23. Kapitel
Abend wards und wurde Morgen,
Nimmer, nimmer stand ich still,
Aber immer bliebs verborgen,
Was ich suche, was ich will.
Friedrich Schiller
Tai war irgendwo mitten in der Einöde und hatte angefangen, sein Nachtlager in der Nähe einiger Felsbrocken aufzuschlagen, als Qasi plötzlich alarmiert wieherte und mit den Hufen scharrte. Die braune Stute sah nach Süden, wo jedoch außer Schatten und Dunkelheit nicht viel zu erkennen war. Trotzdem zog Tai vorsichtshalber das Kurzschwert, das Aaron ihm mitgegeben hatte. Angestrengt starrte er in die Finsternis, bis er meinte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben.
Regungslos blieb er stehen. Bestimmt ist es ein Untier. Er rief sich alle Lektionen über Untiere in den Kopf, die Ndege, Muuaji und auch Maua ihm beigebracht hatten. Ein tiefer Stand, die Waffe ungefähr auf Brusthöhe, das Gleichgewicht halten und sich schwer machen. Qasi hinter ihm wurde immer nervöser, blieb aber, wo sie war. Er hatte sie an einem der Felsen festgebunden, damit sie nicht davonlief.
Mit einem Zischen schoss das Untier aus der Dunkelheit auf ihn zu. Tai wich sofort einen Schritt zurück, schwang das Schwert und erwischte etwas Weiches, das mit einem gequälten Laut wegzuckte. Doch im selben Moment wurde er erneut angegriffen. Gerade noch rechtzeitig stieß er dem Untier die Klinge in – vermutlich – den Kopf. Es kreischte. Etwas peitschte durch die Luft und berührte Tai am Oberarm. Während er noch zu begreifen versuchte, was das war, legte sich eine Art Seil um seinen Hals und riss ihn zu Boden. Beim Aufprall wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst und vor Schreck ließ er das Kurzschwert los. Scharfe Klauen bohrten sich so schmerzhaft in seine Arme, dass er aufschrie.
Was ist das für ein Vieh? Er verfluchte sich für all seine Fehler, aber vor allem dafür, kein Licht gemacht zu haben. In der Dunkelheit konnte er fast nichts erkennen. Der Mond stand nur als schmale Sichel am Himmel und die Sterne waren die einzige Lichtquelle.
Wütend versuchte er, das seltsame Seil um seinen Hals zu lockern, während die Klauen sich immer tiefer in sein Fleisch bohrten. Er stieß einen frustrierten Schrei aus, worauf ein Wiehern und ein dumpfer Laut folgten, dann ein schmerzerfülltes Zischen. Das Seil löste sich. Sofort tastete er nach dem Schwert, das hier irgendwo liegen musste. Sein rechter Arm tat höllisch weh und blutete bestimmt so stark, dass auch die Untiere im nächsten Umkreis sich nun auf die Suche nach ihm machten. Doch er musste wenigstens dieses hier loswerden! Mittlerweile hatte er die Vermutung, dass es wohl eher zwei waren.
Das Zischen hinter ihm wurde lauter. Im selben Moment umfassten seine Finger den Griff des Schwertes. Blitzschnell fuhr er herum und schlug blind mehrmals nach den Untieren. Er erwischte etwas, hob die Waffe und schmetterte sie wieder runter. Zweistimmiges Kreischen ertönte, leidend und voller Panik. Als seine Klinge auf sandigen Boden stieß, verstummte es endlich.
Keuchend hielt Tai inne und wartete auf weitere Geräusche, die zum Glück nicht kamen. Nur Qasi schnaubte und scharrte mit den Hufen. »Gutes Mädchen«, flüsterte er und tastete sich durch die Dunkelheit zu ihr vor. Dabei wäre er beinahe über die Leiche des einen Untiers gestolpert. Bei der Stute angekommen, strich er ihr beruhigend über die Schnauze. Er konnte fühlen, wie ihre Nüstern sich blähten und sie leicht zitterte, aber allmählich ließ ihre Nervosität nach. »Gutes Mädchen«, sagte er nochmal. Er war sich ziemlich sicher, dass Qasi das Untier, das ihm das seilartige Ding um den Hals geschlungen hatte, mit ihren Hufen erwischt hatte. Damit hatte sie ihm das Leben gerettet. Behutsam tastete er ihren Körper ab, um sich zu vergewissern, dass sie unverletzt war, und kramte dann in der Satteltasche nach etwas, was er als Verband benutzen konnte. Blind wusch er die Wunde zuerst aus und wickelte anschließend den Stoffstreifen darum, den er gefunden hatte.
Ich werde hier nicht länger bleiben können. Andere Untiere werden bereits auf dem Weg hierher sein.
Leise fluchend tastete er nach Qasis Zügel, band sie los und schwang sich auf ihren Rücken. Sein Arm schmerzte wirklich furchtbar, doch er biss die Zähne zusammen und ritt los. Weg von den Leichen der Untiere. Immer noch spürte er das unangenehme Gefühl des Seils um seinen Hals. Dann fiel ihm ein, was Muuaji einst über Zwitternager erzählt hatte.
Das muss einer gewesen sein, überlegte er, während er nach dem Stern suchte, an dem er sich zuvor schon orientiert hatte, und weiter auf ihn zu ritt. Als er der Meinung war, weit genug zu sein, hielt er an, stieg von der braunen Stute ab und legte sich einfach auf den bereits abgekühlten Boden, Qasis Zügel immer noch in der Hand. Bald schlief er ein.
Tai erwachte von den hellen Strahlen der Sonne, die ihm in die Augen schienen. Langsam setzte er sich auf, vergewisserte sich, dass Qasi noch da war, und untersuchte dann seinen Arm. Der Stofffetzen war mit geronnenem Blut vollgesogen. Das Fleisch darunter hatte drei tiefe Wunden, die aber zum Glück nicht mehr bluteten. Er seufzte. Selbst wenn ich mir irgendeine weitere Krankheit geholt habe, es macht keinen Unterschied. Etwas frustriert wickelte er den Fetzen vorsichtshalber wieder um den Arm und brach auf.
Zwölf Tage später sah er endlich die ersten Wracks von Chuma Chakavu vor sich. Sie sahen genauso aus wie er sie in Erinnerung hatte. Große, schwarze Metallriesen, auf denen sich das Sonnenlicht teilweise spiegelte. Doch nun waren sie im Griff der Plünderer, die alle Buren gnadenlos getötet hatten. Eine unbändige Wut stieg in ihm auf.
Er trieb Qasi an, bis er an einem der südlichen Wracks ankam, das etwas weiter in der Einöde lag als die anderen. Dort stieg er ab und band die Stute so an einer Metallstange an, dass man sie von Chuma Chakavu aus nicht sehen konnte. Geduckt schlich er am Wrack entlang, bis er gut zu den anderen Kolossen hinüber schauen konnte. Auf einigen von ihnen waren offensichtlich Wachen postiert, die die Umgebung im Auge behielten.
Verdammt! Wahrscheinlich haben sie mich schon gesehen!
Sein einziger Vorteil war, dass er nicht mehr wie ein Bure aussah. Er trug die typische, sandfarbene Kleidung und die Hakenspule nicht und auch seine Haare waren wieder länger. Die Plünderer würden nicht darauf kommen, dass er hier war, um sich für die Buren zu rächen und nach Maua zu suchen. Trotzdem sollte er vorsichtig sein. Vielleicht hatten die Plünderer ihre eigenen Merkmale, an denen sie sich gegenseitig erkannten.
Tai beschloss, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten und sich erst dann den anderen Wracks zu nähern. Er gab Qasi etwas zu trinken, stillte seinen eigenen Durst und überprüfte nochmal den Sitz seines Kurzschwertes. Als die letzten Strahlen der Sonne am Horizont verschwanden, huschte er dicht über den Boden geduckt zum nächstbesten Wrack. Es war unbewohnt, was er daran erkannte, dass darin kein Licht schien und es überall Löcher gab, die nicht verbarrikadiert worden waren. Ein kurzer Blick nach links, rechts und oben und er schlich weiter.
»Hast du sie dir heute mal angeguckt?«
Schnell versteckte Tai sich in einem verlassenen Wrack und ließ die zwei Plünderer vorbeigehen. Den Stimmen nach waren es Männer und einer von ihnen lachte gerade.
»Nein, da hatte ich noch nicht die Zeit zu.«
»Es ist einfach ihr ganzer Arm abgefallen. Heute Abend, direkt vor meinen Augen!«
»Wundert mich, dass das nicht früher passiert ist.«
»Sie sieht mittlerweile wirklich gruselig aus. Ich frage mich, wann Kijivu sie abhängen wird.«
»Wahrscheinlich gar nicht. Du kennst ihn doch. Er hat so einen Hass auf die Buren...«
Tai versuchte, noch etwas zu hören, aber die zwei Männer waren schon zu weit weg. Über wen reden sie? Ein Schauer fuhr über seinen Rücken und für einen kurzen Moment fühlte er sich wie gelähmt. Doch nicht über Maua?
Er wartete noch etwas und trat dann wieder nach draußen. Was hat man mit ihr gemacht? Warum haben sie über sie geredet als wäre sie... nicht nur tot, sondern würde in aller Öffentlichkeit aufgehängt irgendwo verwesen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, während er zwischen den Wracks entlang eilte. Auf der Suche nach einem Hinweis, wo diese Person, über die die zwei Männer gesprochen hatten, hängen könnte. Und auf einmal fand er sie.
Die Leiche war auf dem Hauptplatz mitten in Chuma Chakavu an einem Metallpfahl aufgehängt worden. Es musste eine Frau sein. Wenigstens das erkannte er, obwohl der ganze Körper bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Der rechte Arm fehlte, der linke hing nur noch an einem weißen Knochengelenk und ein paar vertrockneten Hautfetzen. Das Gesicht war ein Schlachtfeld aus Wunden, die die Raben wahrscheinlich geschlagen hatten. Ein paar von ihnen hockten immer noch auf den umliegenden Wracks und putzten sich die schwarzen Federn. An dem kaum mehr vorhandenen Hals klebte schwarzes, geronnenes Blut, was auf einen Schnitt durch die Kehle hinwies. Doch eins war klar: Es war nicht Maua, die da hing. Die Statur passte nicht. Diese Frau war größer und älter gewesen.
Boriti, fuhr es ihm durch den Kopf. Es war nur logisch, dass dieser Kijivu die Anführerin der Buren tötete und dann öffentlich aufhängte, um seinen Sieg zu feiern. Sie hat es nicht verdient! Tai ballte die Fäuste. Diese Frau hatte ihn aufgenommen, hatte ihm vertraut, hatte ihm ein neues Zuhause gegeben.
Er kämpfte den Instinkt nieder, nach Kijivu zu suchen und ihm das Kurzschwert so tief in die Brust zu rammen, dass er starb. Stattdessen bog er in einen verlassenen Durchgang zwischen den Wracks ein und eilte weiter. Bei sich Zuhause war Maua nicht gewesen, sonst wäre sie zusammen mit ihrer Familie gestorben. Die einzige andere Möglichkeit war, dass sie zum Zeitpunkt des Angriffs auf ein Wrack geklettert war und dadurch hatte fliehen können. Er wusste nicht, was er sich davon erhoffte, den Ostteil von Chuma Chakavu zu durchsuchen, aber er hoffte einfach, dass er dort etwas finden würde. Irgendwas.
Nachdem er die Sandfläche mit den herumliegenden Metallteilen überquert hatte, sah er sich jedes Wrack genau an. Gab es Anzeichen von Leben? Vielleicht auch Blut? Kampfspuren? Er entdeckte den Metallriesen, auf dem Maua ihre Schatzkiste aufbewahrt hatte, und kletterte ihn hoch. Oben angekommen suchte er nach irgendeinem Versteck, wo sie sein könnte, doch es gab keins. Bis auf das Loch, in dem die Schatzkiste steckte, gab es keine Deckung. Er ließ er seinen Blick über die Ansammlung an toten, zur Hälfte verlassenen Kolossen gleiten. Es war hoffnungslos. Wie soll ich Maua nur finden?
Mit schmerzendem Herzen und Arm hockte er sich hin, bis ihm eine weitere Möglichkeit einfiel. Wenn Maua wirklich geflohen war, hätte sie doch sicher irgendwo nach einem Unterschlupf gesucht. Warum nicht in einem der umliegenden Dörfer? Er blickte in Richtung Norden, wo irgendwo unterhalb der Klippe sowohl Kimbilio als auch das Nachbardorf Mbadala lagen, in dem er sich einst hatte Arbeit suchen wollen. Von hier aus waren sie die nächsten bewohnten Ortschaften. Hatte Maua vielleicht dort Schutz gesucht?
Schlagartig war er wieder voller Tatendrang. Behände kletterte er das Wrack hinunter und machte sich auf den Weg zurück zu Qasi. Er würde sie brauchen, denn ohne die Hakenspule kam er die steile Klippe nicht runter und es schien so, als hätten die Plünderer dieses Hilfsmittel der Buren zusammen mit allem anderen, was an sie erinnerte, zerstört oder verkauft. Jedenfalls hatte er keine einzige Hakenspule gesehen; nicht einmal welche, die als Schrott in den Durchgängen zwischen den Wracks lagen. Also musste er einen kleinen Umweg nehmen.
Auch in Chuma Chakavu nahm er einen kleinen Umweg. Die meisten Plünderer waren mittlerweile in ihren Betten und schliefen und er achtete darauf, außerhalb der Sichtweite der Wachen zu bleiben. So schaffte er es zurück zu Boritis Leiche. Kurz überlegte er. Wenn er sein Schwert warf, um damit die Fesseln zu durchtrennen, an denen sie hing, würde die Klinge auf dem Metallpfahl ein lautes Klirren von sich geben, das alle alarmieren würde.
»Verzeih mir«, flüsterte er leise. »Ich kann dich nicht von diesem Schauspiel erlösen. Aber ich kann etwas anderes tun.«
Er löste sein Halstuch, unter dem die Lepra-Mutation bereits zu nässen angefangen hatte. Tai unterdrückte den Drang sich zu kratzen und ging zu der Tür des Wracks, in dem Boriti früher gewohnt hatte. Bestimmt war es nun Kijivus Zuhause. Behutsam rieb er die Klinke mit seinem Halstuch ab und hoffte, dass die schreckliche Krankheit früher oder später alle Plünderer ausgelöscht haben würde. So wie sie auch Marcos Leben ein Ende bereiten würde. Als er fertig war, knotete er das Tuch wieder fest und machte sich auf den Weg zurück zu Qasi.
Ich hätte sie alle persönlich töten müssen, dachte er bedauernd. Sie hätten es verdient. Aber so werden sie wenigstens leiden, bevor sie endgültig sterben.
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