Prolog

Mutter, aus der Fremde kehre

elend ich zu dir zurück.

Hab verloren Herz und Ehre

und verloren Gold und Glück.

Klabund

Das Dorf war nur eine Ansammlung heruntergekommener Hütten, die Wände aus hastig aufeinander gestapelten Steinen, die Dächer aus zurechtgebogenem Blech. Während die Frau den staubbedeckten Weg zum Torbogen stolperte, fiel sie mehrmals fast hin. Ihre Hände zitterten, ein leichtes Flimmern schien über ihre Haut zu wandern und verschwand erst, als sie die Fäuste ballte. Getrocknetes Blut klebte an ihrer Schulter und an ihrem schmutzigen Kleid. Selbst die Leinentücher, in die das Kind in ihren Armen gewickelt war, waren an einigen Stellen vom roten Lebenssaft befleckt.

Das Kind war noch nicht so alt, höchstens zwei Jahre, die dunkle Haut ein starker Kontrast zu der hellen der Frau. Sie hatte es fest an ihre Brust gepresst. Auch dann, als sie den steinernen Torbogen erreichte und neben ihm zusammenbrach. Ihre abgenutzten Schuhe scharrten über den groben Kies, während sie das Kind schwach hin und her wiegte und hochschaute. In ihren blauen Augen spiegelte sich der gleichfarbige, wolkenlose Himmel.

»Die alte Jenny hatte recht«, flüsterte die Frau leise und hustete, wobei ihr ein roter Blutfaden von den Lippen tropfte. »Die Strahlenkranken haben im Grenzland eigene Dörfer errichtet. Du bist gerettet, Javet, hörst du?« Dann flackerte ihr Blick und ihr Kopf sackte zur Seite. Nur das Heben und Senken ihrer Brust zeigte, dass sie noch lebte.

Die Nacht brach herein. Hell funkelten die Sterne am düsteren Nachthimmel, wie wachsame Augen unbekannter Wesen. Die Frau rührte sich nicht, bemerkte nicht, wie das Kind in ihren Armen fasziniert den Mond und die Sterne betrachtete. Erst, als die ersten Sonnenstrahlen hinter den riesigen Bergen auftauchten schlug sie die Augen auf. Ihre Finger wanderten über die Wunde an ihrer Schulter. Sie stöhnte vor Schmerzen auf, kam aber trotzdem auf die Beine und schleppte sich ins Dorf, wo sie vor einer der Hütten zusammenbrach.

»Ist jemand da?«, fragte sie mit bebender Stimme und klopfte an die Tür, die kurz darauf geöffnet wurde. Ein Mann im Nachthemd starrte auf sie hinunter. Seine Augen waren gelb angelaufen und die Hälfte seiner schwarzen Haare waren ausgefallen. Am auffälligsten war jedoch der zweite, winzige Kopf, der ihm unter seinem Kinn aus dem Hals wuchs. Allerdings schien dieser Kopf weder Augen noch Ohren zu haben. Aus dem halb geöffneten Mund – eher einem klaffenden, lippenlosen Spalt – tropfte Spucke auf das Nachthemd und den Boden.

»Was zum Henker?«, knurrte der Mann wenig begeistert, die Hände in die Seiten gestemmt. »Wer bist du, Bleichgesicht? Was hast du hier zu suchen? Hast du keine Angst vor Strahlenkranken wie mir?«

»Ich brauche Eure Hilfe.« Die Frau, immer noch auf den aufgeschrammten Knien, sah ihn flehend an. »Bitte, nehmt diesen Jungen bei Euch auf.« Sie hielt das Kind hoch, das den Mann mit großen Augen neugierig anschaute.

»Ein Adliger?« Der Mann runzelte die Stirn. »Wie kommst du an diesen Jungen, Bleichgesicht? Hast du ihn seinen Eltern gestohlen?«

»Nein!« Verzweifelt presste sie das Kind wieder an ihre Brust. »Ich habe ihn vor dem sicheren Tod gerettet. Das Grenzland ist wahrscheinlich der einzige Ort, wo er in Sicherheit ist.«

»Grenzland und sicher?« Der Mann spuckte ihr vor die Füße. »Wer hier bleibt, lebt nicht lange.«

»Bitte!« Nun standen Tränen in den Augen der Frau. »Ich flehe Euch an! Nehmt ihn auf! Es ist die einzige Möglichkeit! Bitte!«

»Vater?« Die neue Stimme kam aus dem Inneren der Hütte. Ein weiterer Mann tauchte an der Seite des ersten auf. Er war jünger und hatte nur eine Hose an, sodass die weiß aus der Haut stechenden Rippen deutlich zu sehen waren. Sie sahen aus wie die Zähne im aufgesperrten Maul eines riesigen Monsters. Nur schienen es viel zu viele Rippen zu sein, die bleich aus seinem Brustkorb ragten. Als er die Frau erblickte, leuchteten seine ebenfalls gelb unterlaufenen Augen gierig auf. »Vater, wer ist das?«

»Nur eine Bleichgesicht-Frau«, schnaubte der ältere Mann. »Ich werde sie gleich aus dem Dorf jagen. Zusammen mit ihrem gestohlenen Bastard von Kind.«

»Aber sie sieht doch gesund aus«, wandte der jüngere Mann ein. Mit zwei Schritten war er an seinem Vater vorbeigegangen und beugte sich zu der Frau runter, wobei die Haut um zwei der herausragenden Rippen herum aufbrach und anfing zu bluten. Er streckte seine Hand aus, schien den Schmerz gar nicht zu spüren, und fuhr mit den Fingern durch ihre roten Haare. Sie ließ es nur widerwillig geschehen, wich seinem begierigen Blick aus. »Wie ist dein Name?«

»Marielle«, antwortete die Frau nach kurzem Zögern.

»Ich bin Mgonjwa und das ist mein Vater Ubinafsi, der Vorsteher unseres Dorfes«, sagte der Mann, richtete sich wieder auf und deutete nacheinander auf sich und den anderen. »Er hat vor, dich und dein Kind aus dem Dorf zu schmeißen, Marielle. Ich nehme an, du möchtest das nicht. Was bist du bereit, zu geben, damit ich dich rette?«

»Nicht mich, das Kind!«

Mgonjwa verdrehte die Augen. »Dann eben auch das Kind! Also?«

»Für Javet, alles«, wisperte Marielle und senkte ergeben den Kopf.

Mgonjwa richtete sich mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen auf und drehte sich zu seinem Vater um. »Ich werde diese Frau heiraten. Sie ist gesund, nicht so wie all die anderen in Zamani. Vielleicht werden unsere Kinder auch gesund sein und die Möglichkeit haben, ins Ostland zurückzukehren.«

»Sei nicht naiv!«, fuhr Ubinafsi seinen Sohn an und deutete anklagend mit dem Finger auf Marielle. »Die wird schneller krank sein als das Jahr um ist! Außerdem ist sie offensichtlich verletzt! Vielleicht hat sie sich schon eine Entzündung eingefangen!«

»Dann werden wir uns halt beeilen müssen!«, motzte Mgonjwa. »Morgen ist die Hochzeit!«

Dann stolzierte er in die Hütte zurück. Ubinafsi schaute Marielle und das Kind in ihren Armen zähneknirschend an, winkte sie schließlich trotzdem leise fluchend hinein. Die Frau stützte sich am Türrahmen ab, während sie aufstand. Plötzlich ergriff der ältere Mann sie am Arm und kam ihr so nah, dass die Spucke seines zweiten Kopfes ihr auf die Füße tropfte.

»Wenn du ihm bis nächstes Jahr kein Kind geschenkt hast, bist du dran!«, zischte er ihr zu. »Und dein Bastard auch!«

Die Augen der Frau funkelten kurz wütend auf, doch als sie das grausame Grinsen auf seinem Gesicht bemerkte, senkte sie den Kopf und nickte. Leicht schwankend betrat sie die dunkle Hütte, während die Sonnenstrahlen über die ersten Dächer der Häuser wanderten.

***

Das Lachen der zwei Jungen hallte über die kahle Landschaft. Die Frau mit den roten Haaren folgte dem Geräusch. Mit dem Handrücken wischte sie sich das Blut weg, das aus ihrer Nase rann. Auf ihrer Wange prangte ein roter Fleck, als hätte jemand sie geschlagen. Sie blieb stehen, lauschte. Das Gelächter war verstummt. Besorgt ging sie wieder los, fing an zu rennen. Plötzlich ertönte ein lauter Schrei.

»Javet!«, schrie die Frau mit leichter Panik in der Stimme. »Javet! Mashimo!«

Keuchend kam sie auf der Spitze eines Hügels an. Vor ihr lag eine Senke mit sumpfigem Boden. Überall waren Schlammlöcher, aus denen manchmal Luftblasen aufstiegen und an der Oberfläche platzten. Die Farben gingen von einem schmutzigen Braun bis zu einem ungesunden Gelblich-Grün. Ein schrecklicher Gestank hing in der Luft, bei dem sie fast zurück stolperte. Mit weit aufgerissenen Augen suchte sie die Landschaft ab und schnappte entsetzt nach Luft, als sie zwei Gestalten sah, die sich am Rand eines Schlammlochs befanden. Eine von ihnen lag am Boden, während die andere daneben hockte.

»Javet!« Nun war die Panik in der Stimme der Frau nicht zu überhören. Ohne nachzudenken stürmte sie den Hügel hinunter und kämpfte sich durch den Matsch, bis sie bei den zwei Jungen war, das Kleid über und über mit dampfendem Schlamm überzogen.

»Er ist in eine der Quellen gefallen«, sagte der hockende Junge, dessen Haut so hell wie die der Frau war, und kratzte sich hinter dem Ohr. Seine Aussprache war verwaschen und schleppend, doch die Frau schien ihn trotzdem zu verstehen.

»Hab ich euch nicht verboten, nach Ugonjwa zu gehen!«, fuhr sie ihn an. »Die giftigen Quellen haben nicht umsonst das Wort ›giftig‹ in ihrem Namen! Es ist hier viel zu gefährlich für euch! Ich hättet nie herkommen dürfen!«

»Aber...«

Die Frau versetzte ihm eine heftige Ohrfeige, woraufhin der Junge vor Überraschung und Schmerz aufjaulte. Schniefend hielt er sich die Wange, stand auf und stampfte mit dem Fuß auf. »So ist es immer!«, beschwerte er sich wütend und zeigte anklagend auf die Frau. »Marielle, die große Beschützerin von Javet! Dabei ist er nicht mal dein richtiger Sohn, sondern nur ein Bastard! Vielleicht hast du ihn sogar gestohlen! Das hat Vater mir erzählt! Warum kümmerst du dich mehr um ihn als um mich?«

Marielle ignorierte ihn und untersuchte stattdessen den Körper des anderen Jungen, Javet. Er war vollständig mit dem dampfenden Schlamm bedeckt. Ihm schien nichts zu fehlen, aber er war nicht bei Bewusstsein. »Javet!«, rief die Frau, befreite mit dem Ärmel ihres Kleides seine Lippen von dem Matsch, hielt ihm die Finger unter die Nase und atmete erleichtert auf, als sie offenbar einen kühlen Atemzug spürte.

»Ich gehe jetzt zu Vater und sage ihm, dass du mich wieder ignoriert hast!«, schleuderte der andere Junge ihr entgegen und wandte sich zum Gehen, doch da ergriff Marielle ihn am Arm und zog ihn neben sich zu Boden. Er blinzelte sie überrascht an.

»Mashimo«, sprach sie ihn an,. »Du musst mir helfen, ihn zu retten.«

»Warum?«, fragte der Junge beleidigt und zog einen Schmollmund. »Er ist selber reingefallen.«

»Ich fürchte, du hast keine Wahl.«

Bevor Mashimo begreifen konnte, was Marielle damit meinte, hatte sie ihm schon die Hände vor die Brust gestoßen. Er keuchte entsetzt auf, als ein unstetes Flimmern über ihre Haut wanderte und sich auf seine eigene ausbreitete.

»Du bist eine Magierin!«, schrie er auf.

»Es tut mir leid, mein Sohn.« Tränen liefen ihre Wangen hinab, als sie die Hände von ihm wegriss. Mashimo verdrehte die Augen und kippte zur Seite, wo er regungslos liegen blieb. Schwer atmend und wild blinzelnd drückte Marielle ihre Hände nun auf Javets Brust. Ihre ganze Haut flackerte für einen kurzen Moment auf. Sie stöhnte schmerzhaft auf, ließ jedoch nicht los. Auch nicht, als ein rotes Rinnsal aus Blut ihr aus der Nase lief.

Plötzlich schlug Javet die Augen auf und hob schwach die Hand. Schluchzend nahm Marielle ihn in die Arme und wiegte ihn hin und her. Dabei schmierte sie sich selber einen Teil des Schlamms auf die helle Haut, aber das schien ihr egal zu sein. Immer noch glitzerten Tränen in ihren Augenwinkeln.

»Was ist passiert?«, fragte der Junge leise.

»Nicht wichtig.« Die Stimme der Frau zitterte. Ihr Blick wanderte zu Mashimos totem Körper und sie drehte sich so, dass Javet ihn nicht sehen konnte. »Hauptsache, dir geht es gut.«

»Wo ist Mashimo?«

»Ich fürchte...« Marielle schloss die Augen. Weitere Tränen rannen ihre Wangen hinunter, das Gesicht war schmerzverzerrt. »Ich fürchte, Mgonjwa wird mir nicht verzeihen. Dieses Mal wird sein Vater uns aus Zamani verjagen. Ich bin mir sicher.«

Javet antwortete nicht, schaute nur auf den Handrücken der Frau, über den es kurz flimmerte.

»Es ist in Ordnung«, sagte Marielle beruhigend. »Mach dir keine Sorgen. Leg dich wieder hin und schließe die Augen.«

Javet tat es, woraufhin die Frau aufstand. Der Schlamm auf ihrem Kleid dampfte nicht mehr, hatte eine harte, grünlich braune Kruste hinterlassen, die nur an einigen Stellen frisch war. Sie presste die Lippen zusammen und ließ sich neben Mashimos Leiche nieder. Leise weinend strich sie ihm die schwarzen Haare aus der Stirn, packte ihn dann an den Armen und zog ihn zum nächsten Schlammloch. Sein Körper verschwand fast lautlos in der rotbraunen Brühe. Als sie sich umdrehte, starrten sie Javets dunkelbraune Augen fassungslos an.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Du weißt, warum ich es tun musste.«

Javet schloss die Augen. Eine glitzernde Träne löste sich von seinen Wimpern und bahnte sich ihren Weg durch den getrockneten Schlamm in seinem Gesicht. 

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Willkommen im zweiten Band der Pazifik-Trilogie :) An dieser Stelle schonmal eine kleine Warnung: Es wird hier etwas heftiger und, ich sag einfach mal, ›anders‹ zugehen als im ersten Band. Aufgrund einiger Szenen empfehle ich dieses Buch erst ab 16 Jahren. Ich werde die betreffenden Kapitel nicht markieren (einerseits, weil es den Lesespaß verdirbt und andererseits, weil am Ende nur diese Kapitel gelesen werden, was definitiv nicht der Sinn dieses Buches ist). Ihr lest also auf eigene Gefahr.

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