21. Kapitel
Ich schlage beide Welten in die Schanze.
Mag kommen, was da kommt! Nur Rache will ich.
William Shakespeare
Die nächsten Tage verbrachte Tai damit, in Begleitung von Soort durch die Station zu wandern, wobei er immer neue Sachen über die Alten, den Großen Krieg, aber auch über Sirkel erfuhr. Er hatte sich schon seit einiger Zeit gefragt, warum es hier so wenige Menschen gab und wie sie Kinder bekamen – schließlich müssten sie doch alle miteinander verwandt sein. Doch dann zeigte Soort ihm ein weiteres Labor, in dem es angenehm kühl war. Die Wände waren vollgestellt mit Schränken, die bis zur Decke gingen. In ihnen befanden sich kleine Schubladen, die man aufziehen konnte.
»Hier werden die Spermien und Eizellen vieler verschiedener Menschen gelagert«, erklärte der Heiler. »Wir führen eine künstliche Befruchtung durch und ziehen die Embryos, also die ungeborenen Menschen, dann in Nährtanks auf.«
»Nährtanks?«
»Die kann ich dir leider nicht zeigen. Es ist ein nicht sonderlich appetitlicher Anblick. Aber sobald sie alt genug sind, werden sie quasi geboren und ein paar Arzthelfer und Erzieher kümmern sich um sie. Auf der Station gibt es einen Kindergarten und eine Schule, auch wenn in jeder Gruppe und Klasse nur zwischen vier und fünf Kinder sind.«
Tai fuhr ein eisiger Schauer über den Rücken. Er konnte sich nur schwach daran erinnern, wie schwer seine Mutter es bei Nyasis Geburt gehabt hatte. Später hatte Haifai ihm erzählt, dass Alina dabei fast gestorben war. Und die Alten hatten eine Technik, mit der sie einfach so Babys heranwachsen lassen konnten. Eine seltsame Vorstellung.
Er erfuhr auch, dass seine sehr weit entfernten Vorfahren vermutlich von einem Kontinent namens Afrika kamen. Soort zeigte ihm auf einem großen Tablet Bilder von Tieren, die er noch nie im Leben gesehen hatte. Eines davon hatte einen so langen Hals, dass es Blätter von Bäumen fressen konnte. Diese wiederum waren teilweise so groß wie sechs Menschen übereinander. Ostländisch war eine Mischung mehrerer Sprachen von diesem Kontinent. Soort konnte sie nur sprechen, weil er sich für seine eigenen Vorfahren interessierte, die auch aus Afrika kamen. Er hatte sie mühevoll gelernt.
»Deine näheren Vorfahren kommen aber wahrscheinlich eher aus den Vereinigten Staaten«, fügte Soort noch hinzu. »Viele Menschen aus Afrika wurden früher nach Amerika verschleppt, um dort als Sklaven zu arbeiten.«
»Sklaven?« Tai horchte auf. »Aber... die hellhäutigen Menschen sind doch...«
»Ja, es ist in der Tat faszinierend, wie die Dinge sich umgekehrt haben.« Er schmunzelte. »Nach einiger Zeit wurde die Sklaverei in Amerika abgeschafft, aber viele der ehemaligen Sklaven blieben trotzdem in ihrer neuen Heimat. Wahrscheinlich stammst du von einem von ihnen ab.«
Der Heiler erzählte auch von seinem Bruder, der früher ein Läufer gewesen war und sich eines Tages scheinbar einfach so in den Pazifik begeben hatte. »Chui hieß er«, erklärte Soort. »Er hat sich schon immer für die Menschen des Pazifiks interessiert. Ich hoffe nur, dass es ihm gut geht und er keine Dummheiten gemacht hat.«
Den Tag darauf verkündete Soort, dass es seiner Wunde gut genug ging, um in den Pazifik zurückzukehren. Etwas widerwillig zog Tai die Kleidung an, die er ihm mitgebracht hatte – sie musste einem der Läufer gehört haben, passte aber fast perfekt –, und folgte ihm dann zu einer Tür am Ende des Quarantäne-Bereichs. Dort wartete Aaron auf ihn. Der Mann nickte ihm freundlich zu, bevor er ihn zu sich winkte.
»Er wird dich an einen sicheren Ort bringen, von dem aus du einfach zurück ins Ostland gelangst«, erklärte Soort. »Es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben. Wer weiß, vielleicht führt das Schicksal uns ja nochmal zusammen.«
»Das bezweifle ich«, sagte Tai und rückte vielsagend das Halstuch zurecht, das das schwarze Geschwür verdeckte.
»Dann ist das also unser Abschied.«
Tai war etwas überrumpelt, als der Heiler ihn auf einmal in die Arme schloss. In seinen Augen schienen sogar Tränen zu stehen, doch er könnte sich auch geirrt haben. Etwas ungeschickt trat er zurück, lächelte Soort ein letztes Mal dankbar zu und ging dann zu Aaron hinüber, der bereits in dem Raum hinter der Tür stand. Der Läufer bewegte irgendwelche Hebel an den Wänden und die Tür schloss sich hinter ihnen, sodass Soort bald aus seinem Sichtfeld verschwunden war.
Aaron nickte zufrieden und reichte Tai einen Rucksack, den er zuvor selbst über der Schulter getragen hatte. Tai sah hinein. Darin befanden sich mindestens zwei Wasserschläuche sowie ein paar Brote und getrocknete Früchte. Letztere vermutlich aus dem kostbaren Vorrat des anderen Labors, in dem Pflanzen gezüchtet wurden. Auch ein Beutel mit Pazifik-Geld und eine kleine Metallschachtel war dabei. Das war also sein Proviant. Zusätzlich reichte Aaron ihm auch noch ein kurzes Schwert samt dazugehöriger Scheide, das er sofort an seinem Gürtel befestigte.
»Danke.«
Der Läufer nickte nur und betätigte einen weiteren Hebel. Daraufhin öffnete sich eine Tür auf der anderen Seite und gab den Blick auf das Totenland draußen frei. Tai hatte sich so sehr an das künstliche, weiße Licht gewöhnt, dass die Landschaft ihm in einem gelben Farbstich erschien. Entschlossen trat er hinaus und kämpfte die Angst nieder, die plötzlich in ihm hochkam. Jetzt, wo er so viel über die Geschichte des Pazifiks und die Strahlenkrankheit wusste, hatte er das Gefühl, eigentlich im nächsten Moment tot umkippen zu müssen. Doch zum Glück passierte das nicht.
Aaron ging an ihm vorbei, winkte ihm auffordernd zu und lief dann los. Tai folgte ihm. Sie reisten in einem gemächlichen, angenehmen Tempo, immer versucht, im Schatten von Felsen oder Abhängen zu bleiben, während die Sonne über ihnen immer höher stieg. Die Reise kam Tai unendlich lange vor, aber als sie nach mehreren Pausen endgültig anhielten, war es immer noch nicht Abend. Erst da fiel ihm ein, was Yueani über den tiefsten Süden erzählt hatte. Die Sonne würde noch lange nicht untergehen. Bei dem Gedanken an sie spürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust.
»Ist das hier Jamjama?«, fragte er Aaron, obwohl dieser ihn wahrscheinlich nicht verstehen würde. »Jamjama?«, wiederholte er langsamer.
Der Läufer nickte und deutete nach rechts, wo Tai eine weite, freie Fläche sah. Aber sie war nicht ganz frei. An einigen Stellen gab es dunklere Schatten, zu denen kleine Gestalten etwas hintrugen und reinwarfen. Tai drehte sich fast der Magen um, als er verstand: Jamjama war einfach eine riesige Grube, in die Tag für Tag die Leichen der Arbeiter geworfen wurden. Bis die Grube voll war und verschlossen wurde. Denn daneben waren andere Gestalten bereits dabei, eine neue auszuheben.
Aaron schaute ihn mitleidig an und streckte dann die Hand aus. Tai schlug ein und schüttelte sie. »Danke. Aber... Wohin muss ich jetzt gehen?«
Der Läufer schien seine Frage erwartet zu haben, denn er deutete in eine bestimmte Richtung, vermutlich nach Norden. Dann klopfte er ihm auf die Schulter, wandte sich ab und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Tai atmete tief durch. Er hatte darüber nachgedacht, wo er nach Maua suchen sollte und war zu dem Schluss gekommen, dass das sinnlos war, solange er keine Anhaltspunkte hatte. Es war einfach zu viel Zeit vergangen. Sie hätte genauso gut ins Südland oder sogar ins Westland ziehen können. Und ob sie ihn überhaupt noch haben wollte, wenn er doch die Lepra-Mutation hatte, war ebenfalls eine große Frage. Er hatte beschlossen, sich stattdessen mit den Plünderern auseinanderzusetzen, die sich in Chuma Chakavu breit gemacht hatten. Gut, dass Aaron ihm dieses Kurzschwert gegeben hatte. Er hatte Ndeges Lektionen nicht vergessen.
Nach einer kurzen Verschnaufpause brach Tai in die Richtung auf, in die Aaron gezeigt hatte. Er wusste zwar nicht, wo genau er sich befand, aber ein Ziel hatte er noch, bevor er sich nach Chuma Chakavu begeben wollte. Und das war Kusini, die Stadt, aus der Yueani gekommen war. Dort würde er sich mit den Münzen auch ein Pferd besorgen müssen, um schneller und vor allem sicherer durch die Einöde reisen zu können. Außerdem musste er darauf achten, niemandem seinen Hals zu zeigen. Sonst würde ein Kahata ihn ganz schnell zurück in die Wasserstädte bringen und dieses Mal würde er nicht so leicht davonkommen, da war er sich sicher.
Er brauchte fast fünf Tage, bis er in einiger Entfernung die Lichter einer Stadt sah. Es war nicht Maji, dafür war er schon zu weit im Norden, also konnte es nur Kusini sein. Mittlerweile war er schon so weit vom Großen Wasserreservoir entfernt, dass die Tage etwas regelmäßiger waren und so kam er zur Abenddämmerung hin in der Stadt an. Die Wachen ließen ihn durch, da er wie ein einfacher Wanderer aussah. Vielleicht wunderten sie sich nur, dass er alleine unterwegs war.
»Entschuldigung«, sprach Tai den nächsten Passanten an, »wisst Ihr, wo man hier ein Pferd kaufen kann?«
Die Angesprochene war eine Frau mit heller Haut, die sich offensichtlich wunderte, von einem Adligen wie ihm angesprochen worden zu sein. Entsprechend rot wurden ihre Wangen, aber sie deutete wortlos eine breite Straße entlang.
»Vielen Dank.«
Tai ließ die Frau stehen und wanderte den groben Kopfstein entlang. Es war das erste Mal, dass er als freier Mann in einer echten Stadt war, weswegen alles etwas befremdlich auf ihn wirkte. So viele Männer und Frauen mit verschiedenen Hautfarben und in verschiedener Kleidung eilten die Straße entlang, dass er sie gar nicht zählen konnte. Die Häuser wollten auch kein Ende nehmen. Er hatte nicht gewusst, dass Menschen etwas so Riesiges erbauen konnten. Wie mussten dann erst die Städte der Alten gewesen sein? Sirkel war im Vergleich dazu nur ein kleiner Kiesel.
Endlich erreichte Tai ein Gebäude, das ihm bekannt vorkam: Einen Stall. Wie zur Bestätigung erklang lautes Wiehern und Hufgeklapper aus den Fenstern. Kurzerhand klopfte Tai gegen die Tür, die bereits offen stand. Ein älterer Mann, vermutlich der Besitzer des Stalls, denn er trug ordentliche, saubere Kleidung, öffnete ihm. Seine einst schwarzen Haare waren an vielen Stellen bereits grau.
»Ich möchte gerne ein Pferd kaufen«, erklärte Tai und klimperte mit dem Geldbeutel, den er zuvor schon aus dem Rucksack geholt hatte.
»Wo hat ein Junge wie du so viel Geld her?«, fragte der Mann unwirsch. »Wenn du es jemandem geklaut hast, nehme ich es nicht.«
»Ich habe es geschenkt bekommen«, antwortete er. »Also, habt Ihr ein Pferd für mich? Ich muss eine weite Strecke durch die Einöde zurücklegen.«
»Moment.« Der Mann verschwand im Stall und tauchte kurz darauf mit zwei Pferden auf, die er an den Zügeln auf die Straße führte, damit Tai sie begutachten konnte. »Ein reinblütiger Araber«, erklärte er und deutete auf den weißen Hengst, der seinen Kopf immer wieder stolz zurückwarf. »Er heißt Shams. Sehr schnell und ausdauernd. Die Stute, Qasi, ist ein Mischling, aber sehr widerstandsfähig. Sie braucht wenig Wasser. Welches wollt Ihr haben?«
Tai brauchte nicht lange zu überlegen. Der weiße Hengst ähnelte dem, auf dem seine Mutter damals aus Burg Fedha geflohen war. Doch er wollte mit ihr nichts mehr zu tun haben, nicht mal mehr an sie denken. »Ich nehme die Stute«, sagte er. »Wie viel?«
»Mit Sattel und Zaumzeug?«
Er nickte.
»Hundert Münzen sollten reichen.«
Tai zählte zehn der Zehner-Münzen ab und reichte sie dem Mann, der ihm daraufhin die braune Stute überreichte. Er wollte den Hengst wieder in den Stall führen, doch Tai hielt ihn noch kurz auf. »Stimmt es, dass Marco der neue Bürgermeister ist?«, fragte er.
»Hm, ja. Kennt Ihr ihn?«
Belustigt stellte Tai fest, dass der Stallbesitzer plötzlich in die formelle Sprache gewechselt hatte. »Ich bin ein Freund einer seiner Freunde«, erklärte er. »Kann man ihm irgendwie ein Geschenk als Gruß überreichen? Ich weiß, man muss sich normalerweise anmelden, um eine Audienz mit ihm zu bekommen, aber so viel Zeit habe ich leider nicht. Ich habe es sehr eilig.«
»Hm, Ihr könntet es bei seiner Hausdame abgeben.«
Tai bedankte sich für diese wichtige Information und machte sich zusammen mit Qasi auf die Suche nach dem Haus des Bürgermeisters. Es dauerte nicht lange, bis er es gefunden hatte. Es war kaum zu übersehen zwischen all den heruntergekommenen Steinhäusern, wohingegen das wichtigste Gebäude der Stadt vollkommen unberührt von der Zeit wirkte. Er entdeckte eine kleine Seitentür, die wohl für die Diener vorbehalten war, und klopfte. Eine Frau mittleren Alters mit heller Haut und weißer Schürze öffnete ihm.
»Was wollt Ihr, Herr?«
»Würdet Ihr bitte ein Geschenk an den Bürgermeister übergeben?« Er holte eine kleine Metallschachtel heraus und reichte sie der Frau, die ihn verständnislos ansah.
»Aber... Ich weiß gar nicht, wer Ihr seid! Was ist dadrin?«
»Ihr könnt sie gerne öffnen.«
Die Frau schaute in die Schachtel und runzelte verwirrt die Stirn. »Ein Schal?«
»Ein Halstuch«, verbesserte Tai sie. »Sagt ihm, es ist ein Geschenk von Yueani.«
»Yueani?« Die Augen der Frau weiteten sich. Offenbar kannte sie sie. »Aber... Ich dachte...«
»Könnt Ihr das machen?«
Die Frau nickte wie wild.
Zufrieden drehte Tai sich um und machte sich auf die Suche nach einem Wirtshaus, wo er seine Wasserschläuche neu befüllen konnte. Um Marco brauchte er sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen. Soort hatte ihm versichert, dass die Erreger der Lepra-Mutation über einen Monat auf einem Stück Stoff wie seinem alten Halstuch überleben konnten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top