59 - Boy With Luv Pt. I

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Kapitel 59
»Boy With Luv Pt. I«

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Julia

Am Horizont, irgendwo hinter diesen ganzen Wolkenkratzern, würde gleich die Sonne aufgehen – die tiefe Röte des Himmels kündigte sie bereits an. Die Straßenlaternen allerdings leuchteten noch hell und formten verschwommene Lichtpunkte hinter meinen halb geschlossenen Augen. Natürlich hatte ich kaum Schlaf abbekommen, immerhin war ich noch vor vier Stunden mit Jungkook im Trainingsraum gewesen. Dafür rächte sich jetzt Taehyungs Körper mit übermäßig schweren Lidern, einem unangenehmen Schwindelgefühl und Augenringen, für die mich die Makeup-Artisten verfluchen würden.

Als ich meinen Kopf, den ich bislang gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt hatte, anhob und meinen Oberkörper aufrichtete, rutschten mir beinahe meine Kopfhörer aus den Ohren. Schnell hob ich meine Hände, um sie wieder zurechtzurücken. Zwar hörte ich Reflections von The Neighbourhood seit dem seltsamen Traum auf Dauerschleife, dennoch wollte ich kein einziges Wort des Sängers verpassen.

Where have you been?
Do you know when you're coming back?
'Cause since you've been gone
I've got along but I've been sad

Ja, wo war Taehyung? Seit unserem Streit vor einer Woche hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Wir liefen einander zwar gelegentlich bei BigHit über den Weg, aber sogar bei den Tanzstunden bestand er inzwischen auf getrennten Unterricht. Zum Gesangstraining kam er natürlich auch nicht mehr. Und selbst beim Mittagessen schien er immer eine Erklärung zu haben, zu einer anderen Uhrzeit als ich zu essen. Und obwohl ich seit unseren geheimen Treffen richtig gut mit Jungkook klarkam, hatte ich seitdem verstanden, was mir ohne Taehyung fehlte. Ich dachte den lieben langen Tag an ihn und hoffte an jeder Ecke des Management-Gebäudes, dass er hinter ihr auftauchen würde. Nicht, dass ich das je laut vor irgendwem ausgesprochen hätte.

Theoretisch wäre für genau solche Themen in jedem Fall Maya meine erste Anlaufstelle gewesen. Ja, bevor sich unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, hätte ich ihr sofort erzählt, wie sehr ich unter Taehyungs harschen Worten litt und wie sehr ich mir wünschte, dass er sie zurücknahm. Aber inzwischen hatte ich das Gefühl, mit Jungkook besser darüber reden zu können. Nicht, dass er meinen Maya-Ersatz spielen sollte – es war einfach etwas anderes. Der Maknae war nicht am Körpertausch beteiligt und hatte eine ganz andere Sichtweise auf die Dinge, was mir im Moment einfach guttat. Mit Maya hingegen konnte ich mich einfach nicht mehr so gut unterhalten. Diese Erkenntnis tat verdammt weh...aber alles schien uns gerade auseinanderreißen zu wollen. Immer wenn ich Maya sah, wurde ich automatisch ein wenig trauriger. Ich konnte mich nicht einmal mehr erinnern, wann ich sie das letzte Mal ehrlich hatte lächeln sehen. Wie also könnte ich jemanden, dem es selbst so beschissen ging, mit meinen eigenen Sorgen belasten? Es fühlte sich einfach falsch an.

Apropos falsch anfühlen...dieses ganze Drama um Mayas Masturbation war seit jeher eine weitere Zutat des riesigen Gedankensalats in meinem Kopf. Zwar hatten wir darüber geredet...aber wie gesagt, Reden mit Maya war einfach nicht mehr wie früher. Wir hatten uns nicht ausgesprochen, sondern nur ein wenig zusammen geheult und waren dann beide mit einem seltsamen Gefühl ins Bett gegangen. Ich stellte mir seitdem ständig die Frage, warum Maya denn solche Probleme mit Erektionen hatte, während ich mit Ausnahme von der ein oder anderen unangenehmen Morgenlatte nahezu vollständig davon verschont blieb. Die einzige plausible Erklärung war für mich – neben den individuellen Bedürfnissen jedes Körpers nach Selbstbefriedigung natürlich – Mayas extremer Bezug zu ihren Emotionen. Es war gut möglich, dass der ganze Stress und ihre fehlende Selbstbeherrschung da so ihren Teil mit reinspielten...Wenn dies der Fall war, dann erleichterte es mich umso mehr, dass ich generell einfach rationaler und kontrollierter als meine beste Freundin war. Von einem Kim Taehyung hätte ich mir nämlich definitiv keine Erlaubnis zur Selbstbefriedigung einholen wollen. Naja...generell hätte ich das nie in seinem Körper tun können. Keine Chance.

Als unser Chauffeur den Van im Zwielicht des Morgens auf einen Parkplatz lenkte und kurz darauf vor einer riesigen Halle hielt, öffnete ich das erste Mal wieder so richtig meine Augen. Hier waren wir also. Am Filmset eines BTS-Musikvideos in einem gigantischen Studio in Namyangju. Und Maya und ich würden vor der Kamera stehen. Was für Aussichten.

Die Geschwindigkeit, in der wir aus dem Wagen geholt und ins Gebäude Richtung Maske dirigiert wurden, war mit so einem extremen Schlafmangel viel zu überfordernd. Umso glücklicher war ich, dass ich mich dort erstmal auf ein Sofa setzen durfte und von Sejin einen Vanille-Proteinshake in die Hand gedrückt bekam. Maya und Jin wurden zuerst geschminkt, während der Rest von uns in die Handys vertieft herumsaß oder halb schlafend ein wenig Musik hörte.

»Normalerweise filmen wir nicht so früh am Morgen«, murrte Jungkook neben mir und unterdrückte ein Gähnen. »Keine Ahnung, was das diesmal soll.«

Ich zuckte nur mit den Schultern. »Ich hoffe einfach, dass heute alles gut geht.«

»Das wird es«, erwiderte Jungkook und warf einen prüfenden Blick zu den uneingeweihten Makeup-Artistinnen, bevor er sich näher zu mir lehnte und zu flüstern begann. »Er wird auf jeden Fall beeindruckt von deinem Fortschritt sein. Und wenn er dann erkennt, wie viel Arbeit du für ihn auf dich nimmst, wird er auf dich zukommen. Safe.«

»Abwarten«, seufzte ich und knuffte ihm kurz in die Seite, bevor ich vom Stuhl aufstand. Man hatte Taehyungs Namen gerufen, ich war nun also mit dem Makeup dran.

Mayas und meine Blicke trafen sich, als sie sich fertig frisiert und geschminkt vom Stuhl erhob und mir Platz machte. Ihr nervöser Blick verriet sofort, dass ich nicht vor Suga stand, aber den Visagistinnen schien nichts aufzufallen. Wir schenkten einander ein kurzes, eher gezwungenes Lächeln, ehe wir aneinander vorbeiliefen. Und während ich so dort saß und mir eine fette Schicht Concealer auf meine Augenringe tupfen ließ, begann ich Mayas Nervosität mehr und mehr nachzuvollziehen. Gleich würde es tatsächlich losgehen...wir würden Szenen drehen, die Millionen von Leuten zu Gesicht bekommen würden. Zusätzlich wimmelte es am Set nur so von Mitarbeitern, die nichts vom Körpertausch wussten. Wie sollte ich da keine Angst haben?!

Meine Aufregung legte sich erst wieder ein kleines Stück, als wir die Maske mitsamt unseren neuen Outfits verließen und einen Blick auf das erste Set des heutigen Drehtags erhaschen durften. Es war ein Café mit hübschem Parkett, gelben Wänden, roten Lederbänken und diesem ganz typischen amerikanischen Touch. Das Ganze war wirklich mit viel Liebe zum Detail gebaut worden und meine Bewunderung übertraf tatsächlich die Panik – zumindest bis eine Horde von Leuten auf uns zukam. Die Crew stellte sich uns vor und nach reichlichen Verbeugungen begann auch schon die Einweisung für die ersten Szenen. Uns wurden die riesigen Schiebetüren mit den Wandleuchten gezeigt, die für die Choreografie in Einsatz kommen sollten; diese würden wir heute nämlich zuerst filmen.

Die Nervosität ließ meine Finger schwitzig werden, als ich mein eigenes Gesicht in der Menge von Technikleuten erkannte. Taehyung, der sich Haarspangen in die rote Mähne gesteckt hatte, beachtete mich nicht wirklich. Stattdessen filmte er Jungkook, der wahrscheinlich für irgendeine Bangtan Bomb das Muster des Parketts erklärte, das ein wenig an das ARMY-Symbol erinnerte. Dennoch schien er mein Starren zu spüren, denn für einen kurzen Moment sah ich, wie er seine Pupillen in die Augenwinkel wandern ließ, um mich unauffällig zu mustern. Mein Drang, ihm meine Verbesserung im Tanzen zu beweisen, stieg ins Unermessliche.

Neben den vielen unbekannten Gesichtern der Crew, die überall herumwuselte, Kabel verlegte und die riesigen Lampenschirme richtete, war ich wirklich dankbar, Sungdeuk zu sehen. Er kam mit zuversichtlicher Miene auf uns zu und winkte die gesamte Band zusammen.

»Alles klar, Jungs. Es geht heute los mit der Choreografie. Wir machen eine Aufwärmrunde, dann gehen wir eventuelle Problemstellen«, er warf mir einen resignierten Blick zu, »nochmal trocken durch. Es wäre schön, wenn bis Mittag der Tanz im Kasten ist. Also, gebt wie immer alles. Wir zählen auf euch!«

Er klatschte in die Hände, klopfte Namjoon und Hobi, zwischen denen er stand, auf die Schulter und lief dann zum Regisseur zurück.

»Leute. Macht euch nicht zu viel Stress«, warnte uns Namjoon alle.

»Und überarbeitet euch nicht zu sehr in der Aufwärmrunde«, fügte Hobi mit ungewohnt ernster Stimme hinzu. »Ich betone es nochmal für die unter uns, die es entweder noch nicht wissen oder sich nie unter Kontrolle haben...Jungkook, ich meins ernst. Wir werden viele Anläufe brauchen. Sehr viele. Bis die Crew zufrieden mit den Takes ist, wird es Stunden dauern. Also teilt euch eure Kräfte ein und übertreibt es nicht. Das hält sonst kein Mensch durch.«

Maya und ich nickten synchron. Diese Warnung war natürlich in erster Linie an uns – die Unerfahrenen – gerichtet gewesen. Mir graute es jetzt schon vor der Vorstellung, diese Choreografie dutzende Male hintereinander tanzen und dabei für die Kamera auf meine Mimik achten zu müssen. Aber Taehyung stand dort immer noch mit missmutiger Miene hinter uns. Und ich würde ihn heute nicht enttäuschen.

»Ihr werdet diesen Song nach den drei Tagen nie wieder in eurem Leben hören wollen«, meinte Jimin grinsend zu Maya und mir, als die Crew Boy With Luv für unsere Aufwärmrunde anschaltete und die Melodie augenblicklich in gewaltiger Lautstärke durch das Set hallte. Wie ernst er diesen Kommentar gemeint hatte, würde ich aber erst ein paar Tage später erfahren.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich inmitten aller BTS-Members zu tanzen begann. Warum musste ich auch direkt am Anfang die Position in der Mitte einnehmen?! Nein, jetzt bloß keine Angst haben. Jungkook hat dir alles gezeigt. Immer schön fließende Bewegungen...nicht nur auf die Schultern, sondern auch auf die Füße achten...und jetzt die Jacke. Bingo.

Als das Intro überwunden war und Jimins Part begann, in dem ich nicht tanzen musste, erhaschte ich einen ersten Blick auf Taehyung. Er starrte mich ganz unverblümt mit offenem Mund an, während seine Alibi-Kamera vergessen an ihrem Gurt von seinem Hals baumelte. Klar, so krass wie seine Reaktion es vermuten ließ, war meine Verbesserung nun auch wieder nicht...doch da er sich geweigert hatte, mit mir zusammen am Tanztraining teilzunehmen, hatte er die Veränderung noch weniger mitbekommen als Sungdeuk und der Kontrast zu vorher war stärker.

Während der gesamten Aufwärmrunde wanderte mein Blick immer wieder mehr oder weniger unfreiwillig zu ihm. Er ließ mich nicht für eine Sekunde aus den Augen und schien völlig überfordert zu sein. Am Ende konnte ich mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, obwohl ich einen der Schritte im letzten Refrain verbockt hatte. Taehyungs Reaktion war besser, als ich mir erhofft hatte. Er hatte ehrlich nicht damit gerechnet; Jungkook hatte mein Geheimnis also gut gehütet.

»Na, Mensch. Geht doch. Damit kann man doch arbeiten!«, rief Sungdeuk freudig aus, als er am Ende des Durchlaufs zum Feedback auf uns zukam. Ich hatte mich in den letzten Tagen immer absichtlich vor ihm ein wenig dumm angestellt, damit auch ihm das Training mit Jungkook nicht auffiel.

»Ehrlich...du warst...gut...echt ziemlich gut«, lachte Jimin und strubbelte mir durch die Haare. Ich fragte mich für einen kleinen Moment, ob er gerade den echten Taehyung in mir gesehen hatte und mich deswegen auf diese Beste-Freunde-Manier berührt hatte.

»Danke«, lächelte ich. »Ich hatte keinen Bock mehr...naja...nutzlos zu sein.«

Ich versetzte mir mit diesen Worten selbst einen kleinen Stich. Zu sehr erinnerte es mich an Taes Worte von vor einer Woche.

»Das warst du nie! Wie kommst du darauf?«, fragte mich Jin empört.

Ich warf Taehyung, der unser Gespräch aus der Ferne verfolgte, einen demonstrativen Blick zu. »Keine Ahnung...nur so eine Eingebung.«

Ab diesem Punkt ging die harte Arbeit erst richtig los. Sungdeuk und Hobi halfen Jin, Namjoon und mir noch den ein oder anderen Schritt auszubessern, während die Crew letzte Angleichungen an der Belichtung vornahm. Als dann alle Einstellungen und die Choreografie saßen, begann unser Lauf durchs Höllenfeuer. Es war wirklich eine Qual – schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Die ersten drei Durchläufe des Tanzes waren noch okay, aber ab da hin leerten alle Members, Maya und ich reihenweise Wasserflaschen. Kühle Waschlappen mussten ans Set gebracht werden und die Pausen wurden länger und länger, da wir alle nach Luft rangen und unser schweißverlaufenes Makeup erneuert werden musste.

Irgendetwas stimmte immer nicht. Mal vermasselte jemand einen Schritt, mal beugten wir uns zu wenig oder zu viel nach unten, mal kippte jemand vor Überanstrengung bei den Kicks einfach um. Während die Members das alle gewohnt waren, wurde ich immer frustrierter und auch Maya konnte ich ansehen, wie sie ihre Nerven mit jedem weiteren Versuch ein Stück mehr verlor. Die Anspannung in der Luft stieg und alle Anwesenden wurden immer genervter von der Person, die in dem jeweiligen Take etwas vermasselte; das ging soweit, dass sich Jin und Jimin irgendwann fast richtig in die Haare bekamen.

Als der Regisseur uns gegen 13 Uhr nach über fünf Stunden verkündete, dass wir nun die perfekte Szene im Kasten hätten, wäre ich fast vor Freude in Tränen ausgebrochen. Ehe ich überhaupt registrierte, was ich da tat, war ich Jungkook auch schon quiekend in die Arme gefallen, wobei er die Umarmung schwer atmend und mit einem kleinen Lachen erwiderte. Während ich mein Kinn auf seiner Schulter ablegte, fiel mein Blick auf Taehyung, der uns mit zusammengekniffenen Augen und angespanntem Kiefer beobachtete. Ich musterte ihn mit fragender Miene, doch er spitzte nur die Lippen, zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Ganz toll.

Es geschah in dem Raum, in dem man für uns ein kleines Mittagsbuffet aufgebaut hatte, dass Taehyung das erste Mal wieder Worte an mich richtete. Ich war gerade dabei, mir eine ordentliche Portion Reis und gekochte Karotten auf den Pappteller zu schaufeln, als er mir auf die Schulter tippte.

»Lust zu reden?«, murmelte er und musterte die riesige Menge an Essen auf meinem Teller interessiert.

»Von mir aus«, gab ich möglichst gelassen zurück, obwohl mein Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer machte. »Aber ist das hier denn so eine gute Idee?«

Ich sah mich zweifelnd um. So einige Mitarbeiter befanden sich mit in dem kleinen Saal und genossen ihre kurze Mittagspause. Ihnen würde es eventuell komisch vorkommen, wenn ein Member sich so lange mit einem »Crew-Mitglied« unterhielt.

»Wir haben nicht viel Zeit«, stimmte mir Taehyung flüsternd zu. »Ich wollte dich eh nur fragen...naja...was passiert ist. Seit wann verstehst du dich so gut mit Jungkook?«

»Das ist deine erste Frage?«, lachte ich fassungslos auf.

»Ich denke, dass es was damit zu tun hat, warum du dich jetzt so viel besser anstellst, alsoooo...ja.«

Ich drehte mich vom Buffettisch zu ihm, sodass wir einander dicht gegenüberstanden, und musterte ihn mit meinem bestmöglichen Pokerface. Allerdings machte auch er keine Anstalten, sich abzuwenden, weshalb ich den Starrwettbewerb irgendwann abbrach und den Blick seufzend senkte.

»Du meintest, dass ich untalentiert bin. Vielleicht...ganz eventuell...hat es mich ein wenig verletzt, dass dir meine Bemühungen zu wenig bedeuten und du mich dafür runtermachst, dass ich musikalisch nicht sonderlich begabt bin. Also hab' ich mich doppelt angestrengt.«

»Mit Jungkooks Hilfe?«

»Mit Jungkooks Hilfe«, erwiderte ich. Ich spürte Taehyungs Blick noch für einen Moment auf mir, dann stellte er sich neben mich, um seinen Teller selbst mit den Karotten zu füllen.

»Das ist völlig übertrieben«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Wie viel Schlaf hat euch das geraubt? Ehrlich, ich kann's nicht fassen. Das alles nur, weil ich dir diese Scheiße, die ich zwei Minuten später bereut habe, an den Kopf geworfen hab'?«

»Schon, aber nicht nur deshalb«, verteidigte ich mich. »Ich habe es nicht nur für dich getan. Sondern auch für mich. Es fühlt sich gut an, mal nicht die komplette Enttäuschung der Gruppe zu sein.«

»Du hast sie echt nicht mehr alle«, grummelte Taehyung schließlich, hob dann aber den Blick und schenkte mir ein vorsichtiges Lächeln.

»Du auch nicht«, erwiderte ich und griff nach einer Packung Einwegstäbchen. »Mich eine Woche zu ignorieren, war auch nicht fair.«

Er kratzte sich verlegen am Kopf. »Ja, ich weiß. Tut...tut mir leid, okay? Wie wär's...wir lassen den Streit hinter uns und du erzählst mir stattdessen, wie es genau zu dieser Verbesserung kam?«

»Die Idee mit dem Vertragen finde ich gut, das Erzählen muss aber wohl warten. Die anderen Mitarbeiter gucken schon komisch, weil wir so lange reden«, murmelte ich und ließ den Blick unauffällig durch den Saal wandern. Tatsächlich musterten uns einige Augenpaare interessiert.

»Okay. Dann später«, erwiderte Taehyung. »Bis dann.«

»Bis dann.«

»Ach und, Julia?«

»Ja?«

»Ich bin stolz auf dich. Ehrlich. Aber mir hättest du echt nichts beweisen müssen. Das hat jemand wie du nicht nötig.«

Meine Wangen wurden seltsam hitzig, als ich mich mit einem dämlichen Lächeln abwandte. Jemand wie ich hatte das nicht nötig...? Was wollte er mir damit sagen? Viel Zeit, darüber nachzudenken, würde mir wohl nicht bleiben, denn ich hatte durch das Quatschen nun ohnehin schon einen großen Teil meiner Mittagspause verpasst. Dennoch blieben meine Mundwinkel bis zum Ende des Tages immer ein kleines Stück gehoben.

Der Nachmittag und der Abend zogen sich hin wie Kaugummi. Wir drehten Szenen, an denen wir alle auf den roten Ledersofas saßen und Jimin auf dem Tisch. Der schlimmste Teil davon war, dass wir trotz unserer Erschöpfung super gut gelaunt spielen mussten. Das wirkte an manchen Stellen so bescheuert und unenthusiastisch, dass wir uns selbst müde auslachten. Außerdem machte mir das hohe Maß an Skinship in diesen Takes total zu schaffen. Ständig wurde ich von Jimin umarmt oder von Hobi in einen Handshake verwickelt. Mal prostete mir Jin zu, mal wollte der Regisseur, dass ich Maya antanzte. Irgendwann wollte ich allerdings einfach nur noch in Ruhe gelassen werden – was natürlich überhaupt nicht in Frage kam.

»Was soll das heißen, wir haben für heute noch ganze zwei Sets vor uns?!«, quiekte ich Jungkook entsetzt zu. »Es ist schon 19 Uhr!«

»Willkommen in meinem Leben«, schnaufte er. »Aber soll ich dir mal was verraten? Je später es wird, desto nachsichtiger wird die Crew mit uns. Jetzt ist ungefähr die Uhrzeit, ab der man ohne Konsequenzen anfangen kann, die Süßigkeiten vom Regisseur zu stehlen. Komm, wir holen uns Lollies.«

»Das können wir nicht machen!«

»Magst du lieber Cola oder Kirsche?«, überging er schelmisch meinen Einwand.

»Jungkook!«

»Komm schon, mach dich locker.«

Wir lieferten uns ein kurzes Blickduell, ehe ich ergeben die Schultern hängen ließ. »Kirsche.«

»Na siehste.«

In neuen Outfits, die zwar ziemlich hässlich waren, aber dafür im Dunkeln leuchteten, ging es schließlich an ein dunkleres Set mit vielen gelben Straßenlaternen. Ein wenig erinnerte es mich an La La Land und Hobi schwang sich auch gerade wie Ryan Gosling um die Laterne, was mich zum Schmunzeln brachte. War es nicht sogar so, dass die beiden Schauspieler der Protagonisten für den Film das Tanzen erst hatten lernen müssen? Es gab mir ein wenig Hoffnung...fast so, als wäre alles irgendwie möglich.

Ja, auf irgendeine schräge Weise schien echt alles möglich zu sein. Wie sonst hätte ein Körpertausch stattfinden können? Und wie sonst hätte ich diesen folterähnlichen Drehtag überlebt? Als wir alle gemeinsam kurz vor Mitternacht das Set verließen, wusste ich nicht, welche Gefühle bei mir überwogen. Freude über meine Versöhnung mit Taehyung? Panik, weil ich nicht wusste, wie ich zwei weitere Tage dieser Art überstehen sollte? Stolz, weil ich endlich mal Lob von Sungdeuk bekommen hatte? Angst, weil es nun Szenen von mir in Taehyungs Körper gab, die zu einem ganzen Musikvideo zusammengeschnitten werden würden?

Ich wusste es nicht.

Noch überforderte es mich zu sehr, dass ich an den letzten beiden Sets – diesem La-La-Land-Verschnitt und einem Ticketschalter-Saal – sogar Einzelszenen hatte drehen müssen. Noch wusste ich nicht, wie ich morgen nach so vielen Durchgängen der Choreografie meine Beine noch bewegen sollte. Noch konnte ich nur darüber grübeln, was Taehyung bei unserem kurzen Gespräch genau gemeint hatte.

Aber während ich mich auf der Rückfahrt in meine Jacke kuschelte, die ich als Kissen zwischen meinen Kopf und die Autotür geklemmt hatte, wurde mir eins klar...Diese Gruppe stand hinter mir. Egal, wie viele Fehler ich machte...egal, wie oft ich mich noch mit Tae in den Haaren haben würde...egal, wie wenig Maya und ich momentan miteinander redeten...am Ende des Tages konnten wir aufeinander zählen.

Das war es wohl, was uns allen blieb, wenn es denn schon nicht der eigene Körper war. 

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