22. Kapitel

Wir alle kommen, wann die Welt beginnt,

mit warmen Herzen, kühner Schwärmerei,

jedoch die Zeit macht bald den Schimmer blind,

und jeder Wahn wirft auf dem Lebensgange

die bunte Haut bei Seite, wie die Schlange.

George Gordon Byron

»Prinz Ragnar vom Nordland und die Bastard-Prinzessin Hilgard!«, verkündete der Garderitter, der das Tor zum Thronsaal bewachte, woraufhin ein junger Mann und eine Frau den roten Teppich betraten. Gemächlichen Schrittes gingen sie auf die fünf Treppenstufen zu, die zum Silberthron hinaufführten, wo König Javet saß. Neben ihm stand Königin Rafaga, deren besorgter Blick kurz zu Hilgard wanderte, bevor sie ihn auf den Prinzen richtete.

»Es ist mir eine Ehre, euch beide hier zu begrüßen«, sagte Javet. »Ich war etwas überrascht von der Ankündigung, dass ihr hierher kommen würdet. Ich hatte angenommen, nach dem Krieg gegen die Triglaza würde Königin Sunna nichts mehr mit dem Ostland zu tun haben wollen.«

»Meine Mutter hat entschieden, dass die Zeit der Trauer vorbei ist«, antwortete Ragnar mit einem frechen Zug auf den Lippen. »Mein Besuch soll ein Zeichen dafür sein, dass sie nicht nachtragend ist.«

»Wenn das so ist, warum ist sie nicht selber gekommen?«

Kurz herrschte Totenstille im Thronsaal. Keiner der Garderitter wagte es, sich zu bewegen, aus Angst, die Rüstung könnte knirschen.

»Meine Mutter ist eine vielbeschäftigte Frau«, erklärte Prinz Ragnar unbeeindruckt. »Sie hätte die Reise sicher gerne zusammen mit uns angetreten, aber der Moment war etwas unpassend.«

König Javet warf einem Mann, der dem Aussehen nach aus dem Westland stammte und unterhalb der Treppe stand, einen fragenden Blick zu. Dieser nickte unmerklich. Eine stumme Bestätigung von etwas, worüber sie vermutlich zuvor schon gesprochen hatten.

»Meine Mutter schickt Euch aber trotzdem wertvolle Geschenke als Dank, dass Ihr uns in Eurer Burg aufnehmt.« Prinz Ragnar winkte einer Frau mit heller Haut und vollen, dunkelbraunen Haaren zu, die vor dem Tor auf sein Zeichen gewartet hatte. Nun eilte sie herbei, verbeugte sich und stellte eine Kiste vor sich ab, deren Deckel bereits geöffnet war. »Ein Beutel voller Bernstein für Eure Schatzkammern. Dazu ein vergoldetes Trinkhorn, hergestellt von den besten Handwerkern des Nordlands. Für jede Eurer Töchter ein Kleid im Stil des Nordlands und für Euren Sohn ein Dolch.«

Beim letzten Wort verfinsterte sich das Gesicht des Königs und Rafaga musste ihm eine Hand auf die Schulter legen, damit er sich beruhigte. Gleichzeitig trat die Hauptfrau der Garderitter vor und sah sich den Inhalt der Kiste genau an. Da alles seine Ordnung zu haben schien, nickte sie dem Königspaar zu.

»Wir danken für die freundlichen Geschenke Eurer Mutter«, sagte Königin Rafaga freundlich und wollte gerade fortfahren, als Javet seine Stimme erhob.

»Wisst Ihr, wie ich mein Auge verloren habe, Prinz Ragnar?«

Das Lächeln des jungen Mannes erlosch. »Mir wurde erzählt, der Usurpator Sharaf hätte es Euch ausgestochen, bevor er selbst gestorben ist.«

»Das stimmt.« König Javet erhob sich von seinem Thron und ging quälend langsam die Treppe hinab, während er fortfuhr: »Ich war siebzehn, als ich gegen Sharaf gekämpft habe, nur ein Jahr jünger als Ihr jetzt. Die Höllenmenschen und Qing Xin«, er deutete auf den westländischen Mann, »haben mir beigestanden. Darunter war auch Domador, ein tapferer Krieger, der von Anfang an an meiner Seite gewesen ist.«

Kaum merklich drehte die Hauptfrau der Garderitter ihren Kopf zur Seite und biss sich auf die Lippen, bevor sie sich wieder zusammenriss und die Gäste weiter im Auge behielt.

»Domador war es, der Sharaf letztendlich getötet hat, nicht ich. Und er musste einen teuren Preis dafür bezahlen, denn er wurde so schwer verletzt, dass nicht mal Qing Xin ihn mehr retten konnte. Doch Sharaf hat auch mich gezeichnet. Er hat mir einen Dolch durch das linke Auge gerammt. Die Klinge war mit dem Blut einiger Strahlenkranker beschmiert.« Der König hob seine Hand. Alle Anwesenden hielten den Atem an, als er seine Augenklappe entfernte und darunter graue, tote Haut zum Vorschein kam, die eine leere, schwarze Augenhöhle umrahmte. »Ein Dolch hat das getan.« Nun war Javet bei der Kiste angekommen, nahm den Dolch heraus, der für seinen Sohn bestimmt war, und drehte ihn in seiner Hand.

»Ein verdammter Dolch!«, brüllte er plötzlich und warf die Waffe mit solcher Wucht auf den Boden, dass sie einen Riss im roten Teppich hinterließ, über den Boden davonschlitterte und am Fuß einer Säule liegenblieb. Sein eines, dunkelbraunes Auge richtete sich wie eine scharfe Messerspitze auf Prinz Ragnar. »Will Eure Mutter, dass mein Sohn mir auch das andere Auge aussticht? Oder irgendwem anders? Wie kann sie es wagen, so etwas als Geschenk in meinen Thronsaal zu bringen!«

Das Gesicht des Prinzen war nun endgültig eine Maske der Verunsicherung. Er neigte den Kopf. »Ich entschuldige mich vielmals. Bestimmt hat sie es nicht so gemeint. Es wird sich bestimmt etwas Anderes...«

»Nicht so gemeint?«, donnerte König Javet, atmete tief durch und platzierte die Augenklappe wieder vor dem schrecklichen Schlachtfeld. »Ich kenne Eure Mutter, Prinz Ragnar. Sie meint alles genau so, wie sie es sagt oder zeigt. Es ist nicht Eure Schuld. Offensichtlich wusstet Ihr nichts von der Bedeutung dieses Geschenks. Corajudo!«

Ein junger Garderitter trat aus den Reihen der anderen Wachen vor.

»Bringt den Prinzen und die Prinzessin in ihre Gemächer im Ostflügel.«

»Ja, mein König.«

Ragnar und Hilgard verbeugten sich zum Abschied und folgten in Begleitung der braunhaarigen Dienerin dem Garderitter aus dem Thronsaal hinaus. Als sie gegangen waren, eilte Königin Rafaga die Stufen hinunter und legte beide Hände auf die Schultern ihres Ehemannes, damit er sich ihr zuwandte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

»Du hast ihnen Angst gemacht«, flüsterte sie ihm zu. »Königin Sunna hat es bestimmt nur gut gemeint. Der Vorfall mit Sharaf ist so lange her. Sie hat es sicherlich nur für gute und passende Geschenke gehalten. Ich glaube, Kuumwa würde sich freuen, wenn er seinen ersten Dolch bekommt, den sogar die Königin des Nordlands persönlich ihm ausgesucht hat.«

»Er wird ihn nicht bekommen«, bestimmte Javet. »Dolche bringen nur Unglück.« Sein flammender Blick legte sich auf die verhasste Waffe. »Bringt ihn weg!« Sofort eilte eine Dienerin herbei, die den Dolch mit spitzen Fingern aufnahm und damit aus dem Thronsaal eilte.

»Du hast auch kein einziges Wort mit Hilgard gewechselt«, fuhr Rafaga nun mit gesenkter Stimme fort. »Ich dachte, ihr wärt befreundet? Du hast sie schon so lange nicht gesehen. Möchtest du nicht mal mit ihr reden?«

»Reden?« Javet schnaubte. »Worüber denn?«

»Über alte Zeiten. Darüber, was alles passiert ist seit dem Krieg gegen die Triglaza. Bestimmt hat sie auch viel zu erzählen.«

Der König schwieg eine Weile. Dann schmunzelte er und richtete sein eines Auge auf seine Frau. »Wo warst du eigentlich vor etwa fünf Monaten?«

»Vor fünf Monaten? Natürlich hier, bei dir, in der Burg.« Die Königin lächelte milde, doch es wirkte etwas gequält. »Wo sollte ich sonst gewesen sein?«

»Das musst du mir sagen.« Sein Blick verfinsterte sich. »Es gab Gerüchte davon, die Königin wäre im Armenviertel von Ngome gewesen. Ich frage mich, was du dort verloren hattest.«

»Im Armenviertel?« Rafagas Hände verkrampften sich. »Ich weiß nicht, was ich dort hätte tun sollen.«

Der König musterte sie einige Zeit schweigend. Die Anspannung war deutlich zu fühlen, wie eine unsichtbare Bedrohung an einem scheinbar sicheren Ort. »Pass auf, was du tust, Rafaga«, sagte er schließlich mit kalter, verbitterter Stimme. »Ich weiß, dass du letzten Monat nicht durch das Ostland gereist bist, sondern im Nordland in Borg warst. Was du dort getan hast, weiß ich noch nicht, aber ich bin mir sicher, dass es mit dem Besuch des Prinzen zu tun hat. Wage es nicht, hinter meinem Rücken Intrigen zu spinnen.« Damit wandte er sich von ihr ab und verließ den Thronsaal. »Du bist ohnehin nicht die wahre Königin«, flüsterte er im Weggehen. Sein Blick war auf eine unsichtbare Gestalt neben sich gerichtet.

***

»Er ist wirklich verrückt!«, wütete Prinz Ragnar in dem Zimmer, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Es war relativ geräumig. Trotz des Bettes, des Schreibtischs und des Schranks war noch eine große Fläche frei, die von einem Teppich bedeckt war. Zwischen den fremd wirkenden Mustern ging der Prinz hin und her und ließ alles raus, was ihm auf dem Herzen lag. »Einen Dolch abzulehnen, der nicht mal für ihn, sondern für seinen Sohn ist! Jeder Junge freut sich über so ein Geschenk, oder nicht? Was für ein Scheiß!«

»Ihr solltet Euch zügeln«, empfahl Irma, die nur mit einem Nachthemd bekleidet auf der Bettkante saß. »Die Garderitter draußen hören Euch.«

»Die verstehen sowieso kein Nordländisch! Scheiß-Höllenmenschen!« Er wandte sich an die Braunhaarige. »Jetzt habe ich deinen Wunsch erfüllt! Zufrieden? Ist es schön im Ostland?«

»Noch habe ich ja nicht sonderlich viel gesehen.«

Der Prinz kam auf sie zu, warf sie rücklings aufs Bett und beugte sich über sie. Seine blaugrauen Augen funkelten gefährlich. »Dachtest du, wir würden hier spazieren gehen oder was? Du bist die Hure des Prinzen! Du bist an mich gebunden! Und ich kann mich nunmal nicht offen mit dir blicken lassen! Wenn meine Mutter erfährt, dass ich regelmäßig mit einer Schwächlingsfrau ins Bett gehe, bin ich erledigt! Sie wird sofort die nächste Adlige mit mir verheiraten und das war's dann mit dem Spaß!«

»Ihr könntet mir die Erlaubnis geben, alleine durch Ngome zu wandern.«

»Damit du abhaust? Auf keinen Fall!« Ragnar beugte sich tiefer zu ihr runter, sodass seine schulterlangen, roten Haare ihre Wangen streiften. »Du wirst so lange bei mir bleiben, bis du mir langweilig wirst.« Mit einem Ruck riss er sich von ihr los. »Jetzt geh. Ich habe gerade keine Lust, irgendwas mit dir zu machen.«

Vorsichtig krabbelte Irma zur gegenüber liegenden Bettkante, wo sie ihr Nachthemd gegen das Kleid einer Dienerin austauschte und sich ihre Lederschuhe anzog. Sie warf dem Prinzen einen letzten Blick zu, bevor sie aus dem Zimmer huschte. Ragnar selbst ging noch eine Weile unruhig über den Teppich, bis auch er auf den Flur hinaustrat. Er ignorierte die zwei Garderitter, die sein Zimmer bewachten und schlenderte durch die hell erleuchteten Korridore. Wo er vorbeikam, neigten die Menschen ehrfürchtig die Köpfe. Diener, andere Angestellte, sogar Garderitter, die gerade nicht im Dienst waren. Nur ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit abstehenden, stark gelockten Haaren erwies ihm keinen Respekt, sondern ging einfach an ihm vorbei. Verwirrt sah Ragnar ihr nach und folgte ihr schließlich eine Treppe hinunter und dann raus auf den Innenhof. Von Weitem beobachtete er, wie sie von einer älteren Dienerin empfangen wurde, die einen prächtigen, schwarzen Hengst am Halfter hielt. Sein zur Hälfte gespaltener Kopf zeichnete ihn als Höllenross aus. Die Frau warf sich ihm um den Hals und machte sich dann daran, das Fell des Tieres zu bürsten, während die Dienerin sich nach einem respektvollen Knicks entfernte.

Ragnar beobachtete sie noch eine Weile kritisch. Als sie Anstalten machte, dem Höllenross den Sattel auf den Rücken zu hieven, setzte er sich in Bewegung. Er kam gerade noch rechtzeitig an, um ihr beim Hochheben des schweren Lederstücks zu helfen.

»Ich habe schon tausendmal gesagt, dass ich das selber schaffe!«, rief sie empört, bevor sie bemerkte, wen sie da vor sich hatte. Doch statt einer Entschuldigung runzelte sie nur die Stirn.

»Ich bin mir sicher, dass Ihr das auch selber schafft, aber etwas Hilfe schadet nie«, entgegnete Ragnar galant und wuchtete den Sattel auf den Rücken des schwarzen Hengstes. Fasziniert fuhr er über die gespaltene Schnauze mit den drei Nüstern und den eingedellten Nasenrücken. Das Zaumzeug war ziemlich offensichtlich eine Sonderanfertigung. »Euer Hengst?«

»Ja«, sagte das Mädchen. »Und ich würde ihn jetzt gerne reiten.«

»Ich möchte Euch auch gar nicht daran hindern.« Er schenkte ihr ein perfektes Lächeln. »Ihr seid eine der Prinzessinnen, oder? Cheka, wenn ich raten müsste, stimmt's?«

»Kann sein.« Sie nahm die Zügel des Hengstes in die Hand und wollte an Ragnar vorbei gehen, doch dieser kam einfach mit ihr mit.

»Ich sehe, dass Euer Hengst Euch sehr viel bedeutet«, plauderte er drauf los. »Ihr habt ihn wirklich gut gepflegt. Sein ganzes Fell glänzt als wäre es aus Seide. Darf ich nach seinem Namen fragen?«

»Donner«, antwortete sie.

»Ein sehr passender Name.«

»Ihr seid der Prinz des Nordlands, oder?«, fragte nun Cheka. »Ragnar?«

»Ihr habt eine gute Kombinationsgabe«, lobte Ragnar. »Ich wollte mich eigentlich nur etwas in der Burg umschauen, aber dann habe ich Euch gesehen und konnte nicht anders als zu Euch zu kommen.« Er schien kurz zu überlegen. »Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns nochmal in einem etwas ruhigeren Umfeld treffen könnten. Ihr könntet mir von den Abenteuer erzählen, die Ihr schon mit Donner erlebt habt. Sicher ist es unglaublich spannend, auf ihm durch die Stadt zu reiten.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Chekas Gesicht, bevor sie sich wieder im Griff hatte. »Ich überlege es mir«, sagte sie nur und setzte ihren Weg in Richtung des Burgtores fort, wo bereits zwei Garderitter auf Höllenrössern warteten, die sie vermutlich begleiten würden.

Von einem Fenster im zweiten Stock aus beobachteten zwei Gestalten das Geschehen im Hof.

»Behalte ihn im Auge«, flüsterte König Javet Qing Xin neben sich zu. Er wirkte unzufrieden und fast schon wütend. »Ihn und Rafaga. Ich habe das Gefühl, dass sie beide etwas zu verbergen haben.«

»Rafaga ist dir treu ergeben«, meinte der Westländer. »Ich habe dir bereits alles berichtet, was ich über sie in Erfahrung bringen konnte.«

»Sie hat mich angelogen«, sagte Javet verbittert. »Schon zwei Mal. Was hat sie geplant?«

»Du darfst nicht in alles so viel reininterpretieren. Ich denke nicht, dass sie irgendwas plant, das dir schaden würde.«

»Und was, wenn doch?« Der König schüttelte den Kopf. »Man kann nie vorsichtig genug sein. Was hat sie im Nordland gemacht? Plant sie eine Verschwörung gegen mich? Will sie das Ostland ans Nordland verkaufen?«

»Warum sollte sie das tun?«

»Aus Rache.« Javet wandte sich vom Fenster ab. »Ich habe sie nie so sehr geliebt wie sie mich. Und das weiß sie. Was, wenn sie einen Geliebten im Nordland hat, dem sie die Krone versprochen hat? Oder wenn sie diesen Ragnar mit einer meiner Töchter verheiraten möchte? Mit Cheka? Hat sie einen Vertrag mit Königin Sunna abgeschlossen?«

»Das sind alles nur Spekulationen«, wandte Qing Xin ein. Seine dunklen Augen blickten ihn besorgt an. »Es tut nicht gut, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Meistens ist die offensichtlichste Erklärung die richtige: Rafaga war im Nordland, um vorzuschlagen, dass Königin Sunna jetzt endgültig Frieden mit der Vergangenheit schließt. Dafür hat diese ihren Sohn hierher geschickt. Zusammen mit Geschenken und der Botschaft, dass alles vergeben und vergessen ist.«

»Aber ich traue ihnen nicht«, grollte König Javet. »Keinem von ihnen. Nur dir kann ich vertrauen, Qing Xin. Du hast mich damals von der Schwelle des Todes zurückgeholt.«

Der Westländer nickte, doch seine Lippen zuckten kurz, als hätte er gerne noch etwas gesagt, es sich allerdings im letzten Moment verkniffen.

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Frohes Neues Jahr euch allen!

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