Kapitel 6
Lucy
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Annabelle aufgestylt aus dem Badezimmer und gewährte mir endlich Einlass. Zuerst putzte ich mir meine Zähne, duschte mich kurz ab und föhnte meine Haare in Windeseile. Zusammengefasst brauchte ich nicht mal halb so lang wie meine lahme Schwester. Ohne einen letzten Blick in den Spiegel trat ich aus dem Zimmer und einer erschrocken drein guckenden Annabelle gegenüber.
„Was ist?" fragte ich schroff.
„Um Himmels Willen, Lucy. Mit diesem verdammten Zelt nehme ich dich nirgendwo mit hin", vorwurfsvoll deutete sie mit dem Zeigefinger auf meinen Hoodie namens Zelt.
„Dieses Zelt ist aber tausendmal gemütlicher als deine Presswurst", verteidigte ich mein Lieblingskleidungsstück und warf ihrem engen Kleid einen verachtenden Blick zu.
„Lucy", seufzte sie frustriert auf, als würde sie mit einem Kleinkind reden. Vielleicht war ich das auch, aber niemals würde sie mich aus diesem Hoodie bekommen, nicht bevor er sich durch das viele Tragen aufgelöst hat, erst dann würde ich mit ihr verhandeln.
„Ich lasse es an. Mir ist egal, was deine Freunde von mir denken."
„Meine Freunde sind nicht das Problem, sondern du."
Fragend sah ich sie an. Warum zur Hölle standen wir immer noch zwischen Angel und Tür?
„Du hast eine ganz passable Figur, die du mit diesen weiten Klamotten nur noch mehr verschandelst. Zieh doch wenigstens untenrum etwas anderes an."
Ich schaute an mir herab. Fand jedoch keinen Grund zur Aufregung. „Was hast du gegen eine schwarze Leggings?"
„Das ist nicht mal eine richtige Hose, Lucy!" sie warf dramatisch die Hände an den Kopf. Jetzt übertrieb sie aber, oder? Ich dachte sonst nie so viel über mein Outfit nach wie in den letzten Minuten.
„Und brauche ich eine richtige Hose um etwas trinken zu gehen?", blieb ich hartnäckig. So langsam merkte ich, dass sie mit ihrer Geduld am Ende war. Und tatsächlich drehte sie sich im nächsten Moment auf ihrem hohen Absatz um und marschierte, die Handtasche um die Schulter geworfen auf die Haustür zu.
„Mit dir kann man echt nicht diskutieren."
„Dito", warf ich ihr daraufhin entgegen, während ich ihr mit einigem Abstand folgte. Im Gegensatz zu ihr brauchte ich keine Tasche, sondern nur meinen Hoodie, in dem ich alles Notwendige jederzeit bei mir trug.
Nachdem ihr Freund, Daniel uns mit seinem fetten Schlitten abgeholt hatte und zur Kneipe fuhr, betrachtete ich die übertrieben teure Inneneinrichtung des Autos. Nicht nur, dass das Leder sich unangenehm an meinem Hinter anfühlte, auch die getönten Scheiben nahmen mir die getreue Sicht auf die Welt. Lange hielt ich es nicht aus, und ließ die Fensterscheibe mit einem leisen Surren nach unten fahren. Der Fahrtwind wehte mir friedlich in mein Gesicht und ich konnte endlich durchatmen. Schon lange bin ich nicht mehr in einem Auto gefahren, geschweige denn in so einer Bonzen Karre.
Daniel hingegen schien wider zu erwarten eigentlich recht nett, obwohl er sich vor allem auf das Fahren konzentrierte und daher nicht sehr viel plaudern konnte. Das war jedoch nicht schlimm, denn meine Schwester quasselte am laufenden Band, um ja die peinliche Stille im Wagen zu überspielen.
Und das schlagende Argument war, dass er freiwillig mit meiner Schwester zusammen war. Er konnte also nicht wirklich bei Sinnen sein.
„Lucy, die Kneipe wird dir sicherlich gefallen. Sie nennt sich Cats und gehört eindeutig zur Szene in der Stadt."
Ui wie toll. Ich verdrehte die Augen.
„Und mein Studiumskollege Markus wird ebenfalls zu uns stoßen. Er ist wirklich nett, und sehr intelligent"
„Muss ich mir da etwa Sorgen machen?", witzelte Daniel mit einem Seitenblick auf seine Freundin.
Ach bitte, als würde meine perfekte Schwester überhaupt in so eine verwerfliche Richtung denken.
„Nein", sagte diese fast schon übertrieben laut. Neugierig wandte ich meinen Blick nach vorne. Oder etwa doch?
Ich konnte meinen Gedankengang nicht weiter ausführen, denn im nächsten Moment hielten wir an einer kleinen Kneipe mit dem blinkenden Schriftzug Cats über der Tür an.
Während wir darauf zu liefen, glitten meine Hände reflexartig um den quadratischen Geldbeutel, der sich in meinem Hoodie befand. Dieser Junge, der mich beim Einbruch erwischt hatte, würde mich nicht verraten. Da war ich mir warum auch immer sehr sicher. Obwohl ich nicht wusste, was er davon hatte, beharrte er dennoch auf meine Bestechung in Form eines Burgers.
Vielleicht hätte ich seinen Geldbeutel doch nicht stipitzen sollen, denn das könnte auch gleichzeitig mein Untergang sein. Trotzdem wüsste ich immer gerne Bescheid, mit wem ich es zu tun habe, vor allem, wenn dieser jemand so unverschämt aufdringlich war.
Im Innenraum angekommen, steuerte Annabelle mit schnellen Schritten einen Tisch an, der sich im hinteren Bereich befand. Daniel folgte ihr wie ein kleines Hündchen, dem ein Leckerchen versprochen wurde. Ich ging es etwas langsamer an und ließ meinen Blick umherschweifen. Die Kneipe war recht klein, bot jedoch eine kleine Tanzfläche, eine Theke, die die Bar darstellte und einen kleinen Absatz, die eine Art Bühne sein sollte, mit einem Mischpult darauf. Die Musik, die aus den Boxen strömte, war ruhig und gelassen. Ich schlenderte etwas weiter nach rechts, wo ich zwei Türen mit dem Aufdruck Toilette und Privat ausfindig machen konnte.
„Lucy!" Annabelles helle Stimme drang an mein Ohr. „Komm schon her!"
Mit einem genervten Schnauben brach ich meine Besichtigung ab und stapfte auf die zwei zu. Mit einem strahlenden Lächeln, das mich fast blendete, klopfte sie mit der flachen Hand auf den Sitz neben ihr. Ein Wunder, dass ihr Hündchen nicht darauf saß. Ruhig Blut, Lucy.
Ohne zu Murren setzte ich mich auf den freien Platz.
„Markus müsste auch bald kommen", warf Daniel in die Runde, während ich die Getränkekarte studierte. Was trank man denn hier am besten? Einen überteuerten Cocktail oder doch lieber ein paar Shots, die mich vielleicht meine jetzige Situation vergessen ließen?
„Wenn man vom Teufel spricht", sagte meine Schwester freudig und ich wagte einen Blick über den Rand der Karte hinaus. Doch was ich dort sah, verschlug mir für einen kurzen Augenblick den Atem.
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