01 - Maya
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Kapitel 1
»Maya«
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Januar 2019
Maya
Ich starrte mit verschwommenem Blick auf den Blindtext vor meinen Augen und schob ihn noch ein wenig weiter nach rechts, um ihn in den Satzspiegel zu rücken. Später würde hier wohl mal eine mehr als übertriebene Anregung an die zu gewinnenden Preise des Kreuzworträtsels stehen, deren Fotos ich bereits mit Photoshop freigestellt im Feld daneben platziert hatte. Ein NicerDicer. Wer hatte sich überhaupt so einen bescheuerten Namen für ein verdammtes Multi-Schneidegerät ausgedacht?!
Ich seufzte leise in mich hinein, ließ von meiner Maus ab und rieb mir die Augen. Rätselseiten waren definitiv nicht das, was ich mir für meinen Einstieg in die Berufswelt gewünscht hatte. Und schon gar nicht für irgendwelche Yellow-Press-Magazine, die nebenbei über Helene Fischers Cellulite, die geschmacklosen Skandale des Dschungelcamps und uninteressante Spekulationen über das britische Königshaus berichteten.
Viel lieber wäre ich in einer der Grafik-Abteilungen im Stockwerk über mir. Diese gehörten zu den Redaktionen der Reise- und Kulturmagazine, aber auch der Special-Interest-Sektion unseres Verlags, welche sich mit vielen Bereichen der Musik beschäftigte. Egal ob genrebezogene Hefte zur Rockmusik, Fachzeitschriften zu Instrumenten oder Kritikerwerke. Für eine Person wie mich, die quasi mit der Gitarre in der Hand laufen gelernt hatte, ein wahrer Traum. Auch wenn es in meinem Job lediglich darum ging, Texte, Formen und Bilder so zu ordnen und zu bearbeiten, dass sie ein schönes Layout ergaben.
Leider war ich nach meiner Ausbildung erstmal in die Rätselabteilung gerutscht. Wie sagte man so schön? Von ganz unten hocharbeiten. Und ja, dieser Ort fühlte sich wirklich wie eines dieser Ganz-unten's an. Den lieben langen Tag lud ich langweilige Kreuzworträtsel, Sudokus und Quizfragen in die mir gegebenen Positionen, während mir von der anderen Seite Florian Silbereisens furchtbar schleimiges Grinsen entgegenstarrte. Als wäre er sich sehr wohl darüber im Klaren, dass er es mit seiner einschläfernden Schlagermusik so viel weitergebracht hatte, als ich es jemals mit meinem Job tun würde. Traurig. Einfach nur traurig.
Mein Blick fiel nach rechts, wo Pauli gerade genervt aufgestöhnt hatte. Ich kannte dieses Geräusch nur zu gut. Schon in unserer gemeinsamen Ausbildung hatte ich es oft genug gehört.
»Was will wieder nicht?«, fragte ich sie und stemmte den Kopf in die Faust. Ich nahm gerne jede Ablenkung entgegen, die mich kurz von diesen verdammten Rätseln wegbrachte.
Pauline warf genervt ihre braunen Haare zurück und band sie mit ihrem Haargummi im Nacken zu einem schlampigen Dutt. »InDesign ist abgeschmiert und ich habe nicht gespeichert. Ich werfe diesen verdammten Scheißrechner bald aus dem Fenster, wenn das noch einmal passiert!«
»Das würde ich zu gerne sehen«, kicherte ich, wohl darauf bedacht, nicht zu laut zu sprechen. Hier saßen immerhin noch einige andere Grafiker in unserem Großraumbüro.
»Ha ha!«, machte Pauli und verdrehte die Augen. »Das ist echt nicht lustig, Maya. Wir haben morgen Abgabe für dieses bescheuerte Sonderheft, Profirater-Spezial muss fertig werden und gerade kam noch was Kurzfristiges für die Neuste Post rein. Es gibt noch viel zu viel zu tun. Das wirft mich gerade wieder viel zu weit zurück und ich könnte kotzen.«
»Dann aber bitte auf die Hefte«, murmelte ich, was meine Kollegin dann letztendlich doch zum Kichern brachte.
»Hallo unbezahlte Überstunden!«, frohlockte sie schließlich in theatralischem Ton, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. »Wie sehr ich euch doch liebe!«
»Ich bin ja auch noch da«, versuchte ich sie aufzubauen, wobei ich aber selbst nicht wirklich überzeugt klang. Immerhin hatte sie recht. Es war verdammt viel Arbeit zu erledigen und heute würden wir wahrscheinlich erst später als zu unserem regulären Feierabend das Büro verlassen.
Pauli seufzte und warf einen Blick auf die Uhr. »Fitnessstudio kann ich heute Abend vergessen. Aber immerhin kann ich dich dann mal wieder ganz bis nach Hause mitnehmen.«
»Oh wow! Das ist der beste Tag meines Lebens!«, witzelte ich und fing mir dafür ein augenverdrehendes Kopfschütteln von ihr ein, auf das aber ein Grinsen folgte.
Pauline und ich wohnten seit Mitte letzten Jahres zusammen mit meiner besten Freundin Julia in einer WG in Berlin-Pankow. Dies war aus dem simplen Grund zustande gekommen, dass Paulis Vater ihr die Wohnung angeboten hatte, als er mit dem Rest der Familie aus dem Zentrum gezogen war. Leider hätte sie sich das niemals alleine finanzieren können, weswegen sie während unserer Ausbildungszeit auf mich zugekommen war. Immerhin hatte es sich aufgrund unserer gemeinsamen Arbeitsstelle und der Tatsache, dass wir uns gut verstanden, angeboten. Allemal besser als die Wundertüte an WG-Bewerbern zu durchforsten, die man bekam, wenn man in Berlin eine Anzeige online stellte.
Pauline nahm mich jeden Morgen mit dem Auto mit zur Arbeit. Aufgrund ihrer vielen Freizeitbeschäftigungen, ihrem Freund und den ständigen Fitnessstudio-Besuchen, denen sie nach Feierabend nachging, fuhr ich aber regulär mit der TRAM vom Hackeschen Markt nachhause, in dessen Nähe sich der Spiegelberg-Verlag befand. Ich war also nicht undankbar, heute auf die Feierabendmassen an diesem Bahnhof verzichten zu können.
Es wurde schließlich kurz nach 18 Uhr, bis sie und ich uns endlich dazu aufraffen konnten, Feierabend zu machen und den Montag arbeitstechnisch für beendet erklärten. Ich warf mir meine schwarze Jacke über und zog mir die Kapuze meines grauen übergroßen Pullovers über meine Beanie, als wir gerade am Empfangsbereich auf die Drehtür des Verlagsgebäudes zugingen.
Berlin wurde momentan von einer erbarmungslosen Kältewelle heimgesucht, die meinen Kleiderschrank an seine Grenzen trieb und mich in ein Leben im Zwiebellook zwang. Ich musste mir dringend winterfestere Klamotten besorgen, bevor zu den Minusgraden auch noch Schnee dazukam. Ein Glück befanden wir uns an diesem Tag schnell in der rettenden Wärme von Paulis Toyota, der auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude stand.
»Willst du Musik anmachen?«, fragte sie mich, als wir uns gerade in die durchgesessenen Polster des Wagens fallen gelassen hatten. »Das AUX-Kabel liegt bestimmt wieder irgendwo im Fußraum.«
»Wow, heute bist du wirklich echt nett zu mir«, lachte ich auf, während ich nach besagtem Kabel kramte und es schließlich in mein Handy einsteckte. »So nett, dass du auch meine Musik erträgst?«
»Du weißt, ich habe nichts gegen eure Koreaner«, erwiderte Pauli, während sie mit konzentrierter Miene rückwärts ausparkte. »Wegen euch ist jetzt auch dieses DNA in meiner Playlist...und FAKE LOVE mag ich auch ganz gerne.«
»Das sehe ich mal als Einladung«, grinste ich und keine paar Sekunden später dudelten die ersten Töne von V und Jungkooks Intro von FAKE LOVE durch den Wagen. Wie automatisch begann ich mich zu der Musik zu bewegen und deutete die Tanzschritte an, die mir dazu noch einfielen. Zu BTS würde ich niemals stillsitzen können.
Die koreanische Band hatte es Julia und mir schon seit einigen Jahren angetan. Um genau zu sein waren wir im Jahre 2016 zu Blood Sweat & Tears in der Wings-Era in das Loch namens BTS gefallen. Besser gesagt, ich. Mir war es bis heute ein Rätsel, wie ich es geschafft hatte, meine beste Freundin in die ganze Sache mit reinzuziehen. Sie war absolut nicht der Typ für Boybands – sogar noch weniger als ich. Dennoch konnte man es bei mir als nicht allzu weit hergeholt sehen, dass jemand, der ohnehin auf groovigen amerikanischen Hip-Hop und R&B wie Lil Peep, Drake, Eminem und Wiz Khalifa stand, auch mit den Songs von BTS sympathisierte.
Inzwischen hörte ich außer BTS sogar noch andere Bands im K-Pop-Bereich wie BIGBANG, Stray Kids und Monsta X. Zu meinen Favoriten zählte unter anderem MAMAMOO. Julia dagegen wehrte sich fast schon vehement dagegen, irgendeine weitere Idol-Group in ihr Leben zu lassen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. K-Pop konnte für einen Fan wirklich anstrengend werden.
Ich zählte mich nicht zu den Hardcore-Fans, die ihre Zimmer mit Postern dekorierten, sich Merch und dergleichen kauften und durch die Stadt spazieren trugen. Viel mehr zu einem der stillen ARMYs, die sich davor fürchteten, öffentlich zu ihrem Musikgeschmack zu stehen. Nicht nur, weil man dann mit einem Haufen toxischer, pubertierender 12-Jähriger über den Kamm geschert wurde... Ich hasste es im Allgemeinen, für einen besonderen Musikgeschmack schief angeschaut zu werden. Und K-Pop war eben etwas, das von vielen schon aufgrund des Ursprungslandes belächelt und herabgespielt wurde. Ziemlich traurig, aber was sollte man machen.
»Kommen die eigentlich irgendwann mal wieder nach Berlin?«, fragte Pauli plötzlich wie aus dem Nichts, als sie gerade den Asia-Markt an der Schönhauser Allee passierte. Als hätte dieser sie auf irgendeine seltsame Weise auf diesen Gedanken gebracht.
»Sie waren doch erst im Herbst in der Mercedes-Benz Arena«, grummelte in mich hinein und fühlte mich augenblicklich wieder schlecht bei den Klängen von I'm Fine, das inzwischen FAKE LOVE abgelöst hatte.
Als BTS im letzten Oktober für ihre Love-Yourself-Tour nach Berlin gekommen war, hatten Julia und ich wirklich Rotz und Wasser geheult, weil wir an keine Karten mehr gekommen waren. Fast schon peinlich für uns beide Ortsansässige. Die Sache hing mir auch noch jetzt, im Januar, in den Knochen und brachte bei jeder Erinnerung einen bitteren Beigeschmack mit sich. Julia tat zwar so, als wäre sie inzwischen darüber hinweg, aber mir war klar, dass es in ihr ganz anders aussah. Wer wusste schon, ob wir je wieder die Chance bekommen würden, BTS live zu sehen
Ich drehte die Musik etwas leiser und wandte mich stattdessen dem Stadtbild Berlins zu, das an meinem Fenster vorbeizog. Schon verrückt, wie sich mein Leben bisher nur in Hauptstädten abgespielt hatte. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war ich noch in Oslo aufgewachsen. Dann kam das Jobangebot an meinen Vater. Ein Umzug. Eine neue Sprache, dumme Grundschulkinder und jede Menge Probleme. Ich konnte wirklich froh sein, dass ich Julia schon seit meiner frühsten Tage in Deutschland an meiner Seite gehabt hatte. Und nun wohnten wir sogar zusammen.
Es dauerte zehn Minuten, bis wir endlich an dem Mehrfamilienhause in Berlin-Pankow ankamen, in dessen zweiten Stock sich unsere 4-Zimmer-Wohnung befand. Ich kuschelte mich wieder eng in meine Klamotten, um den kurzen Weg vom Straßenrandparkplatz zur Eingangstür zu überleben, dann sprinteten wir durch das muffige Treppenhaus bis zu unserer Wohnungstür. Drinnen empfing uns eine wohlige Wärme und ich schälte mich erleichtert aus meiner viel zu dünnen Jacke.
»Julia?!«, rief ich sofort in den Flur hinein, während ich obendrauf aus meinen Schuhen schlüpfte. Pauli, die schneller gewesen war als ich, verschwand unterdessen in die Küche, in der sie erst einmal das Licht anschalten musste.
»Sie ist in Blankenfelde«, kam es schließlich dumpf aus dem Raum. Kurz darauf stand meine Kollegin wieder am Türrahmen und hielt grinsend den Zettel in die Höhe, auf dem ich Julias schöne Handschrift erkannte. »Zu süß, wie ihr euch immer noch wie in der Grundschule solche Zettelchen schreibt. Als gäbe es WhatsApp nicht.«
»Lass uns doch romantisch sein«, schmunzelte ich zurück, als ich endlich meinen zweiten Schnürstiefel losgeworden war. »Außerdem macht sie das nur, weil sie zu oft Angst haben muss, dass ich mein Handy verlege.«
»Verdammt, das ist ein gutes Argument«, rief Pauli lachend und schlug sich an die Stirn. »Sie kennt dich einfach besser als ich...sorry.« Mit diesen Worten wandte sie sich wieder dem Kühlschrank zu, dessen Inhalt sie mit größter Sorgfalt inspizierte. »Hast du Lust auf Pizza später? Wenn ich heute schon nicht ins Fitnessstudio gegangen bin, kann ich auch gleich einen ganzen Cheat-Day draus machen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar, warum nicht. Aber wir sollten auf Julia warten.«
Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass Julias Familie sie nach einem Besuch nicht hungrig gehen ließ, aber man konnte nie wissen. Schnell tippte ich eine Nachricht in ihr Chatfenster auf WhatsApp ein, in der ich sie fragte, ob sie mitbestellen wollte. Ihre Antwort ließ, wie so oft, nicht lange auf sich warten.
»Okay, vergiss es«, sagte ich an Pauli gewandt. »Ihre Stiefmutter hat schon für sie gekocht.«
»Alles klar...für dich dann wieder Spaghetti Carbonara?«
»Du kennst mich ja doch ziemlich gut«, grinste ich und gab ihr einen Daumen nach oben. Pauli lachte auf und schnappte sich die am Kühlschrank befestigte Broschüre des Lieferdienstes, die meine Layouter-Augen jedes Mal bluten ließ. Dazu befand sich relativ schnell ihr Smartphone an ihrem Ohr und ich sah das als Einladung, die Küche zu verlassen. Sie mochte es nicht, beim Telefonieren beobachtet zu werden.
Mit gezielten Schritten ging ich in mein Zimmer, wo mich direkt das wohlbekannte Chaos begrüßte. Klamotten lagen zerstreut auf dem Boden, zusammen mit Büchern, Taschen und einer Menge anderem Krimskrams, den ich irgendwie nie aufräumte. Immerhin meine Gitarre stand da, wo sie eigentlich hingehörte: In ihrem Ständer unterhalb meines Fensters.
Ohne große Umschweife bahnte ich mir einen Weg über die wenigen freien Flecken des Bodens zu meinem hochheiligen Instrument, schnappte mir dessen Griff und warf mich damit auf mein großes, ungemachtes Bett. Sofort glitten meine Finger zu den Saiten, positionierten sich für die spontanen Akkorde und spielten die ersten Töne eines namenlosen Songs. Bald schon erfüllte eine Melodie den Raum, die so spontan, wie sanft das Chaos in meinem Zimmer wieder wett machte. Zumindest für mich.
Manchmal würde ich gerne Gitarre spielen und gleichzeitig tanzen können. Diese beiden Dinge beherrschten mein Leben mehr als alles andere und es war wirklich ein Jammer, dass sich nicht beides auf einen Schlag ausführen ließ. Spontane Melodien verbunden mit Freestyle-Bewegungen...das wär's.
Ich freute mich schon auf meinen Hip-Hop- und Modern-Dance-Kurs am Donnerstag – die einzige reguläre Freizeitbeschäftigung, der ich regelmäßig nachging. Tanzen machte mich glücklich und inzwischen hatte ich dort sogar durchsetzen können, dass wir uns ein paar BTS-Choreografien annahmen. Nach Danger, MIC Drop und FAKE LOVE lernten wir gerade Anpanman. Doch bis es Donnerstag damit weiterging, musste ich mich erst einmal noch durch drei geschlagene, stressige Arbeitstage kämpfen.
Und Schwups, da waren sie wieder: Die Gedanken an die Arbeit. Ich betete so sehr, dass sich das alles eines Tages lohnte. Dass ich einer Beschäftigung nachgehen würde, die mir Spaß machte. Keine hässlichen Rätsel mehr in Seiten einladen. Eine bessere Bezahlung. Ein besserer Chef, der uns nicht wie Sklaven behandelte und Überstunden anrechnete.
Ob ich nicht doch lieber einen Weg einschlagen hätte sollen, der sich mehr mit meinen Fähigkeiten vereinbarte? Aber was brachte einem das Gitarre spielen und Tanzen, wenn man einen stabilen und guten Job finden wollte? Richtig. Nichts.
Trotzdem träumte ich...obwohl ich nicht einmal wusste, von was ich genau träumen sollte. Vielleicht wusste ich nicht einmal genau, was ich wollte. Genau wie der namenlose Song, den ich immer noch spielte und der keine klare Linie aufwies. Keinen roten Faden. Das reinste Chaos. Genau wie ich.
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