16. Kapitel

Überleben ist ein Privileg, das verpflichtet. Ich habe mich immer wieder gefragt, was ich für die tun kann, die nicht überlebt haben.

Simon Wiesenthal

Die Tage verschwammen ineinander. Zwar gab es mehrere Stunden, in denen die Sonne nicht am Himmel stand und es Nacht war, aber für Tais Geschmack waren es zu wenige. Unermüdlich schöpften er und Yueani das Wasser aus dem Großen Reservoir in die Wanne. Unermüdlich zermarterte er sich den Kopf über einen Fluchtweg, doch es war hoffnungslos. Fast jeden Tag versuchte einer der Arbeiter zu fliehen und wurde von einem der Aufseher sofort erschossen. Ab und zu kamen neue Strahlenkranke von den Plattformen, die dann die gleiche Einführung bekamen wie Tai und Yueani vor einiger Zeit.

Ein Mal hatte Tai versucht, mit einem der Wasserträger zu reden. Offensichtlich hatten sie mehr Bewegungsfreiheit und könnten den anderen Arbeitern vielleicht Nachrichten überbringen, aber der Mann reagierte nicht auf ihn. Allmählich begriff er, dass die Angst vor einer Bestrafung stärker war als die Hoffnung auf eine Flucht.

Das Geschwür an seinem Hals hatte sich mittlerweile ausgeweitet bis zu seinen Schlüsselbeinen. Er musste sich zusammenreißen, um nicht andauernd daran zu kratzen. Viele andere taten das, doch das bewirkte nur, dass die Haut aufriss und zu nässen und eitern anfing. Um sich vor sich selbst zu schützen hatte er den Stofffetzen so um den Hals geknotet, dass er nicht rankam ohne den Knoten zu lösen. Yueani hatte ihn dabei beobachtet und vermied es seitdem, ihn oder Gegenstände, die er in der Hand gehabt hatte, zu berühren. Er konnte es ihr nicht verübeln.

»Du kannst nicht schwimmen, oder?«, fragte sie ihn eines Abends – wobei Abend bedeutete, dass die Arbeit für heute beendet war und sie ihr Essen bekamen.

Tai schüttelte den Kopf und folgte ihrem Blick hinaus auf die Weite des Wasserreservoirs. Die Idee, sich einfach ins Wasser zu stürzen und versuchen, von hier weg zu schwimmen, war ihm auch schon gekommen. Nur konnte er nicht schwimmen. Wo sollte er es auch gelernt haben?

Yueani seufzte frustriert. »Ich auch nicht.« Eine Weile schwieg sie. »Es gibt wirklich keinen Ausweg, oder?« Sie massierte ihren linken Ringfinger, an dem früher ihr Ehering gewesen war. Sie hatte gesagt, er wäre ihr vom Finger gerutscht, aber Tai hatte genau gesehen, dass sie ihn absichtlich abgenommen und ins Wasser geschmissen hatte.

»Bestimmt fällt uns noch etwas ein«, versuchte er sie zu trösten.

»Du lügst nicht nur mich, sondern auch dich selber an«, sagte Yueani und runzelte die Stirn. »Es gibt keinen Ausweg. Nur Jamjama.«

In dieser Nacht hatte Tai einen sehr unruhigen Schlaf. Er träumte von einer Horde Strahlenkranker, die über ihn herfielen. Wo sie ihn berührten, zerfiel seine Haut zu Staub und über all dem schwebte Kifo in der Luft, lachend und mit den Händen wedelnd. Er rief etwas Unverständliches und schleuderte ihm dann eine Glasphiole entgegen, die klirrend an seinem Kopf zersprang. Schwer atmend fuhr Tai aus dem Schlaf hoch, doch das Klirren hatte nicht aufgehört.

Entsetzt sah er zu Yueani hinüber, die am ganzen Leib zitterte. Die schweren Ketten an ihren Händen prallten immer wieder gegeneinander und der Goldschmuck an ihren Knöcheln gegen den Stein. Sie hatte die Augen verdreht, der Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet.

Sofort war Tai an ihrer Seite und versuchte, ihre Arme und Beine festzuhalten. Dabei achtete er darauf, nur den Stoff und nicht ihre Haut zu berühren, aber sie zuckte so stark hin und her, dass das bald unmöglich war. Verzweifelt hielt er seine Hand unter ihren Kopf, der bereits leicht blutete, weil er bei jedem Krampf gegen den Stein stieß. Dann war es vorbei. Ihre Muskeln erschlafften und sie lag so ruhig da als würde sie schlafen. Hastig überprüfte Tai, ob sie atmete und ihr Herz noch schlug, bevor er sich zurückzog. Er wollte gerade erleichtert ausatmen, als eine Gestalt aus der Dunkelheit trat.

»Was ist mit ihr?«, knurrte Harry, die Hand bereits auf einer Schlossole an seinem Gürtel.

»Nichts«, antwortete Tai schnell. »Sie hatte nur einen Albtraum.«

»Wirklich? Sah für mich nicht so aus.« Der Mann in Grün trat an Yueani heran und stieß ihr seinen Stiefel in die Seite. »Du, wach auf!«

»Sie schläft immer sehr tief. Sie wird nicht...«

»Du hältst die Klappe!« Harry trat die junge Frau erneut, doch sie regte sich nicht. »Ich habe so etwas schon gesehen. In einigen Wochen wird sie nicht mehr vernünftig arbeiten können. Man hätte sie sofort nach Jamjama schicken sollen.«

»Nein!« Tai sprang auf und wollte sich schützend vor Yueani stellen, wich jedoch zurück, als der Aufseher seine Schlossole auf ihn richtete. Flehend legte er die Hände zusammen. »Bitte! Sie kann noch arbeiten! Vielleicht sogar länger als eine Woche! Ihr dürft sie nicht einfach im Schlaf töten!«

»Wer bist du, dass du mir sagst, was ich darf und was nicht«, blaffte Harry, ließ die Waffe aber sinken. »Na gut. Ich werde euch genau im Auge behalten! Wenn das während ihrer Arbeit passiert, war es das.«

Tai wartete, bis der Aufseher sich entfernt hatte, bevor er zu Yueani stürzte und sie leicht an den Schultern rüttelte. Wie erwartet reagierte sie nicht. Nur ihre Augenlider flatterten. Du musst durchhalten! Nicht aufgeben! Wir werden hier rauskommen! Er blieb bei ihr bis die Sonne aufging und die ersten Arbeiter sich regten. Bald würden sie ihre Schöpfeimer und Tragestangen in die Hand nehmen müssen und Yueani war immer noch nicht aufgewacht.

»An die Arbeit!«, ertönten schließlich die Rufe der Aufseher. »Alle an die Arbeit! Nicht zögern, machen!«

»Yueani!« Tai schüttelte sie, dieses Mal kräftiger. Er warf einen Blick zu Harry, der sie aufmerksam beobachtete. »Yueani! Bitte, wach auf!«

Endlich öffnete sie ihre Augen und zuckte zurück, als sie ihn so nah bei sich sitzen sah. »Was soll das?« Sofort verzerrte sie das Gesicht vor Schmerzen und griff sich an den Kopf. »Es tut so weh...«

»Du musst durchhalten!« Er packte ihren Schöpfeimer und drückte sie ihr in die Hand. »Du hattest diese Nacht einen Anfall. Harry hätte dich fast getötet. Du musst arbeiten, um ihm zu beweisen, dass du noch nicht bereit bist, nach Jamjama zu gehen.«

Yueanis Augen weiteten sich. Ihre Finger schlossen sich um den Griff des Eimers und sie zwang sich in Richtung Ufer, wo sie ihn mit zitternden Händen ins Wasser tauchte. Tai holte schnell sein eigenes Werkzeug und eilte an ihre Seite. »Du musst durchhalten«, flüsterte er ihr zu. »Wenigstens bis zum Essen.«

»Ich... Ich kann nicht.«

Voller Schrecken sah Tai, wie der Eimer ihren Fingern entglitt. Ihr ganzer Oberkörper kippte nach hinten und krümmte sich, während ihre Arme und Beine wieder anfingen, unkontrolliert zu zittern.

Nein! Tai stürzte zu ihr, nahm ihre Hand und drückte sie. Tränen standen in seinen Augen und er bemerkte, dass es in ihren ebenfalls glitzerte, bis sie sich zum Weißen verdrehten. Ein unartikuliertes Röcheln drang aus ihrer Kehle. Verzweifelt beugte Tai sich über sie. Versuchte, sie festzuhalten, den Blick auf sie zu versperren, doch es brachte nichts. Wie ein grollender Sandsturm tauchte Harry vor ihnen auf.

»Ich habe gesagt, dass es aus mit ihr ist«, sagte er.

»Nein! Gib ihr etwas Zeit! Bitte! Bitte!« Tai rührte sich nicht vom Fleck, als der Aufseher die Schlossole auf ihn richtete.

»Geh zur Seite.«

»Nein!«

Harry seufzte und winkte zwei Männer in Schwarz zu sich. Sie packten Tai an den Armen und zerrten ihn von Yueani weg. »Nein!«, kreischte er. Trat wild verzweifelt um sich, biss und kratzte. Einer der Männer fluchte, doch sie ließen nicht los. Dann kam der laute Knall. »Nein!« Sein Schrei klang nicht mehr menschlich. Die beiden Wächter warfen ihn zu Boden, wo er sofort wieder aufsprang und zu Yueani stürzte. Sie lag vollkommen reglos. Ein kleines, rundes Loch klaffte in ihrer Stirn, aus dem stetig rotes Blut quoll. Er schrie und schrie, bis er heiser war, beugte sich über sie, um sie zu umarmen und wurde sogleich von ihr weggerissen.

»Wie könnt ihr das tun?« Die Tränen vernebelten seine Sicht. Nur undeutlich erkannte er Harry, der zwei Männern befahl, Yueanis Leiche wegzutragen. »Ihr herzlosen Monster! Warum?« Irgendwie schaffte er es, sich von den Männern in Schwarz loszureißen. Wütend und verzweifelt zugleich ging er auf Harry los, traf ihn am Oberkörper und griff mit der anderen Hand nach einer der Schlossolen.

»Haltet ihn!«, rief jemand.

Tai riss Harry die Schlossole vom Gürtel und richtete sie auf den Aufseher. Er musste nur den Hebel betätigen. Das hatte er schon oft genug gesehen. Ein lauter Knall ertönte, dessen Erschütterung seinen ganzen Arm hinauf lief. Schreie. Harrys linke Gesichtshälfte explodierte in einem Schauer aus Blut, Knochensplittern und Hirnmasse. Der Rest seines Körpers fiel leblos zu Boden. Gleichzeitig riss Tai die Schlossole hoch und legte ihre Öffnung an seine linke Schulter.

Der einzige Ausweg ist Jamjama, dachte er und drückte ab.

Nichts passierte.

Im nächsten Moment traf ihn etwas mit voller Wucht in den Rücken. Es fühlte sich an, als würde sein Körper in zwei Teile gebrochen werden. Schneidende, unerträgliche Schmerzen flammten auf. Er schrie, wurde nach vorne geschleudert und traf mit dem Kopf auf harten Stein. Etwas Warmes, das sein Hemd tränkte, war das letzte, was er spürte, bevor alles um ihn herum in eine tiefe Schwärze getaucht wurde.

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O.o

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