3. Kapitel

Was wir wünschen und loben, ist nicht der Mut, würdig zu sterben, sondern der Mut, mannhaft zu leben.

Thomas Carlyle

Tai kam gerade rechtzeitig bei der Klippe an. Die Sonne stand nun am höchsten und brannte gnadenlos auf die Einöde hinab. Er suchte sich eine Felsspalte, die breit genug war, um darin Schutz zu suchen, und öffnete seinen Reisebeutel. Wie erwartet schmeckte der Maisbrei in den Fladen nach gar nichts. Trotzdem schlang er ihn hinunter. Es war wichtig, dass er genug Kraft für die Weiterreise hatte.

Plötzlich erklang ein leises Poltern und als Tai nach oben schaute, sah er ein paar kleine Steine, die sich vom oberen Rand der Felsspalte gelöst hatten und nun hinunter fielen. Schnell beugte er sich vor und hielt sich die Hände über den Kopf, damit sie ihn nicht trafen. Die Steine landeten ein Stück weiter links von ihm. Aber irgendwie hatte eine seltsame Anspannung ihn erfasst. Hatte er sich getäuscht oder war da noch etwas gewesen? Er war der Meinung, dass...

Die Frage wurde ihm von einer kalten Klinge beantwortet, die jemand ihm unter das Kinn hielt. »So alleine und unaufmerksam in der Einöde unterwegs«, ertönte eine gedämpfte Stimme. »Es kann nur ein Stadtmensch sein. Heb langsam den Kopf, junger Mann.«

Tai tat wie ihm geheißen und blickte auf eine fast vollständig vermummte Gestalt. Der Kopf war von einer Art Schal umwickelt, der nur die Augen freiließ. Kleine, schwarze Augen, umrahmt von dunkler Haut und drahtigen Wimpern. Der Stimme nach war es eine Frau, die ihm gerade ihr Schwert an den Hals hielt. Doch sie sah überhaupt nicht so aus. Sie trug kein Kleid, sondern Hemd und Hose, um die weitere Stoffbänder geschlungen waren. An den Hüften saßen zwei große Metallkugeln, von denen Drahtseile ausgingen, die irgendwo über ihr verschwanden. Wahrscheinlich hatte sie sie oberhalb der Klippe irgendwie befestigt. Aber wie hatte sie so schnell und lautlos herunterspringen können?

»Steh auf«, befahl die Frau nun. »Leg dein Essen zurück in den Beutel. So ist gut.«

Tai hob die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war, während die Frau ihm immer noch das Schwert an den Hals hielt. »Bist du ein Räuber?«, fragte er und zwang sich zur Ruhe. »Du kannst mein Geld haben. Es ist ohnehin nicht viel.«

»Geld?« Die Frau wirkte belustigt. »Räuber? Bist du dumm? Wo kommst du her?«

»Aus Kimbilio.« Seine Gedanken rasten. Gehört diese Frau zu einer der Gruppen, die in der Einöde leben? Sie ist so dicht an den Dörfern hier. Warum habe ich noch nie von ihr gehört?

»Ist alles in Ordnung, Boriti?«, rief auf einmal jemand von oberhalb der Klippe hinunter. Tai bemerkte einen Schatten, der sich aus dem der Klippe herausschälte. Neben ihm die Silhouetten von zwei weiteren Menschen. Diese Leute sind schlau, dachte er. Sie wissen, wie weit entfernt sie vom Rand stehen müssen, damit die Sonne ihren Schatten nicht über die Klippe wirft, wo ich sie sehen kann.

»Ja«, antwortete die Frau, Boriti. »Es ist nur einer aus den Dörfern.« Ihr Blick wanderte über den Proviant, der sichtbar aus seinem Beutel herausschaute, und blieb an seinem Wasserschlauch hängen.

»Du willst mein Essen?«, fragte Tai und grinste. »Du wirst es mir erst abnehmen müssen.«

Die Frau lachte. »Sei nicht dumm! Du hast keine Waffen! Wie willst du das verhindern?«

»Ich habe meine Methoden.« Er beschloss, ihr vorerst nichts von dem Dolch zu erzählen, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Er war immer noch an seinem Rücken hinter den Gürtel geklemmt. Genau so, dass man ihn von vorne nicht sehen konnte.

Jetzt wirkte Boriti auf einmal unsicher. Sie musterte ihn abschätzend, bevor sie eine auffordernde Kopfbewegung machte. »Dreh dich um!«

Das ging schneller als erwartet. Langsam drehte er sich um und griff dann blitzschnell nach dem Dolch an seinem Rücken. Er wirbelte herum und wollte ihn der Frau drohend entgegen strecken, doch im selben Moment spürte er einen brennenden Schmerz an seinen Fingern. Vor Schreck ließ er den Dolch los und sah fassungslos auf seine blutende Hand. Ein pochender Schmerz pflanzte sich bis in seinen Arm fort.

»Anfänger«, kommentierte Boriti. »Aber Mut hast du.« Sie wischte ihr Schwert an ihrem Hosenbein ab und beugte sich dann runter, um seinen Dolch aufzuheben. Bewundernd drehte sie ihn hin und her. »Gute Arbeit. Den nehm ich auch mit. Und jetzt tritt beiseite.« Sie wedelte mit den Händen.

»Nein.« Tai biss die Zähne zusammen und hob seine Fäuste.

Boriti seufzte. »Dein Ernst? Du machst es nur komplizierter! Schau mal...« Sie deutete nach Norden. »Irgendwo da liegt ein Dorf, wo du dir alles kaufen kannst, was du möchtest. Wir nehmen nur deinen Proviant, nicht dein Geld!«

Tai antwortete nicht, sah sie nur grimmig an.

»Was ist da unten los?«, ertönte wieder die Stimme von oben.

»Er will einen Faustkampf wegen ein paar trockenen Fladen veranstalten!«, antwortete Boriti.

»Mutig ist er!«

»Und dumm!«, fügte jemand anderes hinzu.

»Ich möchte mich euch anschließen«, sagte Tai fest.

Boriti sah ihn ein paar Sekunden ausdruckslos an und begann dann laut zu lachen.

»Was ist los?«, kam wieder die Nachfrage von oben.

»Er will sich uns anschließen, Nguvu!«, rief Boriti zurück. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll!«

»Das musst du schon selber entscheiden!«

Gespannt beobachtete Tai, wie die Frau den Dolch in ihrer Hand hin und her drehte. Sie schien nachzudenken, was schonmal ein gutes Zeichen war. Ich muss nur mutig und entschlossen genug sein. So erscheine ich stark. Menschen, die in der Einöde leben, respektieren solche Leute bestimmt. Und wer weiß, vielleicht habe ich in ihnen meine ersten Verbündeten gefunden.

»Du bist mutig«, sagte Boriti schließlich und steckte den Dolch weg. »Wie heißt du?«

»Tai.«

»Nun, Tai, sammle dein Zeug ein und komm dann her. Du musst dich gut an mir festhalten.«

»Ihr nehmt mich auf?«

»Wir nehmen dich mit. Vorerst.« Geduldig wartete Boriti, bis er den Reisebeutel geschlossen und ihn sich wieder umgehängt hatte. Als er zu ihr trat, zögerte er kurz.

»Halt dich jetzt an mir fest! Das kann doch nicht so schwer sein!«

Alles oder nichts! Tai umarmte die Frau so fest er konnte, auch wenn er nicht recht wusste, was das bringen sollte. Doch anscheinend hatte er alles richtig gemacht, denn Boriti nickte und drückte dann außen auf die Metallkugeln an ihrer Hüfte. Die Drahtseile rissen sie mit so einer Plötzlichkeit nach oben, dass Tai fast die Luft wegblieb. Er spannte sich an und schaute entsetzt auf den Boden, der sich immer weiter von ihnen entfernte. Und dann war es vorbei. Als er festen Grund unter sich spürte, ließ er Boriti sofort los und fiel in sich zusammen.

»Vielleicht ist er doch nicht so mutig«, meinte jemand in seiner Nähe.

Tai sah auf und blickte in die Augen eines Mannes, der genauso angezogen war wie Boriti. Die Frau selbst war zum Rand der Klippe getreten und entfernte dort zwei Haken, an denen die Drahtseile offenbar befestigt worden waren. Als sie sich wieder aufrichtete, warf sie ihm nur einen kurzen Blick zu.

»Willst du ihn wirklich mitnehmen?«, fragte eine der zwei anderen Gestalten, ein hochgewachsener Mann, dessen Kopf ebenfalls fast vollständig in braunen Stoff eingewickelt war.

Boriti zuckte die Achseln. »Warum nicht?«

»Warum lasst ihr das nicht euren Anführer entscheiden?«, fragte Tai mutig und kam leicht schwankend wieder auf die Beine. Boriti hat gelacht, als ich sie Räuber genannt habe. Also werden sie wohl zu einer größeren Gruppe gehören, die auch von jemandem angeführt wird.

»Unser Anführer?« Der Mann, der sich vorhin über ihn gebeugt hatte verengte die Augen zu Schlitzen. »Boriti ist unsere Anführerin. Pass auf, was du sagst.«

»Wir brechen auf«, bestimmte diese im selben Moment. »Behalte unseren mutigen Dummkopf im Auge, Nguvu!«

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