5. Kapitel

Gut gehauene Steine schließen sich ohne Mörtel aneinander.

Marcus Tullius Cicero

Die erste Nacht verlief ohne Ereignisse und auch der Morgen war relativ ruhig. Tai hatte sich ursprünglich darauf gefreut, endlich wieder Fleisch probieren zu dürfen, doch dieses Privileg hatten offenbar nur die Buren, zu denen er leider noch nicht gehörte. Immer wieder warf er Ndege erwartungsvolle Blicke zu, doch der junge Mann grinste ihn nur frech an und wackelte mit den Augenbrauen. Erst um die Mittagszeit herum, als die Sonne am höchsten stand, forderte er Tai auf, ihm zu folgen.

»Wohin gehen wir?«

»Zu deiner Prüfung natürlich.«

»Und du möchtest mir immer noch nicht sagen, wie sie aussehen wird?«

Plötzlich blieb Ndege stehen. Sie befanden sich am Rand von Chuma Chakavu, das letzte Wrack nur wenige Schritte hinter ihnen. Tai sah den jungen Mann neben sich fragend an, der daraufhin die Arme ausbreitete.

»Wir Buren sind oft mehrere Tage lang in der Einöde unterwegs. Dabei haben wir nicht immer genug Wasser dabei«, erklärte er. »Deshalb müssen wir wissen, wie man dort draußen Wasser findet. Weißt du, wie?«

Tai überlegte. Er wusste, dass einige Leute in Kimbilio nicht nur Wasser aus dem Brunnen benutzten, sondern es auch von den Blättern ihrer Pflanzen und von aufgestellten Glasplatten sammelten. Auf ihnen ließ sich die Luftfeuchtigkeit in Gestalt von kleinen Tautröpfchen nieder. Allerdings gab es in der Einöde natürlich weder Pflanzen noch Glasplatten. Scheinbar hatte er schon zu lange nachgedacht, denn Ndege grinste vielsagend.

»Woher soll ich so etwas wissen?«, beschwerte Tai sich. »Ich war noch nie vorher hier draußen.«

Ndege lachte auf und winkte ab. »Ich weiß, ich weiß. Kann ja trotzdem sein, dass du eine Idee hast. Ich gebe dir einen Tipp: Sind wir Menschen die einzigen, die im Pazifik leben?«

»Nein«, antwortete er zögernd. Er kann doch nicht die Untiere meinen? Aber was dann?

»Du kannst es ruhig aussprechen«, sagte Ndege und fügte mit tieferer Stimme hinzu: »Untiere!«

»Ihr... Ihr sucht nach Untieren, um an Wasser zu kommen?«

»Ja.« Der Bure zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Ihr trinkt ihr Blut?« Tai konnte das Entsetzen in seiner Stimme nicht verbergen, war aber erleichtert, als Ndege anfing zu lachen.

»Du hast Ideen!« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Nein, wir wollen doch nicht ihr verpestetes Blut trinken! Sehen wir aus wie Blutsauger? Wir wollen Wasser und die Untiere brauchen es auch, um zu überleben. Wir folgen ihnen einfach. Wenn es windstill ist, kann man die Spuren der Untiere sogar über längere Strecken verfolgen und sie führen fast immer zu einem Wasserloch. Und dann muss man sie bekämpfen.« Aus dem Nichts hielt Ndege plötzlich ein längliches Messer in der Hand, das er Tai reichte. »Dein Dolch war zwar eine gute Arbeit, eignet sich aber nicht für den Kampf gegen Untiere. Dieses Messer ist besser. Ich werde jeden Tag mit dir üben und dann kannst du irgendwann mit uns in die Einöde gehen.«

Tai schaute ungläubig auf die neue Waffe in seiner Hand. »Das war's? War das die Prüfung?«

»Nein.« Ndege grinste wieder. Plötzlich stürzte er sich auf Tai. In seiner rechten Hand blitzte ein weiteres Messer auf, das schnell auf ihn hinabfuhr. Tai schaffte es gerade noch so, nach hinten zu springen, wobei er jedoch stolperte und rückwärts in den Sand fiel. Innerlich fluchend sah er zu dem Buren hoch, der zwei Schritte von ihm entfernt stand und darauf wartete, dass er wieder aufstand.

»Was sollte das?«, rief Tai verärgert. »Ich war nicht vorbereitet! Du hättest mich verletzen können!«

»Dich hätte auch ein Untier angreifen können«, entgegnete Ndege gefasst. »Schließlich befinden wir uns mitten in der Einöde.« Er winkte ihm auffordernd zu. »Komm! Steh auf! Du musst heute wenigstens etwas lernen! Sonst kannst du nachts nicht mal alleine auf Klo gehen. Und das wäre doch echt peinlich.«

Sie haben hier gar keine Zäune, fiel Tai auf. Schleichen nachts etwa überall Untiere zwischen den Wracks herum?

Er biss die Zähne zusammen, stand auf und hob das Messer. Sofort wurde er von Ndege korrigiert. Der Bure zeigte ihm nicht nur, wie man die Waffe richtig hielt, sondern auch, wie er einen sicheren Stand hatte. Er griff ihn immer wieder an und bewegte sich dabei fast selbst wie ein Untier. Die Füße strichen dicht über den Boden, sodass eine dünne Spur im Sand zurückblieb. Den Oberkörper hatte er leicht nach vorne geneigt. Tai bemühte sich, sich alles zu merken. Erst, als er schweißgebadet war und Ndege beschloss, dass es für heute reichte, bemerkte er die stillen Zuschauer in den Löchern der Wracks. Einige Buren standen sogar am Rand der toten Schiffe und sahen zu ihnen hinüber. Dazu gehörten auch Ndeges Mutter Bidii und seine Schwester Mjuvi. Erstere hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wirkte jedoch ansonsten relativ zufrieden.

»Gewöhn dich dran«, flüsterte Ndege ihm zu. »Es ist das erste Mal, dass jemand wie du eine Chance bekommt, sich uns anzuschließen. Die meisten versuchen in der ersten Nacht zu fliehen.«

Tai sah ihn misstrauisch an. »Nehmt ihr öfters Gefangene?«

»Nein. Nur, wenn sie eine Bedrohung für uns sind.« Er deutete weiter nach Süden. »In dieser Gegend gibt es eine große Gruppe Plünderer, die manchmal Spione oder Diebe zu uns schickt. Wir können sie nicht einfach so gehen lassen. Wir geben ihnen eine Chance, sich uns anzuschließen. Und wenn sie es nicht tun...« Er zuckte mit den Schultern.

Sie töten also wirklich Menschen, dachte Tai und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Er war erstaunt, als Ndege ihm einen Raum im Wrack seiner Familie zeigte, in dem mehrere große Eimer mit sauberem Wasser standen. »Zum Waschen«, erklärte er. »Du wirst dich jeden Abend vor dem Schlafengehen waschen. Viele Untiere orientieren sich am Geruch und wir wollen doch nicht, dass sie die ganze Nacht an den Wracks kratzen und versuchen, reinzukommen.«

Sie haben so viel Wasser, überlegte Tai, während er sich in dem Raum den Schweiß von der Haut wusch. Bei sich Zuhause hatte er sich, wenn er Glück hatte, nur alle sieben oder acht Tage waschen können. Zu kostbar war der flüssige Schatz. Er hatte nur provisorisch mit einem nassen Lappen den größten Dreck entfernen dürfen. Aber die Buren hatten sogar genug Wasser, um gesunde Nutzpflanzen zu züchten!

Nachdem er sich abgetrocknet und die neuen Sachen angezogen hatte, die Ndege ihm zuvor auf einen Stuhl gelegt hatte, erwartete ihn direkt vor der Tür eine der Frauen, die ebenfalls in dem Wrack lebten. Wenn er sich vom Frühstück her richtig erinnerte, war sie die Schwester von Bidii und hieß Mikasi. Sie lächelte ihn breit an.

»Da du jetzt einer von uns bist, musst du auch so aussehen wie einer von uns«, sagte sie und deutete auf einen bereitgestellten Stuhl. »Setz dich.«

»Wofür?«, fragte Tai, obwohl er wusste, worauf das wahrscheinlich hinauslief.

»Deine Haare sind zu lang«, meinte Mikasi. »Sie müssen ab.«

Er verkniff sich ein Seufzen und setzte sich gehorsam. »Warum tragen die Buren ihre Haare eigentlich so kurz?«, fragte er, während die Frau anfing, jeden seiner dünnen, geflochtenen Zöpfe dicht über der Kopfhaut abzuschneiden.

»Es ist unser Zeichen«, fing sie an zu erklären. »Wir Buren sind freie Menschen und nicht an Städte gebunden, in denen Adlige alles tun, um ihre Haare lang wachsen zu lassen. Außerdem stören sie nur, wenn wir in der Einöde sind. Alles, was schwarz ist, heizt sich in der Sonne sehr schnell sehr stark auf. Wir schützen uns vor ihr, indem wir das Schwarz unserer Haare loswerden und es durch den helleren Stoff unserer Tücher ersetzen. Außerdem reiben sie nicht unangenehm über unseren Nacken, wenn wir mal kämpfen müssen, und saugen, wenn wir uns waschen, nicht so viel Wasser auf, das man ansonsten woanders verwenden könnte..« Sie trat zurück. »Fertig.«

Tai tastete über seinen kahl geschorenen Kopf. Tatsächlich fühlte er jetzt die Kühle der Luft um sich herum, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Sofort schienen seine Gedanken klarer zu werden. »Danke«, sagte er und warf nur einen beiläufigen Blick auf die am Boden liegenden, schwarzen Zöpfe. Wenn das hier wirklich mein Zuhause sein soll, muss ich mich anpassen. Irgendwann werde ich einer von ihnen sein und ihnen dann sagen, wer ich in Wirklichkeit bin. Ich muss es nur richtig anstellen, dann werden sie mir folgen, um den Thron des Ostlands zu erobern. Sie sind wie Javets Höllenmenschen, nur dass sie mir treu sein werden.

Die nächsten Tage brachte Ndege ihn jedes Mal zum Rand von Chuma Chakavu, wo er ihm weitere Kampftechniken beibrachte. Tai hatte das Gefühl, immer besser zu werden. Vermutlich kam ihm dabei seine Stärke zu Hilfe, die er auf dem Hof seiner Mutter immer wieder gebraucht hatte. Einmal schaffte er es sogar, Ndege von den Füßen zu stoßen, bevor er selbst zu Boden ging. Der junge Bure wurde mit der Zeit immer offner und stellte ihm auch einen seiner Freunde vor, der sich damit brüstete, schon fünfzehn Untiere getötet zu haben.

»So groß wie ein Pferd«, erzählte Muuaji gerade. »Sie hatten nur zwei Zähne, die vorne aus ihrer Schnauze herausragten. Und sie waren blind. Aber sie konnten kämpfen!« Er krempelte seinen Ärmel hoch und zeigte seinen Zuhörern eine lange Narbe an der Innenseite seines Unterarms. »Ich bin fast verblutet, aber zum Glück hat Ndege mich rechtzeitig gerettet.«

»Und er hat den Zwitternager getötet?«, quiekte Mjuvi, die ebenfalls bei ihnen saß.

»Nein«, lachte Ndege. »Als ich ankam, waren sie schon tot.«

»Weißt du, warum der Zwitternager so heißt?«, fragte Muuaji und zwinkerte dem Mädchen zu. Sie schüttelte den Kopf und auch Tai wartete gespannt auf eine Erklärung. »Es sind eigentlich zwei Untiere in einem. Sie sind über ihren Schwanz miteinander verbunden. Immer ein Männchen und ein Weibchen. Sie sind alleine nicht lebensfähig, weil ihr Blutkreislauf auch miteinander verbunden ist. Ich musste also nur ihren gemeinsamen Schwanz durchtrennen.«

Tai erschauerte bei dieser Erzählung. Solche Untiere gibt es?

»Du siehst ziemlich eingeschüchtert aus«, bemerkte Muuaji. »Die Zwitternager wirst du auch noch kennenlernen, keine Sorge. Merk dir einfach den Trick mit dem Schwanz. Und dass sie ihn sehr stark verteidigen, wie ich mit Bedauern feststellen musste.« Er schob seinen Ärmel wieder über die Narbe.

»Noch eine Geschichte!«, forderte Mjuvi, doch Ndege schüttelte den Kopf.

»Das reicht mit den Gruselgeschichten. Hilf deiner Mutter lieber beim Ernten der Tomaten.«

»Tomaten!«, rief das Mädchen sogleich, sprang auf und rannte davon.

»Ich werde dann auch mal gehen«, sagte Muuaji und erhob sich. »Es ist schon spät und ich habe Maua versprochen, mit ihr eines der hinteren Wracks zu erforschen.«

»Eines der hinteren Wracks?«, hakte Ndege nach. »Ich denke nicht, dass das sonderlich schlau ist. Es gibt einen Grund, aus dem Boriti das verboten hat. Du erinnerst dich?«

»Ich weiß«, seufzte sein Freund. »Dieses Mal fällt mir aber keine Ausrede mehr ein.«

»Ich dachte, in allen Wracks wohnen Buren?«, fiel Tai ein. »Warum in den hinteren nicht?«

»Früher haben dort auch einige Familien gewohnt, aber sie sind strahlenkrank geworden«, erklärte Muuaji im Flüsterton. »Jetzt sind sie verlassen. Außer...« Er wechselte einen Blick mit Ndege, der nach kurzem Zögern nickte. »Außer eines.«

»Und wer ist da drin?« Verwirrt sah Tai vom Einen zum Anderen. »Warum sind alle anderen strahlenkrank geworden?«

»Alle diese Wracks sind aus der Zeit des Großen Krieges«, hob Ndege an. »Wahrscheinlich ist dort etwas, das die Strahlenkrankheit verursacht. Und der eine, der dort lebt...« Er seufzte. »Ich werde ihn dir wohl oder übel zeigen müssen. Du wirst doch nicht locker lassen, oder?«

Er kennt mich mittlerweile ziemlich gut.

»Morgen Abend«, beschloss Ndege. »Nachdem du dich gewaschen hast. Bei den hinteren Wracks sind manchmal kleinere Untiere unterwegs, weil wir dort nur selten hingehen.« Er lächelte. »Du wirst eines unserer größten Geheimnisse sehen. Man könnte fast sagen, dann bist du einer von uns.«

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