Drittes Kapitel

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„Erinnerung, du Wächter des Gehirns."

– William Shakespeare

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Heute ging es mir noch immer nicht so gut. Die Kopfschmerzen waren zwar wie weggeblasen, doch durch den fehlenden Koffeinschub fühlte ich mich angeschlagen. Ich hatte schlecht geschlafen, wälzte mich die ganze Nacht hin und her. Einmal stand ich auf und rauchte eine Zigarette, aber sie konnte meinen täglichen Cappuccino nicht ersetzen. Drei Stunden später wachte ich erneut auf. Ich hielt es für sinnlos, mich nochmals hinzulegen und erfrischte mich mit einer lauwarmen Dusche. Es war erst zwei Uhr in der Früh gewesen, doch ich dachte mir, in so einer großen Stadt wie Braxton würde es sicher ein 24 h Café geben, oder zumindest eine Tankstelle, an der ich mir einen Kaffee bestellen könnte, und so ging ich außer Haus.

Ich wohnte in einer ziemlich verlassenen Gegend. Das einzige, was es hier in der Nähe gab, war ein mir suspekter Tätowier-Laden mit blauen Neonstoffröhren, die sogar noch um diese Zeit brannten, und ein ehemals kleines Kleidungsgeschäft, das wie ausgestorben schien. Das Schaufenster war eingeschlagen und drinnen häufte sich der Staub an, der diesen Schuppen irgendwann inmitten all dieser eintönigen Bauten im Grau verschwinden lassen würde. Das einzige, was jemanden in dieser Gasse aufschauen ließ, waren die verschiedensten Plakate, die halb heruntergerissen an den Mauern klebten. Ein paar Flyer lagen zerstreut herum und machten den Zigarettenstümmeln und Kaugummis am Boden Konkurrenz. In der Nacht hatte es wohl geschüttet, weshalb der Asphalt noch immer etwas glänzte und auch die Zettel ganz durchweicht waren. Sie bewegten sich in dem leicht wehenden Wind kein bisschen.

Die Hände tief in den Taschen meines Pullovers vergraben, machte ich mich auf den Weg. Es war noch sehr dunkel. Wäre der Tätowier-Laden nicht, hätte ich wahrscheinlich meine eigenen Füße nicht gesehen, denn im Gegensatz zu anderen Gassen leuchteten hier keine Straßenlaternen. Mein Blick sank nach unten. Jeden Schritt den ich machte, beobachtete ich, so als wäre ich mir unsicher, wo ich den nächsten hinsetzen sollte. Ich kam mir schon fast vor, wie beim Eislaufen.

Mum war mit uns oft Eislaufen gewesen. Auf dem großen See vier Meilen außerhalb von Mayfield. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich bei meinem ersten Versuch gleich hinfiel. Ich war noch nicht einmal wirklich auf dem Eis gewesen, hatte es lediglich mit einem Fuß berührt. Alles war plötzlich so rutschig, dass ich auf meinen Allerwertesten plumpste. Es hatte furchtbar wehgetan, meine Hose sog sich mit dem Wasserfilm an der Oberfläche voll und ich schwor mir, nie wieder das Eis zu betreten. Elena hingegen war ein richtiges Naturtalent und bewies ihr Können, während ich trotzig am Rand saß, die Hände über die Brust verschränkt. Mum bemerkte mein stures Verhalten und bald darauf fuhren wir wieder nach Hause.

Nun war Elena diejenige, die sich beschwerte. Irgendwie konnte mich Mum überreden, wieder Eislaufen zu gehen. Sie meinte, ich solle es für Elena tun, sie würde sich so sehr freuen. Tue Gutes und dir wird Gutes widerfahren, sagte Mum. Am nächsten Tag ging es also wieder zum See. Ich tat einen Schritt nach vorne und fiel wieder hin. Es machte einfach keinen Spaß und ich fing an, zu weinen. Ich wollte sofort dieses Gute, von dem Mum sprach, doch sie erwiderte, dass das nicht so einfache ginge. Es bräuchte seine Zeit. Ich will aber nicht warten, antwortete ich ihr. Dann solltest du schnell wieder aufs Eis, entgegnete sie mir liebevoll. Sie packte mich an den Händen und zog mich auf den zugefrorenen See. Mit ihr schaffte ich es tatsächlich hin und her zu schlittern, aber als sie mich losließ, pfefferte es mich glatt wieder auf. Du darfst nicht immer auf deine Füße schauen. Sie wissen, was zu tun ist. Du musst deinen Blick auf dein Ziel richten, sagte sie. Und sie hatte recht. Sie hatte immer recht gehabt. Mum wusste einfach alles. Für alles hatte sie einen passenden Rat gehabt.

Ab diesem Moment liebte ich das Eislaufen, doch seit Mums Tod hatte sich vieles geändert. Ich wurde krank, Elena musste ständig arbeiten, um alle Kosten abdecken zu können und wir gingen eben nicht mehr Eislaufen.

Tränen stiegen mir in die Augen, als ich an die Vergangenheit dachte. Ich riss mich zusammen, blickte auf und fokussierte ein sich plötzlich auftuendes Café. Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht und ich sah kurz zum finsteren, sternenklaren Himmel auf.

Danke Mum...

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Die brühendheiße Flüssigkeit berührte meine Lippen, nachdem ich zum wiederholten Mal in den Pappbecher gepustet hatte. Genüsslich ließ ich sie meinen Rachen hinunterfließen. Meine Sinneszellen waren benebelt von dem Aroma des gerösteten Kaffees und es fand eine regelrechte Geschmacksexplosion in meinem Mund statt. Es war einfach nur himmlisch. Schon nach dem ersten Schluck fühlte ich mich wieder fit. Das braune Wunder wärmte meinen Körper von innen und ich wollte, dieser Moment würde niemals aufhören. Ich stellte den Pappbecher ab und machte mich über mein Thunfisch-Sandwich her, dass ich mir dazu bestellt hatte. Es schmeckte ausgezeichnet.

Das Café, in dem ich saß, nannte sich das Timetravel. Ein kleiner Laden, im Vintagestil angehaucht, mit einem Tresen und ein paar Tischen. Ich hatte es mir an einem Fensterplatz gemütlich gemacht. Ich mochte es nicht, eingeschlossen zu sein und eine durchsichtige Scheibe erweckte wenigstens den Anschein an ein bisschen Freiheit. Außerdem konnte man draußen sehen, was vor sich ging, ohne wirklich draußen sein zu müssen. Ein praktischer Nutzen, auf den ich immer gerne zurückgriff. Ich schaute auf die leere Straße und bemerkte, dass es erneut angefangen hatte, zu regnen. Zum Glück war ich in diesem Café, in Sicherheit vor der kalten Nässe. Vergnügt biss ich von meinem Sandwich ab. Dazu trank ich meinen Cappuccino.

Als ich mit meinem Essen fertig war, schleckte ich mir meine noch vom Thunfisch fettigen Finger ab und wischte sie mit einer beigelegten rot-weiß karierten Serviette trocken. Anschließend ließ ich die zusammengeknüllte Serviette auf meinen Teller fallen und machte einen letzten Schluck von meinen Kaffee. Mit einem eher unbeabsichtigten, geräuschvollen Laut kam der Pappbecher am Tisch auf. Eine Kellnerin hörte dies und war sofort zur Stelle. „Willst du noch etwas bestellen, Schätzchen?", piepste sie förmlich. Ich hatte nicht vorgehabt, mich in diese Situation zu bringen. Also schüttelte ich nur den Kopf und sah dann wieder auf das leere Geschirr. Meine Wangen wurden rosig vor Scham und ich spürte plötzlich ein ungewohntes Gefühl der Beengung. Der Kragen meines Pullovers schien mir viel zu eng geworden zu sein. Ich versuchte, ihn ein wenig zu dehnen, während die Bedienung noch immer auf eine Antwort wartete. Eine aus dem Mund kommende Antwort. „N-Nein", murmelte ich. Sie nickte knapp, nahm Becher und Teller und verschwand schnell hinter dem Tresen. Mir war noch immer nicht wohl, und es staute sich die Wärme in mir. Ich zog aus meiner Brieftasche 10 Dollar heraus und beschwerte sie mit einer Ketchup-Flasche am Tisch. Dann quetschte ich mich mühsam aus der Bank und war mit einem Mal aus der Tür.

Eine nun willkommene Kälte begrüßte mich und ich genoss die feinen, kleinen Regentropfen, die auf mein Gesicht prasselten. Durch den Wind kondensierte das Wasser auf meiner Haut und meine winzigen Härchen auf den Unterarmen stellten sich auf. Aber im Moment war mir das egal. Es war mir auch gleichgültig, ob ich nächste Woche deswegen mit einer Erkältung im Bett liegen würde. Obwohl ich mir krankheitsbedingt unter keinen Umständen einen Virus oder eine bakterielle Infektion einfangen sollte, war es mir in genau dieser Sekunde völlig egal. Solche Momente gab es selten bei mir, doch sie existierten. Es waren diese kurzen Augenblicke, in denen ich meine Freiheit gänzlich zurückgewann; in denen ich meine Krankheit vergaß, in denen Mum immer noch da war, und alles gut werden könnte. Sie gaben mir Kraft und Hoffnung auf ein besseres Leben. Diese Momente verflogen leider auch immer wahnsinnig schnell, doch als Erinnerung konnte ich sie jederzeit abrufen. Und je mehr Erinnerungen es gab, desto länger konnte ich in diesen Tagträumen bleiben.

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Nachricht von Elena um 7:02 am: Ben, ich bins nochmal. Wenn du dich bis morgen nicht bei mir oder Dr. Hobbs und sonst wem meldest, dann werde ich eine Vermisstenanzeige erstatten, hast du verstanden? Ben, ich .... ich will das alles nicht machen. Bitte melde dich doch einfach.

Elenas sanfte Stimme gab mir einen Stich ins Herz. Wie konnte ich ihr das alles antun? Es war eine Schnapsidee, nach Braxton zu ziehen. Sie hatte doch niemanden mehr außer mir. Und jetzt war ich einfach gegangen. Ich war so egoistisch gewesen, hatte mich so auf mein Vorhaben fixiert, dass ich gar nicht an Elena dachte. Aber es musste doch sein. Wenn ich nicht aus diesem Teufelskreis herausgekommen wäre, dann hätten mich Mayfield und die Leute darin, die Atmosphäre, ja selbst der Hund von Misses Wright wahnsinnig gemacht. Anscheinend war ich nun in einen neuen Teufelskreis gefallen. Wenn ich ausbrechen wollte, müsste ich zumindest zurückrufen. Sonst würde mich die Polizei irgendwann einmal finden, und dann wäre ich erneut gefangen. Das konnte und wollte ich nicht riskieren.

So wählte ich die Nummer. Aber nicht die meiner Schwester, sondern die von Dr. Hobbs. Elena würde sofort zu mir fahren und mir bei einer Diskussion diesen Lebensstil aus dem Kopf schlagen. Bei Dr. Hobbs wusste ich um Diskretion. Er würde ihr nur sagen, dass ich mich bei ihm gemeldet hätte und es mehr gut ginge. Genau das, nicht mehr und nicht weniger, wollte ich von ihm. Das Freizeichen ertönte und ich wartete.

Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld. Ihr Gesprächspartner spricht gerade, kam es aus der Leitung. Es war mittlerweile halb neun und Dr. Hobbs hatte bestimmt gerade einen Patienten, mit dem er sich unterhielt. Ich legte auf.

Just in dem Moment klingelte es. Wie gebannt starrte ich auf mein Handy. Das Display zeigte nichts an. Kein eingehender Anruf, weder von Dr. Hobbs noch von Elena. Ich runzelte die Stirn, dann läutete es erneut. Diesmal konnte ich die Quelle des Geräuschmachers ausfindig machen. Es war meine Türklingel. Ich fragte mich schon, wer wohl auf der anderen Seite stehen könnte, doch dann fiel mir ein, dass Mr. Mitchell mir noch die Kopie des Mietvertrags überreichen wollte. In den letzten Stunden strömten so viele Eindrücke auf mich ein, dass ich das hier ganz vergessen hatte.

Ich eilte zur Tür und sperrte auf. Vor mir stand ein Mann in blauem Hemd, schwarzem Sakko und ohne Dreitagebart. Der Schweiß wurde ersetzt durch nach Alkohol stinkendem Rasierwasser und die Hände waren sauberer als meine. Hätte er mir seine gelben Zahnreihen mit einem breiten Grinsen nicht gezeigt, dann hätte ich Mr. Mitchell gar nicht erkannt. „Sehe ich nicht schick in diesem Baby hier aus?", erkundigte sich mein Vermieter ohne Begrüßung. Mich überrumpelte die Frage, da ich nicht darauf eingestellt war, mich mit ihm über sein Äußeres zu unterhalten. „J-ja, ... sehr schick." Ich musste anscheinend mit meinen Armen wild gestikuliert haben, denn Mr. Mitchell nutze diese Gelegenheit gleich aus, um mich brüderlich zu umarmen. Verdutzt starrte ich in das Treppenhaus, als der Mann mich festdrückte. Für seine Statur war er ganz schön kräftig. Ich räusperte mich, dann löste er sich. In seiner rechten Hand streckte er mir einen weißen Zettel entgegen, eingehüllt in einer Glassichtfolie. Einzelne Regentropfen befanden sich noch darauf.

Wie auch den Schlüssel nahm ich das Papier nur zögerlich an. Vielleicht, weil ich Angst davor hatte, dass nichts mehr rückgängig zu machen war. Aber dieser Moment war schon längst verstrichen, als ich unterschrieben hatte. Mein Kopf jedoch wollte es noch nicht wahrhaben. „Danke", antwortete ich auf seine Geste und hielt den Vertrag in der Hand. „Bitteschön. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute. Hoffentlich gefällt Ihnen die Stadt. So, ich muss jetzt wirklich los. Mein Date wartet. Drücken Sie mir die Daumen, dass es was wird." Er presste seine Lippen zusammen und verzog sein Gesicht. Ich sah ihn wieder mit meinem verkrampften Lächeln an und wünschte ihm noch viel Glück. Dann verabschiedete er sich bei mir und hüpfte freudig die Treppen hinunter. Komischer Kauz. Ich schüttelte meinen Kopf und schloss die Tür.

Nachdem Stille eingekehrt war, beschloss ich, es nochmal bei Dr. Hobbs zu probieren. Das wertvolle Dokument legte ich einstweilen auf die Abstellfläche in die Küche. Mit einer Handbewegung nahm ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer. Der Arzt hob diesmal sofort nach dem ersten Freizeichen ab. „Ben, sind Sie es? Ihre Schwester und ich haben uns schon ernsthafte Sorgen um Sie gemacht. Geht es Ihnen gesundheitlich soweit gut? Keine Beschwerden?", fragte Dr. Hobbs. „Ja, ich bin es, Ben. Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Ich brauche nur etwas Abstand von", ich hielt kurz inne, „alle dem." „Verstehe. Ben, dürfte ich fragen, wo Sie sich zurzeit aufhalten? Gibt es ein Krankenhaus in der Nähe oder einen Arzt, zu dem sie gehen können?"

Ich überlegte, wie viel ich ihm verraten sollte. Dann erinnerte ich mich wieder daran, dass ich Dr. Hobbs vertrauen konnte. Er würde es nicht weitererzählen. „Ich habe mir eine kleine Wohnung in Braxton angeschafft. 379 Dollar im Monat." „Habe ich das richtig gehört, Sie leben in Braxton? Das ist meilenweit entfernt, mein Lieber. Immerhin haben Sie sich etwas Größeres gesucht, ein Krankenhaus gibt es hier auf jeden Fall. Das St. Richmond Hospital, wenn ich mich recht entsinne. Sie müssen mir versprechen, Ben, dass Sie sich dort melden. Ich möchte, dass die Ärzte Sie kennen und Bescheid wissen. Ist das klar?" Ich konnte es nicht fassen. Dr. Hobbs musste sich nicht mehr in meinen gesundheitlichen Kram einmischen.

„Ich komme schon selbst gut zurecht. Ich brauche keine täglichen Untersuchung." „Und ob Sie das brauchen, mein Lieber. Gerade in diesem Stadion möchte ich Sie unter guter, ärztlicher Beratung wissen. Sie nehmen die Glucocorticoide erst seit ein paar Wochen und es sind schon leichte Nebenwirkungen aufgetaucht. Die Werte waren letztens zwar konstant, doch sie können jederzeit abfallen." Das baute mich nicht gerade auf. Es war frustrierend zu hören, dass die schweren Medikamente am Ende doch nichts brachten, außer Wasserspeicherungen im Gewebe und ständige Müdigkeit. „Aber ich weiß doch gar nicht, an wen ich mich wenden müsste", erwiderte ich. „Das lassen Sie schön meine Sorge sein. Ich werde schnellstmöglich etwas rumtelefonieren und Ihnen dann die Kontaktdaten per SMS senden, wenn das für Sie okay ist." Ich seufzte. Meine vorgespielte Hilflosigkeit entpuppte sich als Misserfolg und ich gab nach.

„Einverstanden. Aber nur, wenn Sie meiner Schwester nichts von all dem sagen. Sie werden ihr lediglich mitteilen, dass es mir gut geht, sie sich nicht den Kopf über mein Verschwinden zerbrechen und nicht weiter hinterfragen soll, wo ich bin." Ich wusste zwar, dass ich Dr. Hobbs jedes Geheimnis erzählen konnte, wenn ich wollte, doch ich musste auf Nummer sicher gehen. „Natürlich. Ich werde kein Wort darüber verlieren." Es vergingen einige Augenblicke. „Ein Anruf geht gerade ein. Ich muss jetzt auflegen. Auf Wiederhören, Ben."

Ich wollte schon die rote Taste drücken, als mir noch etwas Wichtiges einfiel. „Ach ja, Dr. Hobbs, ich -", doch die Verbindung wurde unterbrochen. Ich verfluchte mich dafür, dass ich es nicht mehr sagen konnte.

Ich hab dich lieb, Elena.

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