10. Kapitel
Gerücht ist eine Pfeife,
Die Argwohn, Eifersucht, Vermutung bläst,
Und von so leichtem Griffe, daß sogar
Das Ungeheuer mit zahllosen Köpfen,
Die immer streit'ge, wandelbare Menge,
Drauf spielen kann.
William Shakespeare
Alle Laternen im Thronsaal von Burg Fedha waren entzündet und warfen ihr warmes Licht auf die anwesenden Menschen. Links und rechts des roten Teppichs standen einige Garderitter, gekleidet in Kleidung, die zum größten Teil aus Eisen bestand und doch keine Rüstung war. An ihrer bronzefarbenen Haut erkannte man sie als Höllenmenschen, jene Gruppe von Leuten, die König Javet einst aus dem Totenland gerettet hatte. Ganz vorne, am Fuß der Treppe, stand eine solche Höllenfrau. Ihre wachsamen Augen schweiften, verborgen im Schatten des Helms, über die Menge, die vor den Toren des Saals darauf wartete, von den Garderittern eingelassen zu werden. Unter ihrem strengen Blick wagte keiner von ihnen, sich vorzudrängeln.
Die Frau wurde kurz abgelenkt von zwei Garderittern, die zu ihr traten. Der größere von ihnen, offenbar ein Mann, beugte sich leicht zu ihr vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Daraufhin verdüsterte sich ihr Blick. Mit einer beiläufigen Handbewegung bedeutete sie den beiden, beiseite zu treten. Dabei wurde die große Lücke zwischen dem Daumen und Ringfinger ihrer rechten Hand sichtbar, wo früher wohl der Zeige- und Mittelfinger gewesen waren.
»König Javet des Ostlandes und seine geliebte Königin Rafaga!«, verkündete im selben Moment jemand mit lauter Stimme. Vor den Toren kam es zu einem kleinen Tumult, doch schließlich schaffte es eine Gruppe von Garderittern, den König und seine Frau in den Thronsaal zu eskortieren.
König Javet sah nicht gut aus. Er schwankte zwar nicht, doch sein Gang war langsam und schleppend. Unter seinem rechten Auge befand sich ein fast vollkommen schwarzer Ring, das andere wurde durch eine Augenklappe verdeckt. Die schlichte, silberne Krone auf seinem Kopf saß etwas schief. Königin Rafaga neben ihm wirkte nicht weniger besorgt als die Höllenfrau, die am Fuß der Treppe stand. Der König blieb kurz neben ihr stehen.
»Ich habe heute nicht die Kraft, um mir alle Bitten anzuhören«, flüsterte er ihr zu. »Annie lässt mich nicht in Ruhe, verstehst du, Estrella? Sie möchte, dass ich sie nicht vergesse.«
Die Höllenfrau spannte sich an. »Ich werde die anderen Bittsteller dann hinausführen, wenn du es nicht mehr aushältst.«
»Ich danke dir.« Sein gesundes, rechtes Auge richtete sich auf etwas hinter Estrella, doch er schüttelte unwillig den Kopf und stieg die Stufen zum Thron hinauf. Rafaga folgte ihm und blieb neben ihm stehen, als er sich auf dem silbernen Sitz niederließ. Seine behandschuhten Hände klammerten sich um die Armlehnen und sein müdes Auge schaute den roten Teppich entlang bis zur wartenden Menschenmenge.
Auf sein Nicken hin wurde der erste Bittsteller in den Thronsaal gelassen. Es war offensichtlich ein Südländer. Seine Haut war etwas dunkler als die der Höllenmenschen, doch seine Haare genauso schwarz. Er hatte sie zu einem festen Knoten nach hinten gebunden. In einiger Entfernung zur Treppe blieb er stehen, verbeugte sich tief und hielt dabei eine Kiste vor sich. Sie war aus Holz, in das filigrane und detailreiche Muster geschnitzt worden waren.
»König Aswad des Südlandes möchte Euch dieses bescheidene Geschenk überreichen als Zeichen seiner Freundschaft und seines Respekts Euch gegenüber«, sprach der Mann. »In der Holzschatulle befinden sich Kämme und Kopfschmuck aus Gold und Achat für Eure Königin. Alle hergestellt von den besten Schmieden Qaleas.«
Estrella trat vor, ignorierte den verärgerten Blick des Südländers und öffnete die Schatulle. Darin lagen tatsächlich, auf einem Samtkissen aufgebettet, zwei goldene Kämme sowie Ketten und komplizierte Spangen mit kunstvollen Verzierungen. Sie schloss die Schatulle wieder und nickte dem König zu.
»Überbringt König Aswad meinen Dank«, sagte Javet daraufhin und entließ den Südländer mit einem Winken, der die Schatulle einem der wartenden Diener übergab, bevor er den Thronsaal verließ.
Als nächstes trat ein älterer Mann zusammen mit einem jüngeren vor, der offensichtlich sein Sohn war. Beide hatten die dunkle Haut der adligen Ostländer und zeigten ihren Reichtum zusätzlich noch mit ihrer prachtvollen, teuren Kleidung. Sie blieben stehen und verneigten sich, woraufhin der ältere von ihnen zu reden anfing.
»Ich grüße Euch, König Javet. Mein Name ist Kiburi. Ich bin der Stadthalter von Vito, unserer wundervollen Juwelenstadt. Ich möchte Euch meinen Sohn Almasi vorstellen.« Auf die Erwähnung seines Namens hin trat dieser vor und verbeugte sich nochmal. »Wir sind eine respektable Familie. Schon seit fünf Generationen verwalten wir Vito und sehen das als unsere größte Pflicht in Eurem Dienste an. Mein Sohn ist ein schlauer und fleißiger Bursche, der sich nicht nur auf Diplomatie und Verwaltung, sondern auch aufs Handwerk versteht. Ich hätte ihn als meinen Nachfolger vorgezogen, doch er ist nicht mein ältester. Seine Fähigkeiten sollten aber nicht unbeachtet bleiben, wie ich finde.«
Kiburi legte eine kurze Pause ein und versuchte, Javets Gesichtsausdruck zu entschlüsseln, was ihm jedoch nicht gelang, also fuhr er fort: »Ich habe gehört, dass Prinzessin Broda immer noch unverheiratet ist. Sie müsste etwa im Alter meines Sohnes sein. Sicher wird sie es wertschätzen, einen so tüchtigen und starken Mann an ihrer Seite zu haben.«
»Nein.« Javets Stimme war kalt und unerbitterlich.
Kiburi riss protestierend den Mund auf, besann sich dann jedoch eines Besseren und verneigte sich gehorsam. »Darf ich fragen, welcher Aspekt meines Sohnes die Prinzessin nicht erfreut hätte?«
»Der Aspekt, dass sie sich ihren Ehemann selber aussuchen möchte«, entgegnete der König. »Außerdem bin ich nicht erfreut über Eure Anwesenheit. Geht nun.«
Der Stadthalter zupfte seinen Sohn am Ärmel und die beiden verschwanden schnell aus dem Thronsaal. An ihrer Stelle kam jetzt eine adlige Ostländerin den Teppich entlang. Sie blieb stehen, verneigte sich und blickte dann mit stechenden, dunklen Augen zu Javet hoch. Rafaga an seiner Seite legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, denn seine Finger krallten sich noch fester in die Armlehnen des Throns.
»Ihr kommt nun schon zum vierten Mal, Tajiri!«, grollte er.
»Und ich werde so oft kommen wie es nötig ist, um meine Häuser zurückzubekommen!« Der rote Stoff ihres Kleids spannte sich, als sie ihr Gewicht verlagerte und ihre Fettwülste sich auf und ab bewegten. Sie stemmte eine Hand in die Hüften, während sie mit der anderen wild gestikulierte. »Die Höllenmenschen vermehren sich wie Untiere! Ich werde es nicht dulden, dass sie weiterhin meine Häuser blockieren, während die wahren Ostländer in billigen Buden hocken müssen!«
»Laut Gesetz sind die Menschen aus Hölle genauso Bürger des Ostlandes wie Ihr, werte Tajiri«, meldete sich ein schlanker Mann mit den Gesichtszügen eines Westländers zu Wort. Er stand hinter der Reihe der Garderitter, trat nun jedoch vor.
»Von dir lasse ich mir nicht sagen, elender Berater«, spuckte die Frau aus. »Du bist ein Westländer! Natürlich hast du kein Interesse am Wohlergehen der echten Ostländer!« Sie deutete anklagend mit dem Finger auf den König, woraufhin Estrella wachsam ihre Hand auf den Griff ihrer Waffe legte. »Ihr seid an allem Schuld! Ihr habt diese verseuchten Menschen hierher gebracht! Sie gehören hier nicht hin! Ich möchte, dass Ihr mindestens die Hälfte von ihnen aus Ngome vertreibt und in anderen Städten ansiedelt!«
»Stimmt es, dass Ihr einen Eurer Söhne vor Kurzem mit einer Höllenfrau im Bett erwischt habt?«, fragte der Berater auf einmal. Seine Stimme war ruhig und gefasst, sein Gesicht zeigte keine Regung. »Lässt sich damit vielleicht Eurer plötzlicher Hass auf die Menschen aus Hölle erklären? Er war einer anderen Adligen versprochen, nicht wahr? Wie unglücklich, dass er sich ausgerechnet in eine Höllenfrau verliebt hat.«
Tajiri ballte vor Wut die Fäuste. »Das hat damit nichts zu tun!«
»Soweit ich weiß, hättet Ihr von der Familie der Adligen eine beachtliche Mitgift bekommen, wenn die Ehe zustande gekommen wäre«, fuhr der Berater fort. »Und über die hättet Ihr Euch sehr gefreut. Habe ich recht?«
»Genug, Qing Xin«, fuhr nun König Javet dazwischen. Der Berater nickte ihm respektvoll zu und trat zurück, während Tajiri weiterhin vor Wut schäumte.
»Ich will, dass diese Höllenmenschen aus meinen Häusern verschwinden!«, keifte sie.
»Ihr solltet ihnen dankbar sein, denn sie haben dabei geholfen, das Ostland aus den Fängen des Südlands zu befreien«, wandte Javet sich an sie. Langsam stand er auf, musste sich aber kurz am Thron festhalten, bevor er fest auf beiden Beinen stand. Dann ging er langsam die Treppenstufen hinab. Tajiri wich nicht zurück, starrte ihn nur erhobenen Kopfes wütend an. Direkt vor ihr blieb er stehen, musterte sie eine Weile und sagte schließlich: »Tötet sie.«
Die Garderitter an beiden Seiten des Teppichs wirkten verwundert und sahen hilfesuchend zu Estrella, die jedoch zögerte. Die Menschen, die noch vor den Toren warteten, waren allesamt verstummt.
»Tajiri ist eine der angesehensten und wohlhabendsten Adligen in Ngome«, hob Qing Xin vorsichtig an. »Es wäre nicht klug, sie zu töten. Ihr könntet stattdessen einen Teil ihres Geldes als Strafe verlangen.«
Alles war wie erstarrt. Tajiri hatte die ohnehin schon großen Augen noch weiter aufgerissen und wagte es nicht mal zu blinzeln. Es hing eine fast fühlbare Anspannung in der Luft. Die Stille wurde nur durchbrochen von Rafagas Stiefeln, die auf den Stufen der Treppe klackerten. Sie stellte sich neben den König und legte ihm beruhigend die Hände auf die Schultern.
»Diese Frau verdient den Tod nicht, Javet«, flüsterte sie ihm zu. »Sei barmherzig. Sie weiß jetzt, dass sie eine Grenze überschritten hat, und wird hier nie wieder auftauchen.«
Tajiri nickte wild mit dem Kopf, wobei ihr Doppelkinn mehrmals hin und her wabbelte.
»Sie ist ein Risiko«, presste Javet hervor. »Sie muss weg, bevor sie jemandem schaden kann. Vielleicht hat sie das sogar schon.«
»Nein!« Tajiri ließ sich auf die Knie fallen. Dabei riss ihr rotes Kleid am Rücken ein Stück auf und wurde nur noch von einigen sehr starken Fäden zusammengehalten. Flehend sah sie zu dem König auf. »Ich habe nichts getan! Bitte! Hört auf eure Königin!«
»Meine Königin...« Plötzlich wirkte Javet tief in Gedanken versunken. Sein Kopf ruckte zur Seite und sein Blick richtete sich auf etwas, was nicht da war. »Sie sagt, Ihr müsst sterben.«
»Nein! Nein, das hat sie nicht gesagt! Königin Rafaga!« Tajiri blickte hilfesuchend zu der Frau des Königs hinüber, doch bevor diese etwas sagen konnte, schüttelte Javet ihre Hände ab und schritt an der Adligen vorbei. Dort blieb er stehen und hob eine Hand in die Luft, die etwas Unsichtbares umgriff.
Estrella wechselte einen alarmierten Blick mit Rafaga. Die Königin nickte, woraufhin die Höllenfrau laut verkündete: »Die Audienz beim König ist beendet! Alle Bittsteller sollen die Burg jetzt verlassen!«
Protestierende Rufe wurden laut, doch die Menschen vor dem Tor wurden ohne Ausnahme von den Garderittern zurückgedrängt. Auch Tajiri wurde darum gebeten, den Thronsaal zu verlassen.
»Was soll das?«, beschwerte sie sich als hätte sie vergessen, in welcher Gefahr sie eben noch geschwebt hatte. Ihr stechender Blick richtete sich auf den König, der scheinbar mit sich selbst redete. »Warum führt ihr mich nach draußen? Ich war noch nicht fertig!«
»Die Audienz ist beendet«, erklärte Estrella streng.
»Warum? Weil der König plötzlich an Wahnvorstellungen leidet?« Tajiri lachte auf. »Also stimmen die Gerüchte? König Javet ist verrückt geworden?« Zwei Garderitter packten sie an den Armen und führten sie mit Gewalt aus dem Thronsaal. »Alle werden es erfahren! Das wisst ihr doch sicher, oder? Ich werde es allen erzählen! Mal schauen, ob dann einer auf den Thron kommt, der wirklich Wert auf das Wohlergehen seiner Untertanen legt!«
Ihr Lachen und Rufen verklang im Flur, während Rafaga zu Javet eilte und beruhigend auf ihn einredete. Wieder traten zwei Garderitter zu Estrella.
»Was sollen wir tun?«, fragte der größere von ihnen auf einer anderen Sprache. »Diese Tratschtante wird dafür sorgen, dass bald das ganze Ostland von seinem Zustand weiß.«
»Nichts, Aguarde«, antwortete Estrella ernst. »Wenn wir etwas dagegen unternehmen, wird das Volk denken, dass diese Gerüchte stimmen. So zweifeln vielleicht mehr daran. Immerhin ist es allgemein bekannt, dass Tajiri nicht gut auf Javet zu sprechen ist.«
»Und was, wenn man ihr doch glaubt?«, fragte der andere Garderitter. »Auch die Leute vor den Toren haben gesehen, dass er mit der Luft geredet hat.«
Estrella schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Wenn es zum Schlimmsten kommt, müssen wir Javet dazu bringen, vom königlichen Balkon aus zum Volk zu sprechen. Aber ich weiß nicht, ob er das schafft ohne dass es so endet wie heute.« Sie runzelte die Stirn. »Jemand muss mit ihm reden. So geht das nicht weiter.«
»Aber er vertraut niemandem seiner Heiler«, wandte Aguarde ein. »Nicht mal Bisturí, die damals sein Auge versorgt hat.«
»Dann brauchen wir jemand anderen«, bestimmte Estrella und nickte ihnen zu. »Ich rede mit der Königin.«
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