach dich locker. Du weißt doch genau, dass ich nicht will, dass du dich änderst, nur weil du in meinem Körper steckst.«
»Ach, ist das so, Romeo?«, meinte sie und sah ihn nun doch herausfordernd und mit zuckenden Mundwinkeln an.
»Definitiv. Du bist gut so, wie du bist.«
Während Taehyung sich wieder entspannt gegen das Sofa lehnte, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie Julia ihn offen anstarrte. Sie griff nach ihrem Kakao und nahm einen Schluck, hielt den Blick aber starr auf ihn gerichtet. So lange, dass er sich zwischenzeitlich fragte, ob sie in eine Schockstarre verfallen war.
»Du bist echt...du...ach, hör auf mit diesen schnulzigen Kommentaren!«, brummte sie schließlich und ließ sich ebenfalls wieder zurück in ihren Berg aus Kissen fallen. Das kleine Lächeln und die rosigen Wangen entgingen Tae dabei allerdings nicht.
Es war genau die Szene, in der es Mulan gelang, den Mast zu erklimmen. Offenbar hatten sie und Taehyung ihr Ziel beide erreicht.
Von da an wurde es ruhiger im Wohnzimmer. Sie waren beide so vertieft in den Film, dass sie es sogar beinahe nicht mitbekamen, als Maya heimkehrte und an ihnen vorbei in ihr Zimmer huschte. Taehyung erhaschte nur einen sehr kurzen Blick auf sie. Seit dem Musikvideodreh war sie seltsam still geworden...Sie lächelte nicht mehr, redete kaum und schien eigentlich nur noch eine leere Hülle zu sein. Natürlich wollte er sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen...aber es war schon besorgniserregend. Außerdem hatte Taehyung mitbekommen, wie die beiden anfangs so engen Freundinnen deutlich weniger Zeit miteinander verbrachten. Er hoffte einfach, dass Maya jemanden zum Reden hatte, wenn es ihr so schlecht ging...
Dass Julia eingeschlafen war, bekam Taehyung irgendwann an ihrem ruhigen Atmen und ihren fehlenden Reaktionen zu lustigen Szenen mit. Er lehnte sich neugierig nach vorne und warf einen Blick auf seinen eigenen Körper. Es war eine absurde Sache, sich selbst beim Schlafen zu beobachten...auch, wenn es ihn eigentlich schon immer interessiert hatte, wie er dabei wohl aussah. Selig lächelnd musterte er seine eigenen, völlig friedlichen Gesichtszüge.
Für eine Weile verharrte er so und achtete selbst nicht mehr auf den Film. Dann allerdings riss ihn der Benachrichtigungston von Julias Handy aus den Gedanken. Er zögerte. Eigentlich sollte und wollte er sich wirklich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen...aber die Versuchung war zu groß, als er auf dem Sperrbildschirm sah, dass es Julias Stiefmutter war, die auf das Video geantwortet hatte.
[23:16] Christiane: In Seoul?! Warum sagst du uns denn nichts? Mensch, wir machen uns Sorgen um dich! Sicher, dass es dir gut geht? Mir kommt das Ganze sehr komisch vor. Hat es etwas mit dem Typen zu tun, der bei uns eingebrochen ist? Julia, bitte lass uns irgendwie telefonieren. Ich mache mir riesige Sorgen.
Taehyung schluckte und legte das Handy schnell wieder weg. Diese Nachrichten würden Julia doch nur noch zusätzlich belasten...ganz toll. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ihre Familie jetzt einfach anzurufen. Die richtige Stimme hatte er ja...und die wichtigsten Informationen auch. Aber Julia würde ihm das nie verzeihen. Also ließ er es schließlich bleiben und richtete den Blick wieder frustriert auf den Fernseher, wo inzwischen der Abspann lief. Ob er sie wecken sollte? In einem Bett schlief es sich immerhin besser als auf einer Couch. Er beobachtete sie für eine Weile und entschied sich schließlich dagegen. Sie sah so friedlich aus...und immerhin würde sie für die Konzerte in Hongkong jede Minute Schlaf brauchen.
Also deckte er Julia einfach noch zusätzlich mit seiner Decke zu, räumte die Snacks und leeren Tassen in die Küche und tapste dann auf Zehenspitzen aus dem Apartment. Er brauchte auch dringend Schlaf...und klare Gedanken. Denn auf eine sehr schräge Weise hatte ihn dieser Abend ziemlich verwirrt. So ganz ohne Streit Zeit mit Julia zu verbringen, tat ihm überraschend gut. Es erinnerte ihn an diesen wiederkehrenden Traum bei den Astralreisen.
»Maybe it's a blessing in disguise. I see my reflection in your eyes«, murmelte Taehyung leise die Lyrics des Songs aus eben diesem Traum vor sich hin, als er die Treppen zum Dorm hinabstieg.
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