9. Kapitel
»Ich werde Dich nun töten,
weil Du jemanden umgebracht hast«,
sagte der Henker zum Mörder.
»Warum hätte ich niemanden umbringen sollen?«,
fragte der Mörder.
»Du tötest mich ja auch.«
Gerald Dunkl
»Die Plünderer haben eindeutig etwas vor«, berichtete ihm Ndege eines Abends. Sie saßen zu zweit im Inneren des Wracks. Tai hatte sich nach seinen Übungskämpfen wieder mit Maua getroffen, doch sie musste dieses Mal früher nach Hause, weil sie versprochen hatte, dort etwas zu reparieren.
»Wird es zu einem Kampf kommen?«, fragte Tai besorgt.
»Kann gut sein.« Ndege kratzte sich an der Nase. »Aber für dich ist es noch zu früh.«
»Ich darf nicht mitkämpfen?«
»Nein. Du bist noch nicht bereit. Du wirst hier bleiben und auf meine Familie aufpassen. Sie ist mittlerweile auch zu deiner Familie geworden.«
Tai versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, doch es gelang ihm nicht recht. Eigentlich brannte er darauf, alles, was er gelernt hatte, endlich auszuprobieren. Ein Klopfen gegen die Metallwand des Wracks am Eingang ließ ihn aufhorchen. Dort standen Muuaji und Jicho, beide in vollständiger Buren-Kleidung mit Tüchern um den Kopf, Kurzschwertern an den Gürteln und Hakenspulen an den Hüften.
»Boriti möchte, dass wir bei den südlichen Wracks Wache halten«, erklärte Muuaji und nickte Tai zu. »Maua richtet dir ihre Grüße aus.«
Tai erwiderte das Nicken und musste tatenlos mit ansehen, wie Ndege seine Sachen zusammensuchte und mit den zwei anderen Buren nach draußen verschwand. Stille legte sich über das Wrack. Mjuvi und die anderen Kinder waren bereits schlafen gegangen, während Bidii und Mikasi noch das Geschirr vom Abendessen abspülten. Was bringt es, wenn ich hierbleibe? Er war noch nicht müde genug, um zu schlafen, und er wusste, dass selbst die Frauen der Buren ausgezeichnete Kämpferinnen waren. Sie würden sich im Ernstfall auch selber verteidigen können.
Sollte ich Maua besuchen? Er sehnte sich danach, sie wiederzusehen. Er sehnte sich nach ihren Lippen auf seinen, nach ihren Küssen. Süß und gleichzeitig stürmisch. Sie war wie ein Wirbelwind. Unzähmbar und frei. Eine wahre Bure.
Tai warf einen flüchtigen Blick zu Bidii und Mikasi, aber beide Frauen waren weiterhin beschäftigt. Also schlich er sich hinaus. Draußen war es bereits dunkel geworden. Helle Sterne funkelten am Himmel und der volle Mond sah aus wie ein allwissendes, leeres Auge. Er fragte sich, ob Gott früher durch dieses Auge auf die Menschen geblickt hatte und der Mond deswegen jetzt so tot aussah.
Mit schnellen, aber leisen Schritten näherte er sich Mauas Zuhause, bis ihm ein anderer Gedanke kam. Einer, den er die letzte Zeit über verdrängt hatte, weil er so viel zu tun hatte. Doch er hatte nicht vor, diesen Gedanken aufzugeben. Entschlossen änderte er seine Richtung. Bald tauchte das erste der hinteren Wracks auf, dann das, von dem nur die Spitze in die Luft ragte. Tai schaute sich ein letztes Mal um und stieg in das Loch.
Zum Glück konnte er sich noch genau an den Weg erinnern, den Ndege und er damals gegangen waren. Den Gang hinunter, durch die erste Tür, dann durch die zweite. In dem darauf folgenden Flur musste er dann nur noch nach der Tür mit dem gelb-schwarzen Zeichen suchen. Sie quietschte und knirschte, als sie aufging. Dahinter herrschte wieder dieses unheimliche Licht.
»Ich grüße dich, Kifo«, rief Tai zu dem Alten hinunter. Dieser saß in seiner Ecke und wiegte sich hin und her. Erneut war Tai entsetzt davon, dass er überhaupt noch lebte.
»Who are you?«, murmelte Kifo kaum hörbar.
»Was?« Tai verstand diese fremde Sprache nicht.
Der Alte blickte zu ihm hoch. Die Augen saßen so tief in den Augenhöhlen, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren. Drumrum gab es nur herabhängende Falten und lederne, krank aussehende Haut. »Wer bist du?«
»Ich war hier schonmal. Mein Name ist Tai.«
Erstaunt beobachtete er wie Kifo den Arm hob und seine Hand seitlich gegen seine Stirn schlug. »George Miller, Zweiter Offizier der Devourer im Dienste der South States Navy.«
Tai verstand kein Wort von dem, was er sagte. »Ich wollte mit dir über die Atombomben reden.«
Kifo hielt sich den Kopf. »Ich bin schuldig. Schuldig.«
»Weißt du, wie sie funktionieren? Gibt es in dem Wrack welche? Sind es irgendwelche der Gegenstände hier?«
Plötzlich sprang der Alte auf und warf sich auf das längliche Objekt, neben dem er gehockt hatte. Er umklammerte es mit aller Kraft als fürchtete er, jemand könne es ihm wegnehmen. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf, wobei seine Haut unangenehm gegen das Metall klatschte.
Ist das eine Atombombe? So klein? Tai hatte etwas viel größeres erwartet. Etwas, das vielleicht in einem geheimen Raum des Wracks versteckt war. Wie kann so ein kleines Ding alle Kontinente unbewohnbar machen?
»Du darfst nicht!«, krächzte Kifo. »So lange habe ich sie beschützt! Lass deine kleinen, dreckigen Finger von ihr!« Es folgten Worte in einer fremden Sprache, die sich sehr stark nach Flüchen anhörten.
Tai hob abwehrend die Arme. »Ich möchte dir nichts wegnehmen. Ich möchte nur fragen, ob du dein Wissen mit mir teilst.«
»Wissen ist Macht.« Der Alte schüttelte wieder den Kopf. »Die Mächtigen bringen nur Unglück.«
»Der Mächtige meines Landes bringt auch Unglück.« Tai witterte seine Chance. »Er hat meinen Vater umgebracht, noch bevor ich geboren wurde, und hat ihm seine Macht weggenommen. Ich bin hier, um dich um Hilfe zu bitten. Ich brauche die Atombombe nur als Absicherung. Damit er mir auch wirklich zurückgibt, was rechtmäßig mir gehört.«
»Atombomben sind keine Absicherung. Sie sind Zerstörung.« Kifo löste sich von dem länglichen Objekt.
»Ich werde sie ja nicht benutzen. Ich...«
»Geh!«, schrie der Alte plötzlich los. »Geh! Geh! Geh!«
Seine Stimme hallte so laut von den Wänden wieder, dass es Tai in den Ohren weh tat. Er stolperte vor Schreck zurück und schob die Tür zu ohne sich nochmal umzudrehen. Was, wenn Kifo die Treppe hochgekommen und ihn berührt hätte? Er hatte nicht vor, an der Strahlenkrankheit zu sterben. Vielleicht war es doch ein Fehler hierher zu kommen, dachte er, während er die Räder der Tür möglichst fest zudrehte. Auf dem Rückweg blieb er kurz in dem Raum stehen, in dem er zuvor das realistische Gemälde gesehen hatte. Ndeges Warnung, nichts anzufassen, hallte immer noch in seinem Kopf wider, aber dieses Mal beugte er sich hinab und nahm das Papier auf.
Es zeigte einen Mann und eine Frau. Beide hatten helle Haut und blonde Haare. Ihre Kleidung war seltsam grell und hatte bunte Flecken und Streifen. Die Frau hatte irgendein Metallgestell auf der Nase und um die Augen. Was für eine seltsame Welt, dachte er und schaute auch noch auf die Rückseite. Kaum lesbar stand dort ›2158, New Orleans‹. Tai legte das Gemälde wieder auf den Boden und setzte seinen Weg nach draußen fort.
Nicht viel später stieg er aus dem versunkenen Wrack und wollte gerade über die freie Fläche zum nächsten Durchgang gehen, als plötzlich laute Stimmen ertönten. Sie klangen seltsam aggressiv. Schnell rannte er zu einer aus dem Boden ragenden Metallplatte und duckte sich hinter sie.
»Durchsucht auch die hinteren Wracks!«, rief jemand, der es scheinbar gewohnt war, Befehle zu erteilen. »Ihr drei geht da hinten hin, ihr zwei schaut euch im Wrack da hinten um! Ich hab das Gefühl, dass da noch jemand drin ist!«
Was geht hier vor? Tai zog sich tiefer in die Schatten zurück, als er Schritte hörte und drei Personen in einiger Entfernung an ihm vorbeiliefen. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Das sind keine Buren! Alle drei hatten etwa schulterlange Haare, einer sogar einen zurecht gestutzten Bart. Ihre Kleidung ähnelte mehr einer Rüstung. Schwerter, Säbel und Messer hingen an ihren Gürteln.
»Ich habe noch einen!«, schrie auf einmal jemand.
»Du weißt, was du zu tun hast!«
Tai lugte um die Metallplatte und entdeckte einen Mann, der einen jungen Buren vor sich auf die Knie gezwungen hatte. Im nächsten Moment blitzte eine scharfe Klinge auf. Blut spritzte auf den Boden und der Bure kippte wortlos um. Tai presste sich eine Hand auf den Mund, um nicht loszuschreien. Was passiert hier? Ich war doch gar nicht so lange weg! Zitternd umfasste er sein Messer. Er wollte es ziehen und sich damit auf die Fremden stürzen, aber er wusste, dass er keine Chance hatte.
Maua!, fuhr es ihm durch den Kopf. Ndege! Bidii und Mjuvi! Was ist mit ihnen passiert? Wo sind sie?
Er überlegte nicht lange und huschte im Schatten des Wracks neben sich weiter nach Osten. Je näher er den bewohnteren Gebieten kam, desto schneller schlug sein Herz. Immer mehr Leichen lagen vor den Metallriesen. Die Kehlen durchgeschnitten, einige von hinten erstochen. Männer, Frauen und Kinder. Alles Buren. Ab und zu musste er sich im Eingang eines Wracks verstecken, weil diese fremden Menschen überall umher gingen.
»Das hat man davon«, sagte einer der Männer. »Schon frech, wenn man nichts teilen möchte.«
»Hast du gesehen, wie viel Wasser sie gehortet haben?«, fragte die Frau, die neben ihm ging. Sie blieb vor einem toten Jungen stehen und rollte ihn mit dem Stiefel auf den Rücken, sodass seine trüben Augen gen Himmel blickten. »Sie hatten so viel und haben trotzdem zugesehen, wie andere Kinder verdurstet sind.«
»Sie haben bekommen, was sie verdienen«, zischte der Mann und grinste hämisch. »Insbesondere Boriti.«
Die Frau lachte und die beiden gingen weiter.
Es sind die Plünderer, begriff Tai allmählich. Sie haben wirklich angegriffen. Und haben gewonnen. Was ist mit Ndege passiert?
Er atmete tief durch und wechselte seine Richtung. Ndege hatte erwähnt, dass die Plünderer im Süden waren. Also würde der Kampf wohl auch dort stattgefunden haben. Bitte, bitte sei geflohen! Er bog um die nächste Ecke und keuchte entsetzt auf. Die ganze Ebene vor ihm war von toten Buren bedeckt. Sie lagen teilweise übereinander, schrecklich verrenkt. Kein Blut sickerte mehr aus ihren Wunden, denn ihr Tod war schon zu lange her. Der Angriff musste stattgefunden haben, als er gerade in das Wrack des Alten hinabgestiegen war. Tränen ließen seine Sicht verschwimmen. Trotzdem hastete er geduckt zwischen den vielen Körpern umher. Suchte verzweifelt nach Gesichtern, die er kannte. Und fand sie auch.
Ndege, Muuaji und Jicho lagen dicht beieinander. Die Gesichtszüge zu einem ewigen Ausdruck der Schmerzen erstarrt. Muuaji fehlte sein rechter Arm, mit dem er einen gebogenen Säbel gehalten hatte.
»Was machst du da?«, rief plötzlich jemand.
Tai sah auf und entdeckte einen Plünderer, der mit gezogenem Schwert auf ihn zuging. Unbändige Wut stieg in ihm auf. »Das könnte ich dich auch fragen!«, schrie er zurück, nahm Muuajis Säbel in die eine Hand und sein Messer in die andere. »Wie viele der Buren hast du getötet?«
Der Plünderer lachte, kam weiter auf ihn zu und setzte zu einer Antwort an, als Tai sein Messer schleuderte. Es bohrte sich mit einem unangenehmen Schmatzen in seinen Schädel, woraufhin der Mann die Augen verdrehte und in sich zusammensank. Tai atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er hat es verdient, redete er sich ein. Er hat Buren getötet.
Ruckartig wandte er sich ab und lief zurück, bevor noch jemand ihn sehen konnte. Sein Ziel war Mauas Zuhause. Wenn sie sich versteckt hatte, konnte er sie dort rausholen. Verzweifelt kam er bei dem Wrack ihrer Familie an und zuckte zurück, als hätte jemand ihn geschlagen. Direkt vor dem Eingang lagen ihre Eltern und andere Verwandte. Tot. Eine Blutlache hatte sich um sie herum gebildet. Aber von Maua selbst keine Spur. Gerade wollte er sich ins Wrack schleichen, als einer der Plünderer es verließ.
»Keiner mehr da!«, rief er jemandem zu, der offenbar ganz in der Nähe stand. »Gehen wir zum nächsten!«
Tais Herz krampfte sich zusammen. Ist sie wirklich nicht mehr da? Aber wo ist sie dann? Ist sie vorher geflohen? Wohin?
Seine Füße trugen ihn fort von hier zu seinem eigenen Zuhause. Er wagte sich nicht näher zum Eingang, denn er erkannte sie auch so. Mjuvi lag in den Armen ihrer Mutter, die sie offenbar versucht hatte zu beschützen. Über Bidiis Körper zogen sich mehrere Schnittwunden. Nicht weit entfernt lag ein Säbel, mit dem sie versucht hatte, ihr Heim und ihre Familie zu beschützen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Tai. Jetzt liefen die Tränen unaufhaltsam seine Wangen hinab. Er wischte sie weg, doch sie wollten nicht weg gehen. Kraftlos sank er an der Wand zu Boden und schluchzte. Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen. Dann wären sie noch am Leben.
»Wer ist da?«, ertönte eine neue Stimme.
Tai sah sich nicht um, sondern rannte einfach los. In der rechten Hand hatte er immer noch Muuajis Säbel, den er nicht vorhatte loszulassen. Immer weiter lief er, bis er die letzten Wracks von Chuma Chakavu hinter sich gelassen hatte. Die Luft war kühl und der volle Mond erstrahlte in seiner ganzen Pracht. Als er weit genug war, sah er sich noch einmal um. Niemand würde sich die Mühe geben, ihn jetzt noch zu verfolgen. Seine Brust verkrampfte sich vor Schmerzen. Wieder sank er zu Boden und weinte dieses Mal hemmungslos. Eine einzige falsche Entscheidung und er hatte alles verloren, was er gehabt hatte.
Ich habe mich nicht mal bei ihnen bedankt, dachte er. Alle sind tot. Alle. Ich war nicht für sie da, obwohl sie mich bei sich aufgenommen und mir so viel beigebracht haben. Was hätte ich nur ohne die Buren getan? Und was soll ich jetzt tun?
Kurz vor Sonnenaufgang sah Tai die ersten Rauchwolken über Chuma Chakavu aufsteigen. Die Plünderer verbrannten die Leichen der Buren.
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