51. Kapitel
Verschwunden ist die finstre Nacht, die Lerche schlägt, der Tag erwacht, die Sonne kommt mit Prangen am Himmel aufgegangen. Sie scheint in Königs Prunkgemach, sie scheinet durch des Bettlers Dach, und was in Nacht verborgen war, das macht sie kund und offenbar.
Friedrich Schiller
Es vergingen mehrere Tage, bis Javet sich so weit erholt hatte, dass er das Bett verlassen und durch Burg Fedha gehen konnte ohne alle drei Schritte stehen zu bleiben, um sich an einer Wand abzustützen. Bisturí, die junge Heilerin, kümmerte sich darum, dass der Verband um seinen Kopf regelmäßig ausgetauscht wurde, während Rafaga ihm häufig etwas zu Essen vorbei brachte oder einfach nur bei ihm blieb und sich mit ihm unterhielt. Qing Xin hatte ihm auf seine Bitte hin neue Lederhandschuhe gebracht, um das ›W‹ auf seiner Handfläche stetig versteckt zu halten. Javet hatte nun zusätzlich zu diesen Narben noch eine weitere auf dem rechten Handrücken, wo Sharaf ihn mit dem Dolch erwischt hatte. Diese Narbe sah jedoch etwas anders aus, war an den Rändern immer noch dunkel, fast schwarz, obwohl der Schorf schon lange abgefallen war. Javet dachte sich nichts dabei. Sicher geht das auch noch weg.
Qing Xin berichtete ihm regelmäßig von allem, was in Ngome vor sich ging. So hatte Javet zum Beispiel erfahren, dass die Bewohner die Menschen aus Hölle allmählich akzeptierten. Einige hatten ihnen sogar Höllenrösser abgekauft und angeboten, ihnen beim Bau der Häuser zu helfen. Auch waren viele der zuvor geflohenen Hellhäutigen zurückgekehrt, nachdem Qing Xin auf Javets Bitte hin alle Gesetze, die Alina und Sharaf erlassen hatten, rückgängig gemacht hatte. Eigentlich hatte er noch weiter gehen und den Hellhäutigen mehr Rechte geben wollen, aber der Westländer hatte ihm vorerst davon abgeraten, weil es sonst zu Unruhen unter den Adligen kommen könnte. Wohin Alina verschwunden war, konnte ihm hingegen keiner sagen. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt, aber er hatte auch nicht vor, sie zu suchen. Er hatte genug andere Sachen zu tun.
Vom alten Hofstaat waren nur wenige geblieben. Während des Kampfes im Thronsaal waren Kunong'ona und Dawa, der Berater und der königliche Heiler, von einem von Domadors Kriegern getötet worden. Der königliche Verwalter, Mudir, hatte gebeichtet, die ganze Zeit ein Spion des Südlandes gewesen zu sein, woraufhin Aguarde und einige andere Krieger ihn aus Ngome und hinein in die Einöde gejagt hatten. Die Garderitter waren entweder geflohen oder ebenfalls durch ein Schwert gestorben. Javet hatte beschlossen, Estrella zum ersten weiblichen Hauptmann zu machen und ihre Leute zu Garderittern zu schlagen. Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Domador hätte dazugehören müssen, dachte er oft und fühlte dann, wie seine Brust sich schmerzhaft zusammenzog. Er hatte erfahren, dass Qing Xin den Krieger außerhalb der Stadt hatte begraben lassen. Ein großer Stein markierte das Grab. Auf ihm stand in vier Sprachen ›Domador Eisenarm, der starb, um seinen König zu retten‹.
Erst am fünften Tag ließ Javet Miros vier Töchter zu ihm holen. Sie waren zwar in ihre Zimmer zurückgekehrt und durften sich in der Burg frei bewegen, aber Javet war bisher noch nicht bereit gewesen, sich ihnen gegenüber zu stellen.
Als sie nun in den Thronsaal gebracht wurden, hatten sie ihre Köpfe gesenkt und trippelten in kleinen Schritten vor einigen der neu ernannten Garderittern her. Zu Javets Überraschung war auch ein Junge unter ihnen, der sich jedoch fest an der ältesten Tochter festklammerte. Sie war auch die einzige der vier Schwestern, die es wagte, zu ihm aufzublicken, als sie vor der ersten Stufe der Treppe stand. Javet betrachtete sie neugierig vom oberen Rand aus. Er hatte sowohl den Thron als auch die Silberkrone wegbringen lassen. Beides wollte er nicht mehr um sich herum haben.
Die älteste Tochter hatte glatte, schwarze Haare, die ihr bis über die Schultern fielen. In ihren dunklen Augen stand ein Ausdruck von Entschlossenheit und Trotz.
»Wie heißt ihr?«, fragte Javet freundlich.
»Wenn du vor hast, uns zu töten, dann töte nur mich. Meine Schwestern sind zu jung, um zu verstehen, was hier vor sich gegangen ist«, lautete die scharfe Antwort der ältesten Schwester.
»Broda...«, hob der Junge neben ihr an, aber sie schüttelte ihn ab wie eine lästige Fliege.
»Halt die Klappe, Gundi!« Sie zog sich einen silbernen Ring vom Finger und warf ihn so heftig zu Boden, dass er bis zum Rand des Teppichs sprang, wo er liegen blieb. »Alina ist jetzt nicht mehr die Königin und kann mich auch zu nichts mehr zwingen! Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«
»Du heißt Broda?«, fragte Javet und hoffte, die älteste Tochter so weit ablenken zu können, dass sie die Tränen in den Augen des Jungen nicht sah.
Das Mädchen nickte und schob ihr Kinn leicht vor.
»Ich habe nicht vor, irgendjemanden von euch zu töten«, beruhigte er sie. »Ihr wart nicht dabei, als gekämpft wurde und Sharaf hat euch sogar in den Kerker gesperrt. Ihr seid also unschuldig.«
Brodas Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber dafür hob das Mädchen neben ihr erstaunt den Kopf. Es war etwas fülliger und die Haare standen ihr in schwarzen Locken vom Kopf ab. »Was? Aber...«
Broda stieß ihrer jüngeren Schwester den Ellenbogen so heftig in die Seite, dass diese nach Luft schnappte. »Es ist dir egal, wer unser Vater ist?«, fragte sie.
»Euer Vater hat zwar meine Eltern und Geschwister getötet, aber ihr könnt nichts dafür«, sagte Javet. »Ihr wart damals noch nicht mal geboren. Außerdem seid ihr meine Verwandten. Ich werde euch nichts tun. Ihr habt mein Wort.«
Brodas Augen verengten sich zu misstrauischen Schlitzen, doch sie sagte nichts. An ihrer Stelle meldete sich die fülligere Schwester zu Wort: »Dürfen wir in der Burg bleiben? Wir... Wir wissen sonst nicht, wo wir hingehen sollen.«
»Wer wäre ich denn, wenn ich euch einfach rausschmeiße?« Javet lächelte sie aufmunternd an.
»Danke! Danke!« Das Mädchen verbeugte sich mehrere Male und bedeutete ihren zwei jüngeren Schwestern, dasselbe zu tun. Nur Broda weigerte sich, während der Junge neben ihr immer noch mit den Tränen kämpfte.
»Bekomme ich eines von den Pferden mit den gespaltenen Köpfen?«, ließ sich die Stimme der zweitjüngsten Tochter vernehmen.
»Wenn du möchtest«, antwortete Javet überrascht, woraufhin sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Du tust uns wirklich nichts?«, fragte Broda. »Und du gibst uns sogar Sachen?«
»Warum nicht?«
Broda schwieg eine Weile, bevor sie langsam den Kopf senkte und vor ihm knickste. »Ich danke Euch, mein König.«
»Du brauchst wirklich nicht so formell zu sein!«, rief Javet leicht erschrocken. Das Leben unter Miros Herrschaft hat sie wirklich geprägt.
Broda richtete sich wieder auf und deutete nun nacheinander auf ihre Schwestern. »Sie heißen Daya, Finis und Rena, um deine vorangehende Frage zu beantworten.«
Javet nickte ihnen freundlich zu. »Ihr dürft euch alle frei in der Burg und in Ngome bewegen. Eigentlich im gesamten Pazifik. Wenn ihr irgendwas braucht, dann sagt einfach Bescheid. Die Zeit der grausamen Könige ist vorbei.«
»Das hoffe ich«, sagte Broda mit leicht zusammengekniffenen Augen. Dann drehte sie sich um und ging als erste aus dem Thronsaal hinaus. Ihre drei Schwestern und der Junge folgten ihr.
Javet stand auf und merkte, wie Qing Xin von hinten an seine Seite trat. »Es ist ein weiterer Besucher da«, flüsterte er ihm ins Ohr.
»Ein weiterer Besucher?«
Qing Xin nickte. »Aus dem Grenzland. Er behauptet, dich zu kennen, aber... Er ist strahlenkrank. Wenn er dir zu nahe kommt, wird einer von Estrellas Kriegern sofort eingreifen. Aber wenn du ihn nicht sehen möchtest, kann ich ihn auch wegschicken.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Javet. »Er soll reinkommen.«
Er hatte eine leichte Vermutung, wer es sein würde und war nicht überrascht, als die unförmige Gestalt von Mgonjwa zwischen den zwei Torflügeln auftauchte. Er sah schlimmer aus als je zuvor. Seine gesamte Haut schien kurz davor zu sein, sich vollständig abzulösen. Das Weiße der Augen war ein ungesundes, bräunliches Gelb. Nur die Rippen stachen unverändert aus seiner Kleidung hervor. Jeder Schritt in Richtung Treppe schien eine Qual für ihn zu sein. Doch trotz all der Schläge, die Mgonjwa ihm in seiner Kindheit verpasst hatte, fühlte Javet keine Genugtuung, sondern Mitleid. Er stieg selbst die Stufen hinab und kam seinem Stiefvater entgegen. Zwei von Estrellas Kriegern und Qing Xin folgten ihm.
»Du Bastard«, keuchte Mgonjwa und blieb in einiger Entfernung zu ihm stehen.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, presste Javet zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was willst du?«
»Frieden«, röchelte Mgonjwa. »Und Gerechtigkeit. Wenn du schon vor hast, den Bleichgesichtern mehr Rechte zu geben, warum dann nicht auch uns? Warum nicht den Strahlenkranken? Wir gammeln im Grenzland vor uns hin, wir sterben dahin, unsere Kinder sterben dahin. Denk an Mashimo! Oder an deine elende Marielle!«
Javet zuckte kurz zusammen und hoffte, dass keiner es gesehen hatte.
»Tu nicht so scheinheilig!«, keuchte Mgonjwa. »Ich weiß genau, dass du Mittel und Wege kennst, Menschen von der Strahlenkrankheit zu heilen! Wie sonst hättest du diese Leute in den Pazifik holen können!« Er hob einen Arm und deutete mit einem zitternden Finger auf die zwei Krieger hinter Javet. »Denkst du, ich hätte die Prozession dieser Fremden nicht gesehen, die mitten aus dem Totenland gekommen sind? Ich fordere, dass du auch uns Strahlenkranke ins Ostland holst und uns heilst!«
»Das geht nicht«, antwortete Qing Xin an Javets Stelle. »So eine Heilung hat ihren Preis.«
»Er hat doch jetzt eine ganze Schatzkammer voller Münzen!«, blaffte Mgonjwa.
»Es ist eine andere Art von Preis«, entgegnete der Westländer kühl.
»Mir egal, was das für ein Preis ist!«, zischte der Strahlenkranke und deutete anklagend mit dem Finger auf Javet. »Der Bastard ist jetzt König und hat eine gewisse Verantwortung! Auch für die, die im Grenzland leiden! Er weiß, wie es dort ist! Er weiß, wie Menschen aussehen, die an der Strahlenkrankheit sterben! Wie kann es sein, dass er uns weiterhin unbeachtet lässt, während die Bleichgesichter in Ruhe feiern gehen können! Ich warne dich, Bastard! Wenn du uns weiterhin ignorierst, werden wir von alleine in den Pazifik kommen und alle berühren, die unseren Weg kreuzen! Was werden die Menschen dann von dir denken?«
»Er hat recht«, wandte Javet sich in Nordländisch an Qing Xin, was Mgonjwa genervt die Augen verdrehen ließ. »Ich kann die Strahlenkranken nicht einfach im Grenzland lassen. Allein wegen der Triglaza nicht. Sie werden sich schon bald in Hölle und Vernichtung angesiedelt haben, aber sie werden sich nicht lange mit den Tieren aus dem Totenland begnügen, wenn es im Grenzland ganze Dörfer voller Menschen gibt. Irgendwann werden sie sie angreifen und die Bewohner töten. Qing Xin, du hast schon die Menschen aus Hölle geheilt. Kannst du das nicht auch für die Strahlenkranken tun?«
Die Lippen des Westländers zuckten, ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Das geht nicht. Es sind zu viele. Du hast gesehen, in welchem Zustand ich war, als ich die Menschen aus Hölle geheilt habe. Ein zweites Mal werde ich das nicht durchstehen.«
»Und was dann? Du hast selbst gehört, womit er gedroht hat.«
»Wir könnten ihnen eine eigene Stadt im Ostland bauen, aber nahe des Grenzlands«, schlug Qing Xin nach einigem Überlegen vor. »So sind sie nicht mehr so isoliert und stellen trotzdem keine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung dar. Solange sie in dieser Stadt bleiben jedenfalls.«
»Und sie können besser mit Wasser und Nahrung versorgt werden.« Javet nickte langsam und wandte sich in Ostländisch erneut an Mgonjwa: »Gib mir einige Monate Zeit und ich werde eine Stadt für alle Strahlenkranken bauen. Sie wird im Ostland liegen, weit genug vom Grenzland entfernt.«
»Monate? Wie viele Monate?«, fragte der Strahlenkranke unzufrieden.
»So viele, wie gebraucht werden, um eine Stadt zu bauen!«, fuhr Javet ihn an und atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. »Ist das in Ordnung?«
Mgonjwa mahlte mit den Kiefern. »Ich werde bald sterben. Die Stadt werde ich nicht mehr miterleben, aber solange du dein Wort hältst, geht das klar.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich auf halbem Weg aus dem Thronsaal jedoch ein letztes Mal um. »Du hättest mir auch sagen können, dass du ein König bist, Bastard!« Damit verschwand er um die Ecke.
Ganz bestimmt nicht, dachte Javet. Sein Blick wanderte zu einer der Säulen, an der die schlanke Gestalt von Annie lehnte. Sie lächelte ihn an, ihre blauen Augen strahlten. Du hättest bei mir sein müssen. Jetzt, in diesem Moment.
Er gab sich einen Ruck und setzte sich in Bewegung, verließ den Thronsaal. An der gegenüber liegenden Wand hingen die Porträts seiner Eltern. Tormenta, die einzige Frau neben Estrella, die den Kampf gegen die Triglaza überlebt hatte, hatte ihm den Geheimgang gezeigt in den Keller gezeigt, wo Sharaf die Königstöchter eingesperrt hatte. Dort waren Gemälde der früheren Könige und ihrer Familie gelagert worden, eine Art Abstellraum. Javet hatte angeordnet, dass die von König Witan und Königin Sybille wieder aufgehängt worden waren. Er hatte gehofft, auch eines von seiner jüngeren Schwester Vala zu finden, doch vermutlich hatte Miro dafür gesorgt, dass es ein solches nicht gab. Stattdessen hatte er eines entdeckt, das ein schlicht gekleidetes Mädchen zeigte, das vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Eine silberne Kette hing um ihren Hals, die irgendwo außerhalb des Bildes verschwand. Er fragte sich, wer sie sein mochte. Wahrscheinlich würde er sich durch das königliche Archiv wühlen müssen, um das herauszufinden. Es gab so vieles, was er noch nicht wusste...
Vielleicht sollte ich auch die Porträts von Broda, Daya, Finis und Rena aufhängen, überlegte Javet, während er die Treppe hinauf stieg. Er betrat das Zimmer, in dem früher das Königspaar geschlafen hatte, wo Rafaga ihn bereits erwartete. Sie strahlte ihn fröhlich an und warf sich ihm um den Hals.
»Ich bin so aufgeregt! Wahrscheinlich noch aufgeregter als du!«, rief sie. »Was denkst du? Wie wird das Volk reagieren? Es sieht dich jetzt zum ersten Mal als richtiger König! Wo ist deine Krone?«
»Ich brauche keine«, sagte Javet hastig und löste vorsichtig die wilde Umarmung des Mädchens. »Jedenfalls nicht die, die Sharaf und Miro vor mir getragen haben.«
Rafaga nickte aufgeregt, bevor ihr Gesicht ernst wurde. »Bist du bereit?«
Javet atmete tief durch. »Ja.«
Auf sein Wort hin traten die zwei Krieger von Estrella vor und öffneten ihm die Glasflügel zum Balkon, von dem aus er ganz Ngome und besonders den Gelben Platz vor Burg Fedha überblicken konnte. Von draußen ertönten laute Rufe und ohrenbetäubender Jubel, vermischt mit Applaus. Ich bin dort, wo ich sein muss, dachte Javet, bevor er einen Schritt vor trat, damit die Menschen auf dem Gelben Platz ihn sehen konnten. Ich habe es geschafft, Marielle. Du bist nicht umsonst gestorben. Aus dem Augenwinkel sah er die Sonne als leuchtenden Feuerball am Himmel. Und du auch nicht, Annie.
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