Kapitel 1

Markus

Perfektion. 

Dabei handelt es sich um ein Substantiv, femininum, das meist mit Vollendung und Vollkommenheit gleichgesetzt wird. Doch was bedeutet dieses Wort wirklich? Perfektion im Sinne von meisterhaftem Können, in der vollendeten Ausführung einer bewussten Handlung? Oder bezieht sich dieses Abstraktum auf eine Person? Auf Menschen, die keinerlei Fehler aufweisen, die rund um perfekt sind?

Wie auch das Mädchen vor mir, das mit krauser Stirn und zusammengepresstem Mund an seinem Schreibtisch saß, welcher nur so von Kosmetika in verschiedensten Ausführungen überquoll. Kauend auf dem Bleistift in ihrer Hand neigte sie den Kopf nach vorne gen Blatt, um so die Aufgabe besser verstehen zu können. Dabei rutschte ihr eine einzelne blonde lange Strähne vors Gesicht, die sie sich jedoch mit einer geschickten Bewegung wieder hinters Ohr klemmte. 

War sie der Inbegriff von Perfektion? 

Frustriert drehte sie sich auf ihrem Stuhl um und blickte mit dunkelblauen Augen, so dunkel wie der Ozean blau, erwartungsvoll in meine Richtung. Ihre blonde Mähne rahmte dieses engelsgleiche Gesicht ein, ihr schlanker durchtrainierter Körper verlieh ihr ein unschuldiges und dennoch göttergleiches Antlitz.

„Hast du schon eine Lösung für die erste Aufgabe?", ihre samtige Stimme ließ mich ein wenig auf dem großen Bett aufrichten, als ob ihre Anziehungskraft der Grund für mein Benehmen wäre.

Wurden die Götter nicht auch für eine Form der Perfektion gehalten?

„Markus? Hörst du mir überhaupt zu?", auffordernd schwenkte sie ihren Bleistift vor meiner Nase. „An was denkst du denn gerade?"

Gedankenverloren wie ich war, hatte ich gar nicht bemerkt, wie sie unauffällig einige Meter mit ihrem Stuhl auf mich zu gerückt war. Durch diese kleine Distanz konnte ich ihren frischen Duft nach Rosen wahrnehmen, der mir sofort in die Nase stieg.

„An nichts." Ich räusperte mich, als sie sich weit nach vorne beugte und ich einen tiefen Blick in ihren Ausschnitt werfen konnte.

„Sag schon, honey." Honig, so konnte man mich gut beschreiben. Viel zu süß und der klebrige Lebensretter meiner Freunde und Familie. Doch Honig war nicht einmal im Entferntesten die Perfektion, nach der ich suchte. Ich gehörte zu der Sorte Mensch, die immer ihren Freunden mit Rat und Tat zur Seite steht, nie ein böses Wort über andere verliert und aufs Biegen und Brechen versucht, im Leben glücklich zu werden. Konnte ich mein Glück selbst entscheiden? Einfach die Hand danach ausstrecken und zugreifen, so wie es Annabelle gerade tat? Und unterschied Glück eigentlich zwischen Gut und Böse?

Sie hatte sich währenddessen auf die Bettkante gesetzt, eine Hand auf meine Brust gelegt und mich sanft nach hinten in die weichen Kissen gedrückt. Mein Körper war unfähig zu protestieren.

„Hast du an das gedacht, was ich gerade denke?", säuselte sie mit verführerischer Stimme, bevor sie sich dazu entschloss, sich rittlings auf mich zu setzen. „Ich denke daran, wie du mich geküsst hast, damals im Zelt, weißt du noch?"

Wie könnte ich das je wieder vergessen?

Automatisch wanderten meine Hände an ihre Hüften, was sie mit einem leisen Seufzen quittierte.

„Wir denken nicht an das Gleiche", behauptete ich wenig überzeugend.

„Das sehe ich aber anders" Annabelle hauchte mir einen leichten Kuss gegen die Lippen. „Was ist, wenn wir einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben?" Ihre Lippen verschlossen im nächsten Moment meinen Mund und somit auch meine Antwort, die wahrscheinlich nicht sehr aussagekräftig gewesen wäre.

Stöhnend ließ ich mich auf ihre Verführung ein und erwiderte den Kuss. Meine Hand legte ich in ihren Nacken, um sie im nächsten Atemzug näher an mich ran zuziehen, was ich nicht ganz ohne Zögern schaffte. 

Falsch

Dieses Wort drang schlagartig in meine Gedanken. Das, was ich hier tat war falsch.

Mit einem Ruck drehte ich den Kopf zur Seite, unterbrach damit die falsche Knutscherei.

„Nein" wie zur Bestätigung schüttelte ich kräftig mit dem Kopf, „das ist nicht richtig, Annabelle. Und das weißt du." Ich versuchte sie von mir zu schieben, aber vergebens. Mit ihrem ganzen Gewicht, als könnte ich ihr entwischen, lehnte sie sich gegen meine ausgestreckten Hände.

„Wieso lässt du es nicht einfach zu, hm? Was kann schon passieren?", sagte sie leichthin, sodass es mir Gänsehaut verursachte. Nein, ich war nicht so ein Mensch, wollte nicht so ein Mensch werden. Ein Mensch, der diejenigen hinterging, die ihm wichtig waren.

Annabelle jedoch schien mein Zögern nicht zu stören und streichelte in einem zweiten Versuch über meine Brust hinab zu meinem Hosenbund.

„Es kann so viel passieren", versuchte ich schnell zu erwidern, um mein aufkommendes Stöhnen, das ihre Hände verursacht hatten, zu unterdrücken.

„Sei nicht so dramatisch, Markus. Es ist doch schon einmal passiert, also warum tun wir es nicht noch weiteres Mal?" Ihre Stimme wurde zum Ende hin leiser und ihre Hand schob sich unter meinen Hosenbund. Nein! Sonst war ich die Kontrolle in Person, umso mehr musste ich mich endlich zusammen reißen und das Richtige tun.

Reflexartig schloss sich meine Hand um ihr Handgelenk. „Was, damals im Zeltlager passiert ist, war ein einmaliger Ausrutscher. Und damit meine ich wirklich einmalig. Nicht mehr und nicht weniger." Meine Worte schenkten mir endlich die Kraft sie von mir zu schieben. „Und außerdem möchte ich Daniel nicht noch mehr verletzen, indem wir ihn hiermit", ich deutete vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger zwischen uns, "hintergehen".

Genervt schloss sie die Augen, atmete frustriert aus, setzte sich jedoch glücklicherweise wieder an die Bettkante.

„Du weißt, dass es zwischen mir und ihm gerade nicht gut läuft. Ich wollte ja auch am Montag mit ihm reden."

Leider glaubte ich ihr kein Wort, wie sooft versprach sie, ihren Freund zu verlassen, doch ihr Versprechen in die Tat umgesetzt, hatte sie bisher noch nicht. Und das, da war ich mir jetzt sehr sicher, würde sie auch nicht durchziehen. Also, was blieb mir da noch anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen?

„Ja, ich will dass du mit ihm darüber redest. Er hat die Wahrheit verdient, findest du nicht?" Beleidigt über meine Abweisung schaute sie nicht mal mehr in meine Richtung. „Und wenn, du es nicht tust, dann werde ich es ihm bald sagen. Einfach weil er auch mein Freund ist"

Das saß. Mit zu Schlitzen verengten Augen beobachtete sie mich, wie ich aufstand, meine Arbeitsutensilien in meinen Rucksack stopfte und mit großen Schritten auf die Zimmertür zu lief.

„Das muss doch nicht sein. Hat er nicht auch ein Leben ohne Drama verdient?", fragte sie mich stattdessen.

Ich drehte mich halb zu ihr um, das reichte aus, um mir noch einmal ihre blonde Mähne und das engelsgleiche Gesicht einzuprägen. So schnell, würde ich es nicht mehr von Nahem betrachten können.

„Er hat ein Leben ohne Lügen verdient", entgegnete ich, schloss die Tür auf und verschwand, bevor Annabelle mich noch umstimmen konnte.

Obwohl mich meine Freunde und meine Familie als den perfekten Freund beziehungsweise perfekten Sohn beschrieben, hatten sie keine Ahnung wie meilenweit ich mich von Perfektion aufhielt.

Ein perfekter Mensch würde nicht mit der Freundin des besten Freundes schlafen, würde nicht einmal einen Gedanken in diese Richtung wagen. Und genau das hatte ich getan und konnte, weiß Gott, an nichts anderes als an meine schändliche Tat denken.

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