Kapitel 5

Lucy

„Hallo Schwesterherz", umarmte mich Annabelle alias meine oberzickige Zwillingsschwester hoch zehn und drückte mich fest an sich, sodass mir ihr übertrieben aufdringliches Parfum in die Nase stieg. Wäre ich nicht auf ihre Hilfe angewiesen gewesen, würde ich sie von mir schieben, unter die Dusche stellen und mit Aceton abwaschen, damit der grässliche Geruch von ihr verschwand. Ihr teures Parfum drückte nicht mehr aus, als dass sie besser als ich war, die klügere von beiden, was auch immer schon unsere Mutter predigte. Dieses Teufelsweib stand ebenfalls im Türrahmen und verzog ihr Gesicht zu einem unechten Lächeln. Wieso nur musste ich in diese Hölle? Wieso konnte ich nicht einfach bei Dad bleiben?

„Hallo, meine Kleine." Jetzt wurde ich an meine Mutter weitergereicht, die nicht weniger mit ihren Fläschchen um sich warf. Das war kaum auszuhalten. Genau den Gedanken vollführte auch meine Nase, die lautstark zu jucken begann, als meine Mutter sich von mir löste. „Du bist hübsch geworden, Lucy." Die unausgesprochene logische Tatsache, die sich aus ihren Worten ergab, dass ich endlich ansehnlich für diese Familie war, hing zwischen uns wie ein schweres Damoklesschwert.

„Und du bist dank deines guten Schönheitschirurgen kein Stück älter geworden", feuerte ich ihr in ihr geglättetes Gesicht. Sie zog daraufhin stark die Luft ein.

„Hör mal, kleines Fräulein. So fangen wir schon gar nicht erst an. Du wirst dich in diesem Haus benehmen, sonst ...", da sie kurz stockte, nutzte ich die Gelegenheit und ergriff wieder das Wort.

„Ansonsten?", fragte ich provozierend. „Wirst du mich zurück zu Dad schicken? So wie schon einmal?" Im Augenwinkel sah ich wie Annabelle sich schockiert die Hand vor den Mund warf. Sie war ja die Unschuld in Person.

„Luciana Rose, diesen Ton verbiete ich mir. Bis dein Vater seine Probleme geregelt hat, werden wir gemeinsam unter diesem Dach wohnen, ob wir es nun wollen oder nicht. Du kannst deine Sachen im Gästezimmer auspacken." Mit diesen Worten wandte sie sich von mir ab und stöckelte auf ihren hohen Schuhen durch den Flur und aus meinem Sichtfeld. Warum ich nicht mehr in mein altes Zimmer gehen konnte, brauchte ich gar nicht zu fragen. Wahrscheinlich befand sich dort ein Ankleidezimmer, das die beiden ja so verdient hatten.

„Musstest du so fies zu Mom sein, Lucy? Sie hat es wirklich nur nett gemeint", holte mich meine blondhaarige Schwester aus meinen Gedanken. Ich schnaubte über ihre Bemerkung. Nett? Nettigkeit kannte diese Frau nicht. Aus diesem Grund hatte sich auch unser Vater damals von ihr geschieden.

„Komm, ich helfe dir mit deinen Sachen", bot sie sich an. Doch viel konnte sie nicht tragen. Mein ganzes Gepäck bestand aus meinem Rucksack und meiner Kleidung am Leib, die ich dann wohl doch noch alleine in das Zimmer schaffen konnte.

„Schon gut, ich habe nur meinen Rucksack."

„Nur einen Rucksack? Machst du Witze?", fragte sie ungläubig, woraufhin ich ihr nur mit einem Schulterzucken antwortete.

„Wie bekommst du all deinen Krempel in dieses kleine Ding?" Während sie sprach, schloss sie hinter mir die Tür und ging Richtung Wohnbereich, wo sich auch das Gästezimmer befand. Die restlichen Schlafräume verteilten sich auf der oberen Etage, die jedoch für die böse Zwillingsschwester nicht willkommen war.

Mit einem Seufzen ließ ich meinen 'Krempel' auf das schmale Bett, welches mitten im Zimmer stand, fallen und betrachtete die Kommode und den kleinen Sessel, die wie reingequetscht in diesem Raum wirkten. Das war also für die nächsten Wochen, Monate, Jahre mein Rückzugsort.

„Ich brauche nicht viel zum Leben", nahm ich das Gespräch wieder auf. Dass ich nicht vorgehabt hatte, lange bei den zwei Grazien zu bleiben, verriet ich nicht. Sollte sie sich ruhig ihren Teil dazu denken, was sie sowieso immer tat.

„Wie du meinst." Nachdem ich mich auf die weiche Matratze hab fallen lassen, betrachtete sie mich aus einigem Abstand von oben nach unten. „Was hast du da eigentlich an? Du siehst richtig scheiße aus."

Bei ihrer Ausdrucksweise musste ich schmunzeln, was sie kurz darauf bemerkte und sich schnell entschuldigte. „Ich meine, dein Aufzug ist wirklich schrecklich. Wo hast du diesen viel zu großen Pullover und diese weiten Jeans her? Aus der XXL-Abteilung?"

Wieder musste ich lächeln. „Das ist der letzte Schrei bei den Armen, wusstest du das nicht?"

Sie wurde augenblicklich rot. „Lucy... ich wusste ja nicht, dass du ...dass du und Dad solche Probleme habt." Solche Probleme. Sie konnte es noch nicht einmal aussprechen.

„Das macht nichts, jetzt bin ich ja hier bei euch." Sie schenkte mir bei meinen vermeintlich versöhnlichen Worten ein Lächeln, was nach einigen Sekunden jedoch wieder erlosch. „Und kann dafür euch ausnehmen", schloss ich meinen Gedanken, von dem ich wusste, dass er sie ärgern würde. Und tatsächlich, blickte sie augenblicklich finster drein.

„Du hast dich wirklich kein Stück verändert, Lucy." Bist immer noch das schwarze Schaf der Familie, fügte ich in Gedanken hinzu. „Aber was erwarte ich auch, Dad wird dich mit seiner verdrehten Einstellung verdorben haben." Puhh. Ich ging erst gar nicht auf ihre Provokation ein. Das war es nicht wert. Außerdem mussten wir irgendwie schauen, dass wir in diesem Haus miteinander zurechtkamen. Als würde sie die gleiche Eingebung haben, setzte sie sich kurzerhand auf die Bettkante und schaute mich erwartungsvoll an.

Während sie so dasaß und auf mich herabschaute, bemerkte ich ebenfalls meinerseits, dass sie sich sowohl äußerlich als auch charakterlich nicht wirklich verändert hatte. Ihre blonden langen Haare, die bis zu ihrer Taille reichten, und das genaue Gegenteil zu meinen braunen Schulterlangen waren, ihre Augen, die reine Unschuld und Freundlichkeit preisgaben, was ich bei meinen versuchte zu verstecken, und ihre sportliche Figur, bei der jede Rundung am richtigen Fleck saß. Ich hingegen war zu dünn, zu kurz und körperlich einfach zu kindlich geraten. Sie war, wie schon immer, die perfekte Tochter.

Die Kluft zwischen uns beiden war jedoch erst so richtig bei der Scheidung unserer Eltern aufgerissen, wo wir in zwei Lager aufgeteilt wurden und nicht anders konnten, als uns voneinander zu entfernen, so wie es auch unsere Eltern getan hatten. Die Tatsache, dass Annabelle schon immer der Liebling meiner Mutter war, hat dazu beigetragen, dass ich mit meinem Vater aus dem Haus und sogar in eine andere Stadt zog. Es war eine hässliche Schlammschlacht gewesen, die durch die Scheidung geführt wurde. Der kleine Faden, den ich dennoch, nach allem zu meiner Schwester gespürt hatte, wurde an dem Tag gezogen, als sie den Kontakt zu mir abbrach. Es würde für unsere Mom schlimm genug sein, da könnte sie ihr unsere wöchentlichen Anrufe nicht auch noch antun. Von da an, wusste ich auf wen ich mich verlassen musste. Mein Dad. Und niemand anderes kam mich für mich in Frage. Er behandelte mich normal, zwang mich nicht, irgendwelche zu engen Kleider anzuziehen, nur weil sie zur guten Manier gehörten, schränkte mich nicht in meiner Freiheit ein, die für mich derweilen überlebensnotwendig erschien. Kurz gesagt, konnte ich bei ihm so ein, wie ich wollte.

Im Umkehrschluss kam meine Schwester nicht gut mit meinem Vater aus, der ihr, wie sie immer zu sagen pflegte, zu ungehalten und zu affektvoll auf die Gesellschaft zuging. Er musste seine unbedachten Handlungen und großen Emotionen unter Kontrolle halten, damit er in den Augen meiner Mutter und meiner Schwester an Wert annahm. Und genauso stand es mit mir. Trotzdem konnte ich, auch wenn ich es nicht gerne zugab, meiner Schwester keinen Vorwurf machen. Bei meiner Mutter hingegen, blieb ich nachtragend.

„Ich weiß, wir haben uns lange Zeit nicht mehr gesehen und es wird bestimmt einige Zeit dauern, bis wir wieder in einer gemeinsamen Bahn laufen, aber das bekommen wir hin, Lucy. Jetzt wo Dad sich nicht mehr um dich kümmern kann, wird Mom die verlorene Zeit wieder gut machen. Sie braucht nur etwas Zeit", erfüllten Annabelles Worte nach einiger Zeit den kleinen Raum. Ihre letzten Worte ignorierte ich geflissentlich.

„Du kannst ja auch nett sein", bemerkte ich sarkastisch. „Da werde ich euch vielleicht auch nur zur Hälfte ausrauben."

Sie verdrehte die Augen bei meinen Worten, lächelte jedoch als sie aufstand und auf die Tür zuging. „Deinen Humor hast du leider auch nicht verloren." Am Türrahmen angekommen, drehte sie sich noch einmal um.

„Achja, ich wollte heute Abend mit ein paar Freunden was trinken, vielleicht magst du ja mitkommen?" Bevor ich antworten konnte, fügte sie mit einem wissenden Blick hinzu. „Natürlich nur, wenn du dich geduscht und umgezogen hast."

Jetzt war ich diejenige, die dramatisch mit den Augen rollte. Zuerst wollte ich ihr eine Abfuhr erteilen, doch dann kam mir der schreckliche Gedanke, ich müsste mit meiner Mutter den Abend zusammen hier in diesem Haus verbringen. Alleine. Das stimmte mich dann doch um, und ich sagte meiner Schwester zu. Vielleicht boten ihre Freunde doch etwas mehr Spaß.

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