7. Kapitel

Du bist eine Sonne in meiner Nacht. Meine Nacht ist eine Sonne in der deinen.

Jean Genet

Den ganzen nächsten Tag mangelte es Tai an Konzentration. Bei seinen Übungskämpfen mit Ndege unterlag er jedes Mal und machte sich nicht die Mühe, seine Verbesserungsvorschläge umzusetzen. All seine Gedanken drehten sich um Kifo und wie er ihm helfen könnte, den Thron des Ostlandes zu erobern. Er musste den Alten eigentlich nur davon überzeugen, ihm zu zeigen, welche der Sachen in seinem Wrack eine Atombombe war und wie man sie benutzte. Das Problem war nur, dass Boriti offensichtlich verboten hatte, überhaupt zu den hinteren Wracks zu gehen. Alle Buren hatten Angst vor den Waffen der Alten. Ja, vielleicht verbreiteten sie die Strahlenkrankheit, aber verstanden sie nicht, wie mächtig sie werden könnten, wenn sie damit an die Öffentlichkeit gingen?

»Das reicht für heute«, sagte Ndege auf einmal. Viel zu früh. Er steckte sein Messer weg und musterte ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Unverständnis. »Du bist nicht ganz dabei. Worüber denkst du nach?«

»Über nichts«, antwortete Tai und winkte ab. »Es ist einfach nicht mein Tag.«

»Ich hoffe, das stimmt.« Ndege deutete in Richtung von Chuma Chakavu. »Du wirst heute alleine nach Hause gehen müssen. Ich muss mit Muuaji und Jicho zu den südlichen Wracks. Boriti vermutet, dass die Plünderer irgendwas planen und wollte nach dem Rechten sehen.«

»In Ordnung.«

Tai versuchte, sich seine Freude nicht anmerken lassen, als Ndege sich auf den Weg nach Süden machte und ihn alleine zurückließ. Er selbst betrat Chuma Chakavu und ging zwischen den Wracks hindurch immer weiter. Es waren erstaunlich wenige Buren unterwegs. Wahrscheinlich waren die meisten ebenfalls zu Boriti bestellt worden, um sich mit dem Problem der Plünderer auseinanderzusetzen. Zum Glück fragte niemand ihn, wohin er unterwegs war. Erst in der Nähe der hinteren Wracks sah er sich um, bevor er in deren Schatten eintauchte.

Hoffentlich weiß ich den Weg noch, dachte er und war erleichtert, als er tatsächlich die Spitze des besagten Schiffes vor sich sah. Doch kaum hatte er es entdeckt, hörte er plötzlich einen dumpfen Schrei von rechts. Tai erstarrte. Seine Hand fuhr reflexartig zum Messer hinter seinem Gürtel, das er auch zog. Ich habe mich nicht gewaschen, fiel ihm siedend heiß ein. Die Untiere werden mich riechen.

Jetzt war zwar nichts mehr zu hören, aber er blieb aufmerksam und schlich sich von Schatten zu Schatten in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Und da entdeckte er sie. Eine junge Frau, eindeutig eine Bure, hing an einer Stange, die aus der Seite eines Wracks herausragte. Sie hielt sich nur noch mit einer Hand fest, während unter ihr ein Untier immer wieder hoch sprang und versuchte, seine spitzen Zähne in ihre Fersen zu schlagen.

Ich habe genug geübt, sprach Tai sich Mut zu, atmete tief durch und trat aus dem Schatten hinaus. »He!«, rief er in der Hoffnung, das Untier würde auf ihn aufmerksam werden. Es ließ tatsächlich von der jungen Frau ab, deren Hand sichtbar dabei war, von der Stange zu rutschen. Sie hatte den Kiefer fest zusammengepresst, um kein weiteres Geräusch von sich zu geben, während das Untier nun hechelnd auf Tai zu rannte.

Als es sprang, hechtete Tai zur Seite weg und stieß das Messer hinter sich. Ein Widerstand und ein schmerzerfülltes Winseln sagten ihm, dass er getroffen hatte. Sofort wirbelte er herum und zeichnete mit seiner Waffe einen silbernen Halbkreis in die Luft. Das Untier duckte sich, grunzte. Es war erstaunlich hässlich. Die Nase war gespalten, die Augen ein trübes Weiß mit einem einzigen schwarzen Punkt in der Mitte, der wohl die Pupille darstellen sollte. Es hatte weder Fell noch Schuppen. Stattdessen wuchsen knöcherne Auswüchse aus seinen Rückenwirbeln. Vier Hauer aus jedem Kiefer bildeten einen schützenden Käfig um seinen Kopf. Allerdings war es kleiner als erwartet. Es ging Tai nur bis zu den Oberschenkeln.

Er hielt die Spitze seines Messers auf das Untier gerichtet und wartete darauf, dass es wieder angreifen würde. Doch es stieß nur ein tiefes Grunzen aus, schüttelte unwillig den Kopf und lief inmitten einer Staubwolke davon. Im Sand vor ihm blieben nur dunkle Blutflecken zurück.

Das war erstaunlich leicht, dachte Tai, steckte sein Messer weg und sah dann hinüber zu der Frau, die immer noch an der Stange hing. Schnell rannte er zu ihr. »Es ist sicher!«, rief er zu ihr hoch. »Du kannst runter! Ich fang dich auf!«

»Ich bin kein hilfloses Mädchen mehr! Geh zur Seite!«, kam die gereizte Antwort.

Tai trat gerade rechtzeitig zur Seite, bevor die Hand der Frau endgültig abglitt und sie mit einem dumpfen Laut dort aufkam, wo er zuvor noch gestanden hatte. Sie seufzte genervt, richtete sich auf und klopfte sich den Sand von der Kleidung. Dann erst sah sie ihn an. »Danke für deine Hilfe.«

»Kein Problem.« Er lächelte.

»Eigentlich schon«, sagte sie.

»Was?«

»Eigentlich ist es schon ein Problem«, wiederholte sie sich. »Weder du noch ich dürften überhaupt hier sein. Wir sind bei den hinteren Wracks, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.« Die junge Frau musterte ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist derjenige, den Boriti bei uns aufgenommen hat, oder? Tai?«

»Du kennst mich?« Das wunderte ihn, denn er hatte sie noch nie gesehen. Sie war weder eine Zuschauerin seiner ersten Übungskämpfe gewesen noch eine Besucherin im Wrack von Ndeges Familie.

»Nicht wirklich«, antwortete sie. »Aber mein Bruder hat von dir erzählt.« Sie deutete in die Richtung, in die das Untier verschwunden war. »Du bist vielleicht mutig, hast aber wie ein fünfjähriger Bure gekämpft. Wenn es nicht nur ein Fächervieh gewesen wäre, hätte es dich zerrissen.«

»Dein Bruder?«

»Muuaji.«

»Du bist Maua?« Tai musste sich ein Lachen verkneifen. »Weiß dein Bruder, dass du auch ohne seine Begleitung auf die hinteren Wracks kletterst?«

Die Bure schürzte ertappt die Lippen. »Nein. Und ich ziehe es vor, wenn das auch so bleibt.«

»Keine Sorge, ich werde nichts verraten.«

»Was hast du denn hier zu suchen?«

Tai war gerade dabei, sich eine passende Antwort zu überlegen, als Maua mit einem Grinsen ihre weißen Zähne zeigte und kurz auflachte. Das Lachen klang hell und fröhlich und ließ ihm warm ums Herz werden. Wie von selbst hoben seine Mundwinkel sich und er fiel in ihr Lachen ein.

»Ich lass dir dein Geheimnis«, sagte sie schließlich und wandte sich zum Gehen. »Falls du öfters hier bist, sieht man sich ja vielleicht noch wieder.«

Auf jeden Fall, dachte Tai. Aus irgendeinem Grund war sein erster Instinkt, hinter Maua herzulaufen und weiter mit ihr zu reden. Er wollte wieder ihr Lachen hören. Gleichzeitig wollte er aber auch nochmal zu Kifo hinabsteigen und ihn über die Atombombe ausfragen. Das kann ich auch noch ein anderes Mal machen, beschloss er. Dieses Fächervieh ist wahrscheinlich sowieso noch in der Nähe.

Am nächsten Tag ging er wieder mit Ndege in die ersten Ausläufer der Einöde, um das Kämpfen zu üben. Dieses Mal war er jedoch um einiges konzentrierter. Er schaffte es, fast jeden Angriff seines Freundes abzulenken oder zu parieren. Zum Ende hin waren sie beide schweißgebadet, aber Ndege wirkte zufrieden mit ihm.

»Du wirst allmählich immer besser«, lobte er ihn. »Bald wirst du wie ein echter Bure kämpfen.« Sein Blick wanderte auf einmal an Tai vorbei und blieb an etwas hinter ihm hängen. »Ist das Maua?«

Tai drehte sich um und stellte mit Erstaunen fest, dass wirklich die junge Frau von gestern in einem Durchgang zwischen den Wracks stand. Sie hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden, dessen eines Ende ihr über die Brust fiel. An ihrem Gürtel hing ein Wasserschlauch und ein Kurzschwert.

»Was machst du hier?«, schrie Ndege zu ihr hinüber. »Willst du alleine in die Einöde oder was? Weiß Muuaji Bescheid?«

»Das geht dich nichts an!«, rief Maua zurück. »Ich wollte nur sehen, wie der Neue sich schlägt!«

Ndege hob verwundert die Augenbrauen und warf Tai einen fragenden Seitenblick zu.

»Ich bin ihr gestern über den Weg gelaufen«, sagte er schnell.

»So, so.« Der Bure schlug ihm schelmisch die Faust gegen den Oberarm. »Dann mal viel Spaß mit ihr.« Er zwinkerte ihm zu.

Tai ignorierte den vielsagenden Blick seines Freundes und lief hinüber zu Maua, vor der er in zwei Schritten Entfernung stehen blieb. Erst jetzt fiel ihm auf, wie hübsch sie eigentlich war. Ihre Augen waren groß und so dunkelbraun, dass man die Pupillen fast nicht mehr erkennen konnte. Die Haut glänzte im Licht der Sonne und auf ihren Lippen lag die Andeutung eines Lächelns. Sie beachtete Ndege überhaupt nicht, der sich mit schnellen Schritten auf den Weg nach Hause machte.

»Du bist zu groß«, sagte Maua auf einmal.

»Was?«

»Du bist zu groß.« Sie zog ihr Kurzschwert, ging in die Knie und hob die Waffe mit beiden Händen auf Kopfhöhe. »Du musst dich kleiner machen, um dichter am Boden zu sein. Ndege macht den Fehler auch andauernd.«

Tai spiegelte ihre Haltung, woraufhin sie zufrieden nickte. Er merkte, dass seine Oberschenkel allmählich anfingen zu schmerzen, aber er wollte vor Maua keine Schwäche zeigen. Schließlich blieb sie weiterhin in dieser Position. Schweigend starrten sie einander an, direkt in die Augen. Tais Muskeln brannten. Es fühlte sich an, als würde jemand eine brennende Öllaterne an seine Beine halten. Aber ich darf nicht aufgeben. Ich muss durchhalten. Er zwang sein Gesicht zu einem Ausdruck völliger Gleichgültigkeit, doch als Maua sich wieder aufrichtete und er es ihr gleichtat, entwich ihm trotzdem ein erleichtertes Seufzen.

»Schwache Beinmuskeln?«, neckte sie ihn. »Wenn du das jeden Tag machst, wird es irgendwann nicht mehr weh tun.«

»Danke.« Tai lächelte ihr zu. »Meintest du nicht, wir würden uns nur vielleicht nochmal bei den hinteren Wracks wiedersehen?«

»Kann sein.« Sie warf das Tuchende, das vor ihrer Brust hing, über die Schulter nach hinten und steckte ihr Kurzschwert weg. »Kann auch nicht sein.«

»Kommst du morgen wieder?«

Maua schaute ihn von oben bis unten an. »Vielleicht.«

Am Tag darauf erschien sie erneut und beobachtete ihn aus einiger Entfernung bei seinen Übungskämpfen. Ndege fragte nichts und ließ Tai danach wieder mit ihr alleine. Maua ging wortlos in die Knie und er tat es ihr nach. So ging es mehrere Tage lang, bis die Bure einmal nicht mehr die niedrige Haltung einnahm. Stattdessen winkte sie ihn zu sich. »Komm.«

»Wohin gehen wir?« Tai folgte ihr. Sein Herz klopfte vor Aufregung schneller und er musste sich zusammenreißen, um sich das nicht anmerken zu lassen.

»Wrackklettern«, antwortete sie. In ihrer Stimme schwang Freude und Stolz mit. Sie führte ihn in Richtung Süden und blieb schließlich vor einer hohen Metallwand stehen, in der in regelmäßigen Abständen große und kleine Löcher klafften. Weiter oben ging sie in eine flachere Plattform über. Maua deutete zu ihr hoch. »Wir müssen nach ganz oben.«

Kaum hatte sie das gesagt, fing sie auch schon an zu klettern. Sie bewegte sich so flink und entschlossen, als hätte sie das Tausende von Malen gemacht – was vermutlich auch stimmte. Tai riss sich zusammen und trat ebenfalls an die Metallwand heran. Die ersten Löcher waren groß genug für seine Hände und Füße und er musste nicht sonderlich viel Kraft aufwenden, um sich hochzuziehen. Doch bald wurden die Abstände größer und in einige der Löcher passten nur zwei oder drei seiner Finger. Bald schmerzten seine Arme und der Schweiß lief ihm in die Augen. Er fragte sich, ob es nicht leichter wäre, die Wand mithilfe der Hakenspulen zu erklimmen.

Nicht aufgeben!, sagte er sich immer wieder. Und dann, endlich, hatte er den flacheren Bereich erreicht. Das Metall des Wracks war aufgeheizt von der Sonne, die sich bereits dem Horizont näherte. Der Himmel leuchtete in prächtigen Rot- und Orangetönen. So weit oben war er noch nie gewesen. Auf einmal fasste jemand ihn an der Hand. Er drehte sich um und sah sich Maua gegenüber. Sie stand direkt vor ihm, blickte ihm tief in die Augen.

»Der Sonnenuntergang ist immer besonders schön«, flüsterte sie. Tai hatte sie noch nie flüstern gehört. Ein wohliger Schauer fuhr ihm über den Rücken.

»Nicht schöner als du«, antwortete er und nahm ihre Hände in seine, während seine Augen ihren Blick einfingen.

»Schönheit hat in dieser Welt nicht viel zu bedeuten«, sagte Maua. Sie war ihm nun so nah, dass er ihren Atem auf seiner Haut spüren konnte. Langsam beugte sie sich vor und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. Dann wich sie wieder zurück.

Tai lächelte. »Das war's?«

Maua lachte auf und küsste ihn erneut. Dieses Mal wilder, stürmischer. Tai hatte sich noch nie in seinem Leben glücklicher gefühlt. Inmitten des Lichts der untergehenden Sonne mit dieser jungen Frau in den Armen.

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Wie findet ihr all die Figuren bisher? Wen mögt ihr, wen eher nicht so? :)

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