48. Kapitel

Schmeichelnd kitzelt die Schlange, wo sie sticht.

William Shakespeare

Javet hatte Ngome noch nie aus einer solchen Nähe gesehen. Die Stadt wirkte wie eine einzige, gigantische Festung. Hohe Mauern, hinter denen die Dächer der Häuser kaum auszumachen waren. Nur das oberste Stockwerk von Burg Fedha war klar und deutlich zu sehen. Mein Geburtsort, dachte er und spürte einen Stich in der Brust. Meine Heimat. Zamani ist nie meine Heimat gewesen. Ich gehöre hierher.

Zu seiner Überraschung standen auf den Mauern keine Krieger, die das kleine Heer aus etwa zweihundert Reitern und ihren Höllenrössern mit Pfeil und Bogen ins Visier nahmen. Alles wirkte vollkommen still. Fragend schaute Javet zu Domador hinüber, der mit ihm, Qing Xin, Estrella und Aguarde an der Spitze ritt. Sein neuer Metallarm glänzte in der Sonne wie neu. Javet musste sich immer noch an diesen Anblick gewöhnen. Nach Hierros und Seras Tod war Domador zwar wieder etwas abgekühlt, begegnete ihm aber weiterhin mit abweisender Feindseligkeit. Es war, als wäre die Zeit direkt nach ihrem Kennenlernen wieder eingekehrt. Als er ihm die Schuld für Muertes Tod gegeben hatte.

»Wir werden erwartet«, rief Domador Javet zu, als ihre Blicke sich begegneten.

»Wie können wir erwartet werden, wenn niemand auf den Mauern...?«

Bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, setzten die Flügel des Stadttores sich langsam in Bewegung und öffneten sich. Sharaf lässt uns rein? Gibt er auf? Das glaube ich nicht. Erneut sah er fragend zu Domador hinüber, der das Tor finster anstarrte. Ohne es aus den Augen zu lassen, brüllte er den Reitern hinter sich etwas zu und trieb Sult dann vorwärts. Er hatte den schwarzen Hengst aus irgendeinem Grund nicht gegen ein Höllenross ausgetauscht. Das kleine Heer folgte ihm in die Stadt hinein. Javet blieb dicht an der Seite des Kriegers mit dem Metallarm.

Die Straßen waren seltsam leer. Egal, wohin er blickte, kein Mensch war zu sehen. Sogar in den Häusern schien niemand zu sein. Sind sie alle geflohen?, überlegte Javet und erinnerte sich an das Gespräch am Urberg zurück, das er belauscht hatte. Aber so viele Hellhäutige kann es in Ngome doch gar nicht geben! Wohin sind sie alle verschwunden?

Je weiter sie kamen, desto unheimlicher kamen Javet die leeren Gassen und Gebäude vor. Da keiner von ihnen sich in der Stadt auskannte, folgten sie einfach der breiten Straße, die ins Herz von Ngome zu führen schien. Bald schon tauchte vor ihnen Burg Fedha auf. Sie war es. Unverkennbar. Die vier Türme an den Ecken, die roten Ziegelsteine, die ordentlich aufeinander gestapelt waren, die zwei Stockwerke. Eine Brücke führte über einen ausgehobenen Graben vor der Burgmauer. Davor blieb Domador stehen und alle anderen taten es ihm gleich.

»Was ist hier los?«, fragte Javet den Krieger. »Ich dachte, Sharaf wollte mich töten? Warum lässt er uns jetzt einfach so in Ngome einmarschieren? Wo sind alle Bewohner hin?«

Domador antwortete nicht, sondern musterte mit zusammengekniffenen Augen die Mauer vor sich. Plötzlich rief Estrella etwas und deutete auf eines der Dächer der Burg. Im selben Moment tauchte ein schwarz gekleideter Mann dort auf. In der Hand hielt er einen seltsamen Gegenstand, der im Sonnenlicht metallisch aufblitzte. Mit der verlängerten Seite schien er damit auf Javet zu zielen. Der Junge reagierte blitzschnell, zog an Hong Tuzis Zügeln und wirbelte ihn so herum. Es gab einen lauten Knall und direkt vor den Hufen des Hengstes flogen plötzlich Steinsplitter durch die Luft. Zum Glück trafen sie nichts und er hatte Hong Tuzi gut genug unter Kontrolle, sodass er nicht zurückwich, aber im Pflaster blieb ein ungewöhnlich tiefes und fast perfekt rundes Loch zurück.

Was ist das für ein Ding?, fragte Javet sich erschrocken und sah zu dem Mann hoch. Dieser zielte erneut auf ihn. Jetzt meinte Javet, den Mann zu erkennen. Es war der, der ihn schon beim Urberg hatte töten wollen und gegen den Domador dann gekämpft hatte. Derjenige, der dem Krieger den Schwertarm abgetrennt hatte. Auch Domador erkannte den Mann. Er stieß einen wütenden Schrei aus.

»Geh weiter zurück!«, befahl er Javet. »So weit kann er unmöglich schießen!«

Javet tat, wie ihm geheißen und schnappte erschrocken nach Luft, als er erneut den lauten Knall hörte. Doch wieder bohrte sich das Geschoss, oder was auch immer es war, nur ins Pflaster. Er schaute zum Dach der Burg hoch und sah gerade noch, wie der Mann das metallische Ding sinken ließ und aus seiner Sicht verschwand. Wahrscheinlich wird er Sharaf Bescheid sagen, dass ich nicht alleine, sondern mit Verbündeten gekommen bin.

»Was jetzt?«, rief Javet Domador zu.

»Solange Sharaf sich in der Burg einschließt, können wir nichts tun«, antwortete ihm stattdessen Qing Xin. »Bald wird es auf den Dächern nur so vor Garderittern wimmeln, die uns von oben beschießen werden.« Seine Lippen zuckten. »Was er bei sich hat, ist eine Schlossole. Sie verschießt Metallkugeln. Und das auf eine noch viel größere Entfernung als Pfeil und Bogen es je könnten. Wenn man von ihnen getroffen wird, ist man so gut wie tot.«

»Woher hat er diese Waffe?«, fragte Javet ungläubig.

»Es ist eine Technologie der Alten«, erklärte Qing Xin. Seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen. »Ich habe einst Prinzessin Vala eine gegeben, damit sie damit König Miro tötet. Wie ich sehe, hat sich das als Fehler erwiesen. Ich vermute, Sharaf hat meine Schlossole untersucht, um noch mehr von ihnen herzustellen.«

»Noch mehr?« Javet sah ihn entsetzt an und überhörte dabei, was der Mann zuvor über Vala gesagt hatte. »Du meinst, jeder der Garderitter hat so eine Schlossole?«

»Unwahrscheinlich«, entgegnete der Westländer nach einigem Zögern. »Wenn das so wäre, wären wir schon lange tot.« Er hielt kurz inne. »Wir hätten zuerst das Westland oder das Nordland um Hilfe bitten müssen.«

»Zu wenig Zeit«, zischte Domador gepresst und spuckte verächtlich auf den Boden. »Bis die ihre Armeen gesammelt haben, sind meine Leute schon lange wieder auf den Kontinent vertrieben oder getötet worden. Mit ein paar Metallkugeln verschießenden Schlossolen kommen wir schon klar. Aber wenn Sharaf uns nicht auf macht, werden wir dieses verdammte Tor selbst öffnen.« Er brüllte etwas auf seiner Sprache, woraufhin mehrere Krieger von ihren Höllenrössern absaßen und in Richtung der Brücke gingen. Doch sie waren gerade drei oder vier Schritte gegangen, als etwas klickte und das Tor sich langsam öffnete. Das eiserne Gitter dahinter wurde ebenfalls hochgezogen. Ein großer Innenhof wurde sichtbar. Leer.

»Was wird das jetzt?«, fragte Javet verwirrt.

»Mir gefällt das nicht«, sagte Qing Xin. »Vielleicht sollten wir zuerst...«

Er unterbrach sich, als Domador Sult wortlos nach vorne trieb. Der Hengst schritt über die Brücke ohne dass etwas passierte. Nach und nach setzte sich auch ein Teil der Reiter in Bewegung. Der Rest blieb vor der Burg zurück. Der Innenhof war zwar groß, aber nicht so groß, als dass alle hinein gepasst hätten. Javet wechselte einen besorgten Blick mit Qing Xin. Estrella und Aguarde waren Domador ohne zögern gefolgt, aber irgendwas sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Letztendlich ritt er trotzdem hinter Domador her. Wenn etwas passiert, darf ich ihn nicht alleine lassen.

Im Innenhof angekommen hielt er an und sah sich um. Weder auf den Dächern noch in den Fenstern waren Garderitter zu sehen. Alles wirkte genauso verlassen wie in der Stadt selbst. Als sich plötzlich eine Tür, die ins Innere der Burg führte, öffnete, zogen alle Krieger sofort ihre Schwerter, aber heraus trat nur ein einzelner Mann, der zudem noch ziemlich harmlos aussah. Statt einer Rüstung trug er ein dunkelgrünes Gewand, das am unteren Saum mit silbernen Stickereien verziert war. Ein freundliches Lächeln lag auf seinen Lippen. Kunong'ona, erinnerte Javet sich an den Namen des Mannes.

»Im Namen von König Sharaf begrüße ich den Herren Javet und seine neuen Verbündeten in Burg Fedha«, sagte Kunong'ona. Seine dunkelbraunen Augen suchten nach dem Jungen und blieben an ihm hängen, als er ihn fand. »Der König lädt Euch zu einem Treffen im Thronsaal ein, um die Missverständnisse am Urberg aufzuklären.« Er deutete einladend auf die offene Tür hinter sich.

»Missverständnisse?«, donnerte Domador. »Einladung in den Thronsaal? Ich habe keine Ahnung, wer du bist, Mann! Denkst du, wir sind so dumm und lassen den rechtmäßigen König des Ostlands einfach so in eine Falle tappen? Du erklärst uns jetzt sofort, wohin alle Bewohner der Stadt verschwunden sind!«

»Ich entschuldige mich natürlich vielmals, aber ich habe nicht mit Euch geredet«, wandte Kunong'ona sich lächelnd an den Krieger. Angesichts des Metallarms verzog sein Gesicht sich ein wenig, doch schnell hatte er sich wieder im Griff.

»Seine Fragen sind berechtigt«, sagte Javet schnell, bevor Domador absteigen und dem Mann einen Schlag versetzen konnte. »Wo sind all die Menschen aus der Stadt hin und warum empfängt Sharaf uns als wären wir Freunde? Vorhin hat er noch einen seiner Männer mit einer Schlossole auf uns schießen lassen.«

»Die Bewohner Ngomes wurden aus Sicherheitsgründen in andere Städte geschickt«, antwortete Kunong'ona freundlich lächelnd. »Alles weitere würde König Sharaf gerne selbst mit Euch besprechen.« Wieder deutete er einladend zur Tür.

Etwas unschlüssig schaute Javet zu Domador, der ihn jedoch nicht beachtete, sondern den Mann wütend anstarrte. Nur Qing Xin begegnete seinem Blick und nickte leicht. Der Westländer zog einen Schleier hinter dem Stoffband hervor, das um seine Taille gewickelt war, und bedeckte damit sein Gesicht. Dann saß er ab.

»Ich werde mit ihm kommen«, rief er Kunong'ona zu.

Der Mann drehte sich zu ihm, lächelte immer noch. »Dem Herren Javet droht keinerlei Gefahr.«

»Davon möchte ich mich gerne selbst überzeugen«, sagte Domador anstelle von Qing Xin und stieg ebenfalls ab. »Ich komme auch mit.«

Kunong'onas Lächeln gefror für wenige Sekunden, doch dann nickte er leicht und zeigte wieder einladend auf die Tür. »Wenn ihr mir bitte folgen wollt.«

Javet sprang von Hong Tuzi zu Boden und ging voraus. Domador und Qing Xin links und rechts direkt hinter ihm. Kunong'ona führte sie durch leere Flure bis vor ein offen stehendes Tor. An der Wand gegenüber hing ein einziges Porträt, das wahrscheinlich Königin Alina zeigte. Die Frau auf dem Urberg hatte ihr tatsächlich ähnlich gesehen, doch ihr hatte die gewisse Schärfe im Blick gefehlt.

Im Thronsaal selbst standen links und rechts des roten Teppichs eine Reihe von Garderittern. Der Rüstung nach sowohl des Ostlands als auch des Südlands, aber es waren ungewöhnlich wenige. Trotzdem blieb Domador kurz stehen und hielt Javet an der Schulter fest, damit er es ebenfalls tat.

»Es gibt nichts zu befürchten«, ertönte eine Stimme, die Javet nur allzu bekannt war.

Er ließ seinen Blick bis zum Ende des Teppichs und die fünf Stufen zum Thron hoch schweifen. Kurz blieben seine Augen an einer roten Linie zwischen zwei der Stufen hängen, bevor er Sharaf von oben bis unten betrachtete. Auf dem Kopf des Südländers ruhte eine silberne Krone, in deren Mitte jedoch ein rundes Loch war. Es sah aus, als würde dort ein Stein fehlen, doch er schien herausgebrochen zu sein. Sharafs Narbe sah so grausam aus wie zuvor auch schon. Das eine Auge trübe weiß, das andere dunkelbraun. Seine eine Hand ruhte locker auf dem Knauf seines Schwertes, die andere in der Nähe eines Dolches, dessen Knochengriff hinter seinem Gürtel hervorragte, doch er machte keine Anstalten, eine der beiden Waffen zu ziehen. Noch nicht. Nicht weit vom silbernen Thron entfernt stand der Mann, der vor einiger Zeit auf dem Dach gewesen war und auf Javet geschossen hatte. Die Schlossole legte er nun auf einer der Armlehnen des Throns ab, genau in Reichweite des angeblichen Königs.

»Wie ich sehe, bist du mit Verstärkung gekommen«, sagte Sharaf. »Eine andere Verstärkung, als die, die ich erwartet habe, aber immerhin. Du bist auch ungewöhnlich früh dran. Wo hast du diese Menschen herbekommen? Und sie reiten auch noch auf Pferden mit gespaltenen Köpfen? Faszinierend.«

»Warum empfangt Ihr mich wie einen alten Freund?«, rief Javet ihm zu ohne auf irgendeine seiner Fragen zu antworten.

»Warum kommst du nicht zuerst ganz rein und stellst mir deine Begleiter vor? Es ist unhöflich, ein Gespräch aus so einer großen Distanz zu führen.« Sharaf verdrehte die Augen, als Javet sich nicht rührte und fügte hinzu: »Solange du mich nicht angreifst, werden meine Garderitter dir nichts tun.«

Etwas zögerlich ging Javet vorwärts. Der rote Teppich verschlang jedes Geräusch seiner Schritte. Domador und Qing Xin folgten ihm wie seine Schatten. Entgegen seiner Erwartungen rührten die Garderitter sich tatsächlich nicht. Sogar das Tor zum Thronsaal blieb offen. Vor der ersten Stufe, die zum Thron hinauf führte, blieb er stehen.

»Nun«, sagte Sharaf. »Jetzt kannst du mir deine Begleiter vorstellen. Wer sind sie? Wo kommen sie her? Einer hat einen Schleier? Sehr geheimnisvoll. Ich glaube, ihn habe ich beim Urberg flüchtig gesehen. Die Leute aus dem Nordland nennen dich den Samariter? Wer oder was ist das?«

»Es geht dich einen Scheißdreck an, wer wir sind«, zischte Domador.

Jetzt wandte Sharaf sich ihm zu. »Du bist derjenige, der einen meiner Garderitter getötet hat, um an seine Rüstung zu kommen, oder? Dieser Metallarm ist wirklich faszinierend. Dabei dachte ich, mein alter Freund hätte ganze Arbeit geleistet, nicht wahr, Aljasus?« Er blickte zu dem Mann, der neben ihm stand, jedoch keine Miene verzog.

»Ich wiederhole meine Frage.« Javet atmete tief durch. »Warum empfangt Ihr mich wie einen alten Freund? Ihr wisst, dass ich der rechtmäßige König des Ostlandes bin, aber beim Urberg schien es noch, dass Ihr den Thron nicht leichtfertig aufgeben würdet. Auch jetzt scheint es nicht so, da Ihr immer noch die Krone tragt. Trotzdem unterhaltet Ihr Euch mit mir über belanglose Sachen.«

»Welche belanglosen Sachen denn?«, lachte Sharaf. »Vielleicht möchte ich meinen Konkurrenten nur besser kennenlernen?«

Warum verhält er sich so seltsam?

»Hör auf mit den Spielchen!«, forderte Domador, dessen Geduld nun anscheinend am Ende war. »Sag uns, was das alles soll!«

Im selben Moment ertönte aus dem Flur vor dem Thronsaal lautes Rufen. Javet drehte sich überrascht um und entdeckte Estrella, die mit einem gehetzten Ausdruck im Gesicht zwischen den zwei Torflügeln stehen blieb. Erneut schrie sie etwas, woraufhin Domador wütend zu Sharaf herumfuhr. »Du mieses Schwein!«, donnerte er.

Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf Sharafs Gesicht aus. Langsam stand er auf, nahm die Krone ab und legte sie auf die Armlehne des Thrones. »Wie ich sehe, ist meine Verstärkung aus dem Südland eingetroffen.«

Im selben Augenblick zogen er und alle anwesenden Garderitter ihre Waffen. Javet schaffte es gerade noch, sein eigenes Schwert Annie hervor zu holen, bevor um ihn herum das Chaos losbrach.

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