2. Kapitel

Der Knabe hüpft, der Jüngling stürmt einher,

Es kämpft der Mann, und alles will er wagen.

Friedrich von Schiller

Tai wurde noch vor Sonnenaufgang von Alina geweckt, die ohne anzuklopfen in sein Zimmer kam und ihn wach rüttelte.

»Du solltest früh aufbrechen, um schon am ersten Tag weit zu kommen«, flüsterte sie ihm zu und strich ihm liebevoll über die geflochtenen Haare. »Ich bin so stolz auf dich. Alles, wovon wir je geträumt haben, ist nun in deiner Hand! Ich weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst. Du bist mein Sohn.«

Normalerweise würde Tai sie umarmen, dankbar für die Liebe und Unterstützung, die sie ihm entgegen brachte, doch nicht heute. Er wich zurück, sodass ihre Hand ihn nicht mehr berührte. »Aber an wen soll ich mich wenden? Wo soll ich hingehen? Du hast gesagt, ich brauche Verbündete, aber du hast nie gesagt, wo ich sie finden werde.«

»Du wirst sie finden, wenn du anderen erzählst, wer du bist.« Sie lächelte ihn aufmunternd an. Die Falten um ihren Mund und ihre Augen passten so gar nicht zu einer Frau, die früher eine Königin gewesen war. »Nicht alle sind damit einverstanden, wie König Javet das Ostland regiert. Du musst nur an den richtigen Orten suchen.«

»Aber wo sind dieser Orte, Mutter?« Erschrocken bemerkte er, dass Alinas Lächeln erstarb. War ich zu drängend? Ich hatte meine Stimme nicht unter Kontrolle. Sie mag es nicht, wenn man so mit ihr spricht.

»Du warst schon immer ein kleiner Rebell«, sagte sie mit einer etwas kälteren, distanzierteren Stimme. »Du wirst andere Rebellen finden. Es gibt immer welche. Suche außerhalb der Städte. Und wenn du in den Städten suchst, dann suche auf der Straße.«

»Ich soll alleine in die Einöde gehen?« Allein beim Gedanken daran bekam er eine Gänsehaut.

Erstaunt bemerkte er, dass Alina nun unter ihre Schürze griff. Anscheinend gab es dort eine verborgene Tasche, aus der sie nun etwas herausholte. Es war ein langes Messer, das spitz zulief und an beiden Rändern geschärft war. Es funkelte und glänzte im Schein der Laterne, die auf seinem Nachttisch stand.

»Das ist ein Dolch, den ich einst einem der Händler abgekauft habe«, erklärte Alina im Flüsterton. »Es ist eine sehr gute Arbeit. Damu weiß nicht, dass ich ihn für so viel Geld gekauft habe, also behalte ihn versteckt, bis du Kimbilio verlassen hast.« Sie reichte ihm den Dolch mit dem Griff voraus. »Er wird dir helfen, wenn du auf Untiere triffst.«

Ehrfürchtig nahm Tai den Dolch und die Scheide entgegen, die seine Mutter ihm hinhielt. Die Waffe war erstaunlich leicht. Viel leichter als alle Messer, die sie in der Küche hatten. »Danke.« Er umarmte Alina, die ihm nun wieder über den Kopf strich.

»Ich glaube an dich, mein Sohn.«

»Und was ist mit Haifai?«, fragte Tai bedrückt. »Werdet ihr sie wirklich... einfach so mit einem Fremden verheiraten.«

»Trevor ist kein Fremder für sie«, beruhigte Alina ihn. »Haifai hat ihn oft genug gesehen, wenn sie im Dorf war, um Wasser zu holen. Er ist ein guter, junger Mann.«

»Aber sie ist auch die Tochter eines Königs«, meinte er. »Warum kommt sie nicht mit mir?«

Auf einmal wurde der Blick seiner Mutter hart. »Ihr Vater war im Gegensatz zu deinem ein Scheusal. Sie hat sein Temperament geerbt und kann ihre Wut nicht kontrollieren. Haifai ist zu hitzköpfig und unüberlegt. Sie wird nie eine Königin werden.«

Tai war etwas geschockt, solche Worte aus dem Mund seiner Mutter zu hören. Redet sie vor anderen auch so über mich? Er wusste zwar, dass Haifai nicht zu Alinas Lieblingen gehörte, aber dass sie so auf ihre eigene Tochter herabsah... Wenigstens scheint Haifai diesen Trevor zu kennen.

»Wir haben schon zu lange geredet.« Alina stand auf. »Zieh dich an und komm in die Küche wegen deines Proviants.« Dann verließ sie sein Zimmer.

Tai beeilte sich, seine beste und robusteste Kleidung anzuziehen. Die neuen Stiefel, die Alina ihm auf dem letzten Markt besorgt hatte, waren angeblich aus echtem Leder. Den Dolch versteckte er am Rücken hinter seinem Gürtel. Als er den Flur betrat, bemerkte er, dass ein schmaler Lichtstreifen vor ihm auf den Boden fiel. Er drehte den Kopf und sah, dass die Tür zum Zimmer seiner anderen Geschwister einen Spalt breit offen stand. Und in diesem Spalt entdeckte er Nyasis Gesicht. Mit einem Blick auf den Rest des Flures vergewisserte er sich, dass Damu noch schlief und Alina beschäftigt war, bevor er zu seiner Schwester ging. Erst jetzt bemerkte er, dass Tränen in ihren dunklen Augen standen.

»Tai«, schniefte sie. »Ich möchte nicht, dass du gehst.«

»Alles wird gut.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich weiß, was ich zu tun habe.«

»Sakafu hat gesagt, dass es südlich von hier ein Dorf gibt, in dem du unterkommen kannst.« Sie schniefte wieder. »Ich möchte nicht, dass du gehst.«

»Tai, kommst du?«, rief im selben Moment Alina aus der Küche.

Tai strich Nyasi schnell eine ihrer gelockten schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Mutter ruft nach mir. Ich muss den Proviant zusammenpacken.«

Seine Schwester verzog das Gesicht. Es sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen, aber es musste jetzt gehen. Wenn Alina Nyasi erwischte, würde sie Ärger bekommen, denn eigentlich durften sie erst aufstehen und sich fertig machen, wenn die Sonne schon aufgegangen und es Zeit für die Arbeit war. Wer früher aufstand, hatte sich am vorherigen Tag scheinbar nicht genug angestrengt.

In der Küche hatte Alina bereits den Maisbrei aus der Schüssel entfernt und in Maisfladen eingewickelt. Sie war gerade dabei, noch weitere Maisfladen in Tücher zu wickeln, als Tai eintraf. »Du kannst schonmal Wasser in deinen Wasserschlauch füllen«, sagte sie ohne aufzusehen. Also nahm Tai seinen Wasserschlauch von dem Haken an der Wand und ging hinüber zum großen Fass.

Einige Zeit später hatte er alles, was er für die Reise brauchte, fertig. Das Essen packte er in einen Beutel, den er bequem über der Schulter tragen konnte. Den Wasserschlauch befestigte er am Gürtel und überprüfte nochmal, dass der Dolch, den seine Mutter ihm gegeben hatte, nicht zu sehen war. Allmählich spürte er die Aufregung, die in ihm aufstieg.

Ich werde ganz alleine in der Einöde sein, fuhr es ihm durch den Kopf. Nur auf mich gestellt. Vielleicht ist es wirklich eine gute Idee, bei diesem Dorf südlich von hier Halt zu machen, von dem Nyasi gesprochen hat.

»Bist du bereit?«, ertönte Damus Stimme aus Richtung des Flures. Er stand im Türrahmen und musterte seinen Stiefsohn mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Ja«, antwortete Tai mit fester Stimme.

Damu nickte nur und setzte sich dann an den Tisch, auf dem Alina bereits das Frühstück aufgestellt hatte. Ohne ein weiteres Wort begann er zu essen. Leicht verärgert verließ Tai die Küche. Ich hätte keine große Verabschiedung von ihm erwarten dürfen. Umso glücklicher war er, dass Haifai, Sakafu und Nyasi ihm entgegen kamen. Seine jüngste Schwester stürzte sich sofort in eine Umarmung. Ihre Wangen waren feucht von den Tränen, die sie vergossen hatte.

»Ich will nicht, dass du gehst«, schniefte sie wieder.

Vorsichtig löste Tai ihre Umarmung und hielt sie an den Schultern fest, sah ihr fest in die dunklen Augen. »Ich verspreche dir, dass ich nicht für immer fort sein werde. Du wirst noch von mir hören.«

»Wirst du uns besuchen kommen?« Sie blinzelte ihn hoffnungsvoll an.

Er lächelte. »Das hoffe ich doch.«

Nyasi nickte und wischte sich eine der letzten Tränen fort, während sie zurücktrat. Sakafu ergriff ihn nur am Unterarm, zog ihn zu sich und klopfte ihm auf den Rücken. »Du schaffst das, Mann«, sagte er leise. »Südlich von hier gibt es ein Dorf namens Mbadala. Wenn du sagst, dass du mein Bruder bist, wird sich auf jeden Fall eine Arbeitsstelle für dich finden.« Er ließ ihn los, ein leichtes Grinsen und eine verräterische Röte im Gesicht. »Es gibt hübsche Mädchen da.«

Tai schmunzelte belustigt. Ich verstehe.

Zuletzt wandte er sich Haifai zu, deren pechschwarze Augen keinen Hauch ihrer Gedanken oder Gefühle verrieten. Sie gab ihm eine kurze Umarmung, bevor sie ihn wieder losließ und in die Küche verschwand. Verwundert sah er ihr nach. Nahm sie es ihm übel, dass er rausgeschmissen wurde, sie aber jemanden aus dem Dorf heiraten musste? Er hätte, wenn er ehrlich war, liebend gerne mit ihr getauscht. Doch er hatte etwas zu tun.

Ein letztes Mal lächelte er Sakafu und Nyasi zu und öffnete dann die Tür nach draußen. Als er am Zaun angekommen war, hörte er noch Schritte hinter sich. Er drehte sich um in der Hoffnung, Haifai zu sehen, doch es war nur Alina.

»Es fällt mir so schwer, dich gehen zu lassen, mein Sohn.« Ihre Stimme klang leicht erstickt, während sie ihn ein letztes Mal umarmte. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Ich weiß, dass du ein wunderbarer König sein wirst. Handle entschlossen und doch mit Bedacht und du wirst dein Ziel erreichen. Denk daran, wer dein Vater ist. Er hätte beinahe ein neues Land für seine Familie erobert.«

»Ich weiß, Mutter.« Tai umarmte sie ebenfalls. Es würde wahrscheinlich sehr lange dauern, bis er sie wiedersehen würde. »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Und was du mir beigebracht hast.« Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass seine Sicht leicht verschwommen war. Schnell blinzelte er die Tränen weg. »Ich werde als König zu euch zurückkommen.«

»Ja, das wirst du.« Ihre Augen leuchteten, als sie zurücktrat. »Denn du bist mein Sohn.« Sie winkte ihm zu, während er dem Weg an den Feldern entlang folgte, der hinein in die Einöde führte.

Es war erst früher Morgen und die Luft war noch kühl von der Nacht. Bestimmt konnte er ein gutes Stück des Weges nach Mbadala zurücklegen, bevor es zu heiß wurde. Mit jedem Schritt entfernte er sich weiter von seinem Zuhause und kam seinem Schicksal näher. Der Weg wurde immer unordentlicher, bis er nicht mehr aus aufgeschüttetem Kies, sondern aus körnigem Sand bestand. Er war bisher nur ein einziges Mal hier gewesen. Damals war es eine Mutprobe zwischen ihm und Sakafu gewesen, doch sie beide hatten Ärger von Damu bekommen – er selbst natürlich mehr als sein Bruder. Zu viele Untiere trieben sich in der Nähe der Felder herum, da sie die Nahrung witterten und das kostbare Wasser spürten. Sie hätten leicht von einem von ihnen angegriffen werden können. Nur hinter dem Metallzaun mit den dicht stehenden Stangen, die oben scharfe Spitzen hatten, war es sicher.

Und genau dieser Zaun war nun zu Ende. Tai zögerte und sah zur Seite, wo die letzten, mickrigen Maispflanzen wuchsen, die meistens zu wenig Wasser abbekamen. Ihre Blätter waren gelblich und mussten dringend entfernt werden. Man verschwendete kein Wasser für abgestorbene Pflanzenteile.

Ich schaffe das, sprach er sich Mut zu. Mutter glaubt an mich. Ich sollte auch an mich glauben.

Er nahm einen tiefen Atemzug und betrat die Einöde, die sich hinter dem Zaun in die scheinbare Unendlichkeit erstreckte. Für einen kurzen Moment war ihm schwindelig angesichts der toten Landschaft, in der es weit und breit kaum Leben gab. Die einzigen, die dort überleben konnten, waren Untiere und vielleicht einige Menschen, die sich weigerten, in einer der Städte zu leben. Alina hatte ihm von Stämmen nördlich von Ngome erzählt, die wie Wilde in der Einöde hausten. Und auch an anderen Stellen des Ostlands gab es kleinere Gruppen, die irgendwie in der Einöde überleben konnten.

Vielleicht treffe ich einen Wasserhändler, dachte Tai hoffnungsvoll, während er sich nach Süden wandte.

Bald schon waren die letzten Felder von Kimbilio hinter ihm verschwunden. Um ihn herum gab es nur Sand, Sand und Sand, so weit das Auge reichte. In einiger Entfernung erblickte er so etwas wie eine Klippe, die sich als steile Felswand in den Himmel erhob. Vielleicht würde er dort einen schattigen Platz finden, wo er sich vor der Hitze der Mittagszeit verstecken konnte. Zu dumm, dass ich nicht weiß, ob Mbadala sich unter- oder oberhalb der Klippe befindet. Aber wahrscheinlich unterhalb. Sonst wäre Sakafu nie da gewesen, um diese hübschen Mädchen zu sehen. Ich muss also nur an der Felswand entlang gehen und werde dann irgendwann auf das Dorf stoßen.

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