4. Kapitel
Ich hätte gern eine Welt, in der das Ziel der Erziehung geistige Freiheit wäre und nicht darin bestünde, den Geist der Jugend in eine Rüstung zu zwängen, die ihn das ganze Leben lang vor den Pfeilen objektiver Beweise schützen soll. Die Welt braucht offene Herzen und geistige Aufgeschlossenheit, und das erreichen wir nicht durch starre Systeme, mögen sie nun alt oder neu sein.
Bertrand Arthur William Russell
Tai hatte gerade mal einen Schritt gemacht, als ihm schon sein Reisebeutel abgenommen wurde. Überrascht sah er nach hinten und erblickte die vierte Person in der Gruppe. Es war ebenfalls ein Mann. Wie bei Boriti und den anderen waren an seiner Hüfte zwei Halbkugeln aus Metall befestigt, um die die Drahtseile mit einem Haken am Ende gewickelt waren. Er schwang sich den Reisebeutel über die Schulter und zwinkerte ihm dann frech zu.
»Los jetzt!«, rief Boriti ungeduldig von vorne.
»Du hörst besser auf sie«, sagte der junge Mann, der ihm den Beutel abgenommen hatte.
Tai verkniff sich eine scharfe Bemerkung, folgte dann aber den anderen drei, die bereits voraus gegangen waren. Die Farbe ihrer Kleidung passte fast perfekt zu dem Sand der Einöde oberhalb der Klippe. Vermutlich tarnten sie sich damit, um dann ahnungslose Reisende zu überfallen. Aber warum sagen sie, dass sie keine Räuber sind? Er warf einen misstrauischen Blick nach hinten zu dem jungen Mann, der ihn nicht aus den Augen ließ. Sie behandeln mich wie einen Gefangenen. War es wirklich eine gute Idee, darum zu bitten, sich ihnen anzuschließen?
»Ich heiße Ndege«, stellte der Mann hinter ihm sich auf einmal vor. »Dein Name ist Tai?«
»Ja.«
»Kannst du gut kämpfen, Tai?«
»Ich bin ein Bauer«, antwortete er leicht zerknirscht. »Ich kann nur mit Küchenmessern, Sicheln und Sensen umgehen.«
»Warum hast du dann Boriti herausgefordert?« Die Frage klang nicht, als würde Ndege sich über ihn lustig machen. Er schien einfach nur neugierig zu sein.
Tai zuckte mit den Schultern.
»Entweder du bist sehr dumm oder sehr mutig«, lachte Ndege.
Die nächsten Stunden verbrachten sie schweigend. Die Sonne hatte ihren Zenit schon lange überschritten, als Tai in einiger Entfernung dunkle Umrisse erkennen konnte. Im ersten Moment dachte er, es wäre eine Stadt, doch die hätte eine Stadtmauer gehabt, die hier aus irgendeinem Grund fehlte. Seine Neugier war geweckt. Leben diese Menschen also doch in irgendwelchen Häusern?
Nach einer Weile stellte er fest, dass es keine Häuser waren, sondern riesige Gebilde aus Metall. Sie ragten halb aus dem Sand heraus und waren an einigen Stellen so stark verrostet, dass sich hässliche Löcher gebildet hatten. Die Sonne spiegelte sich auf flachen und gewölbten Eisenplatten, die scheinbar von alleine aneinander klebten. Und es war nicht nur ein solche Gebilde, es waren zwei, fünf, zwanzig und dahinter waren noch viel mehr. So viele, dass er sie nicht mehr zählen konnte, in unterschiedlichen Größen und Zuständen. Sie waren manchmal so dicht beieinander, dass man nicht zwischen ihnen unterscheiden konnte.
Ein Werk der Alten, fuhr es Tai durch den Kopf. Niemand kann heutzutage so etwas errichten. Er versuchte sich vorzustellen, welchen Sinn diese Gebilde früher gehabt hatten. Er wusste, dass der Pazifik einst vollständig von Wasser bedeckt war, also mussten sie wohl etwas damit zu tun haben. All seine Ideen vergingen, als er in den Schatten des ersten Metallkolosses eintauchte. Fasziniert sah er die steile Wand hoch und entdeckte in einem der klaffenden Löcher das Gesicht eines kleinen Mädchens. Scheu winkte er ihr zu, doch sie verschwand. Boriti führte ihre Gruppe immer weiter zwischen den Gebilden hindurch, bis sie bei einem davon stehen blieb.
»Kambi!«, schrie sie in das Loch hinein, das vermutlich der Eingang war. Kurz darauf tauchte ein untersetzter Mann mit buckeligem Rücken und schiefen Gesichtszügen auf. Daraufhin winkte Boriti Ndege zu sich, der ihr den Reisebeutel übergab. »Mehr Proviant.« Sie stieß es Kambi vor die Brust, der damit wieder in der Dunkelheit hinter dem Loch verschwand.
»Was ist das für ein Ort?« Tai fand, dass dies nun eine gute Gelegenheit zum Fragen war. Er deutete auf die Metallkolosse um sich herum. »Was sind das für Dinge? Wurden sie von den Alten erschaffen?«
»Das sind Wracks«, erklärte Boriti, während sie begann, den Schal, der um ihren Kopf gewickelt war, zu entfernen. Die anderen taten es ihr nach. »Ja, die Alten haben sie erschaffen, aber jetzt sind sie nutzlos. Wir wohnen hier. Das ist unser Zuhause, das Zuhause der Buren. Willkommen in Chuma Chakavu!« Sie hatte nun den Schal vollständig entfernt. Zum Vorschein kam das Gesicht einer Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein musste. Ihre Wangen waren eingefallen und ihre Haut von Falten bedeckt. Die schwarzen Haare hatte sie so kurz geschnitten, dass sie nur noch als Schatten zu erkennen waren.
»Buren? So nennt ihr euch? Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass wir frei sind«, sagte Boriti geduldig. »Wir sind frei von den Gesetzen der Städte, von den Gesetzen des Königs. Wir brauchen keine Felder mit Getreide und auch keine Wasserhändler. Wir wissen, wie man in der Einöde überlebt. Alleine und frei von allem anderen.«
Tai wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Keine Wasserhändler? Keine Felder? Wie überleben sie dann?
Boriti schien die Verwirrung an seinem Gesichtsausdruck abzulesen. »Es gibt vieles, was du nicht weißt, junger Mann. Ndege?«
»Ja?« Der Mann, der zuvor hinter Tai gegangen war, trat vor. Er musste wohl etwa zwanzig Jahre alt sein. Seine Haare waren genauso kurz geschnitten wie die von Boriti.
»In dem Wrack deiner Familie ist noch Platz«, meinte die Anführerin der Buren. »Er wird bei dir unterkommen. Und du wirst ihn prüfen.«
Prüfen? Tai wusste nicht, ob ihm gefiel, was er da hörte. Wenn er nur eine Prüfung bestehen musste, um von diesen Menschen aufgenommen zu werden, kein Problem. Doch es kam wahrscheinlich sehr stark auf die Art der Prüfung an. Wenn sie etwas mit Kämpfen zu tun hat, ist das überhaupt nicht gut für mich.
»Komm mit«, forderte Ndege ihn nun auf. Der Bure, wie er sich vermutlich nennen würde, führte ihn an dem Wrack entlang, bis es endete. Es war scheinbar in der Mitte durchgebrochen, denn rostige Metallstäbe ragten aus einem riesigen, klaffenden Loch heraus. Etwas weiter lag die andere Hälfte im Sand und sie war es, in der Ndeges Familie vermutlich wohnte.
»Was ist das eigentlich für eine Prüfung?«, fragte Tai, während er zwischen den Metalltrümmern hindurch ging, die auf der offenen Fläche aus dem Boden ragten. Einige waren kaum sichtbar, weil sie von einer dünnen Sandschicht bedeckt waren. Er wollte sich auf keinen Fall an einer der scharfen Kanten schneiden.
»Boriti möchte sich sicher sein, dass du keine Gefahr für uns darstellst«, erklärte Ndege. »Nicht, dass du uns in der Nacht alle ermordest.«
Tai schnaubte und hob die Hände. »Womit denn?«
»Noch nie von der Strahlenkrankheit gehört?«
Er stockte. »Doch.«
»Vielleicht hast du Mwenye Ukoma ohne Erlaubnis verlassen und denkst, dass es eine gute Idee wäre, uns anzustecken.«
»Warum sollte ich...?« Tai schüttelte den Kopf. Er hatte schon von der Stadt gehört, die König Javet für die Strahlenkranken hatte erbauen lassen. Sie lag direkt an der Grenze zum Grenzland und es wurde strengstens kontrolliert, wer sie betrat und verließ. »Ich habe doch gesagt, dass ich aus einem Dorf komme!«
Ndege zuckte mit den Schultern. »Du könntest lügen.«
Tai gab es auf, versuchen zu wollen, den Buren von irgendwas zu überzeugen. Wenn die Prüfung nur da ist, um zu überprüfen, ob ich strahlenkrank bin: Gerne! Er fragte sich nur, wie sie das anstellen wollten. Normalerweise war direkt sichtbar, ob jemand die Strahlenkrankheit hatte. Die einzige Ausnahme waren vermutlich Magier, doch von denen gab es viel zu wenige und sie waren auch nicht ansteckend.
»Das hier ist das Wrack meiner Familie«, sagte Ndege schließlich, als sie am ersten großen Loch ankamen. Sie traten beide hindurch und Tai konnte nicht anders als zu staunen.
Er hatte gedacht, die Wracks würden innen so dunkel sein, dass man nur mit Mühe etwas sehen konnte, doch das war nicht der Fall. Direkt vor ihm lag eine Fläche, die vollständig von der Sonne ausgeleuchtet war, welche durch ein Loch in der Decke herein schien. Auf dem Boden standen eckige Kästen, in denen prächtige grüne Pflanzen wuchsen. Einige von ihnen trugen rote oder grüne Früchte. Ungläubig starrte er zu dem Mädchen, das sich einfach so eine der Kostbarkeiten schnappte und sie sich in den Mund stopfte. Damu hätte mich dafür draußen schlafen lassen!
»Mjuvi!«, ertönte gleich darauf die strenge Stimme einer älteren Frau. »Du könntest wenigstens bis zum Abendessen warten!«
Das Mädchen kicherte nur. Als sie die beiden Neuankömmlinge sah, rannte sie auf sie zu und wurde von Ndege hochgehoben. »Bruder!«, rief sie begeistert. Dann richteten sich ihre neugierigen Augen auf Tai. Sie wirkten unnatürlich groß, weil auch sie ihre Haare kurz geschoren hatte. »Wer ist das?«
»Wir haben ihn bei unserem Ausflug gefunden«, erklärte Ndege und ließ Mjuvi wieder runter. »Er heißt Tai und Boriti sagt, dass er vorerst bei uns unterkommen soll.«
Mjuvi erinnerte Tai so stark an Nyasi, dass er kein Wort herausbrachte. Stattdessen lächelte er sie freundlich an, woraufhin sie sich schüchtern hinter ihrem Bruder versteckte.
»Wer soll hier unterkommen?«
Tai sah auf und erblickte eine Frau – vermutlich die Mutter von Ndege und Mjuvi –, die auf sie zu kam. Ihre Haut war dunkel und ihre Haare so kurz geschnitten wie die aller anderen Buren, die er bisher gesehen hatte. Sie blieb in einigem Abstand zu ihm stehen und musterte ihn kritisch von oben bis unten. Als sie damit fertig war, wandte sie sich an Ndege. »Hast du ihn schon geprüft?«
»Nein«, antwortete dieser. »Ich werde es morgen tun.«
»Mach es gründlich!«
»Werde ich, Mutter.«
Die Frau nickte zufrieden, wandte sich um und verschwand wieder im hinteren Teil des Wracks. Dort war schwach der Schein eines offenen Feuers zu erkennen und der Duft von gebratenem Fleisch wehte zu ihnen hinüber. Tais Magen knurrte. Er hatte bisher nur ein Mal Fleisch gehabt, und zwar am Tag von Nyasis Geburt. Das war schon ganze vierzehn Jahre her und er war gerade mal vier Jahre alt gewesen, konnte sich also kaum noch an den Geschmack erinnern.
»Das war meine Mutter, Bidii«, sagte Ndege. »Komm, ich zeig dir deinen Schlafplatz.« Der Bure winkte ihn hinter sich her. Zu zweit gingen sie an der Metallwand des Wracks entlang, bis sie zu Metallsprossen kamen, die aus ihr heraus ragten. »Hier hoch«, bestimmte er, während er sich an den Metallhalbkugeln an seiner Hüfte zu schaffen machte. Nachdem er sie gelöst hatte, hängte er das komplexe Gerüst an einen Haken an der Wand. Dahinter waren weitere solcher Halbkugeln zu sehen.
Tai zwang seinen Blick auf die Sprossen vor ihm. Da hoch? Er ließ sich seine Unruhe nicht anmerken, wartete, bis Ndege schon ein Stück hochgeklettert war, und folgte ihm dann. Die Sprossen waren erstaunlich stabil und nicht angerostet. Irgendwann näherten sie sich der Decke und Ndege half Tai zurück auf festen Boden. Sie befanden sich in einer kleinen Kammer, die so dunkel war, dass man kaum etwas sehen konnte.
»Dein Platz ist an der hintersten Wand«, erklärte Ndege. »Jetzt können wir direkt wieder zurück.« Er deutete auf die Metallsprossen.
»Du hättest auch einfach sagen können, wo mein Schlafplatz ist«, beschwerte sich Tai. »So dumm bin ich nun auch nicht.«
Ndege grinste. »Eigentlich wollte ich nur schauen, ob du Höhenangst hast.«
»Habe ich nicht.«
»Das weiß ich jetzt auch.«
»Toll.« Tai kletterte die Metallsprossen wieder runter und wartete, bis Ndege ebenfalls ankam. »Und was jetzt? Wirst du jetzt schauen, ob ich strahlenkrank bin?« Er drehte sich mit weit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse.
»Warum sollte ich das tun? Jedes Kind kann sehen, dass du vollkommen gesund bist.«
»Hast du mir nicht vorhin noch vorgeworfen, ich würde aus Mwenye Ukoma kommen?«
»Ja, und?« Als Tai nicht antwortete, lachte Ndege. »Du möchtest wissen, was das für eine Prüfung ist, oder? Nun, das wirst du morgen früh genug sehen.«
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Hmm, was das wohl für eine Prüfung ist? XD
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