44. Kapitel
Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz.
William Faulkner
Den ganzen Weg vom Urberg bis zum Grenzland fürchtete Javet, von Sharafs Garderittern entdeckt zu werden. Sobald in einiger Entfernung eine Gestalt auf einem Pferd auftauchte, bekam er schreckliche Angst und bat Qing Xin darum, anzuhalten und sich in einem Wrack oder hinter einem Felsen zu verstecken. Aber der Westländer drängte ihn immer weiter, ohne Rücksicht auf seine Erschöpfung und Sorge. In der Nacht hielten sie immer abwechselnd Wache und derjenige, der wach war, achtete darauf, dass Domador weiterhin schlief. Der Krieger war die meiste Zeit über bewusstlos oder so fiebrig, dass er nicht ansprechbar war. Die ausgebrannte Wunde an seinem Arm und die Verletzung an seiner Seite machten ihm schwer zu schaffen.
Einmal sah Javet von Weitem mehrere Steine, die anscheinend von Menschen in lange Reihen aufgestellt worden waren. Für ihn sahen sie aus wie eine Art Friedhof. Er wusste nicht, wer dort lag, verspürte aber trotzdem eine tiefe Traurigkeit. Annie hätte es auch verdient, im Pazifik beerdigt zu werden. Oft strich er über ihren eingeritzten Namen auf der Klinge seines Schwertes und sah sie dann jedes Mal fast wieder vor sich. Qing Xin sagte er nichts davon.
So arbeiteten sie sich Tag für Tag, Nacht für Nacht, immer weiter zum Grenzland vor. Zum ersten Mal begriff Javet, wie anstrengend die Flucht für Marielle gewesen sein musste. Sie hat mich den ganzen Weg über getragen. Und als ihr Pferd gestürzt ist, ist sie zu Fuß weiter gerannt. Ohne sie wäre ich schon lange tot.
Endlich erreichten sie das Grenzland. Sie hatten länger gebraucht als ursprünglich angenommen, da Domador schwer verletzt war und sie nicht galoppieren durften, damit seine Wunden nicht aufbrachen. Javet hatte schon fast vergessen, wie schrecklich die Atmosphäre im Grenzland war. Nirgends Spuren von Leben und wenn doch, dann war klar, dass sie von Strahlenkranken stammten. Eine traurige Landschaft voller Staub, Steinen und bleichen Knochen. Wie viele Menschen hier schon gestorben waren...
»Jetzt musst du uns weiter führen«, erklang Qing Xins Stimme. Er wirkte überhaupt nicht nervös, obwohl er eine Gegend betrat, in der das Risiko, die Strahlenkrankheit zu bekommen, erheblich anstieg. Andererseits war er vermutlich ein Magier und konnte sich demnach im schlimmsten Fall selber heilen.
Javet nickte nur und trieb Hong Tuzi an. Qing Xin folgte ihm auf seinem fahlen Hengst Zhiyu, wobei er Domador mit der freien Hand festhielt, damit er nicht runterfiel. Das schwarze Pferd des verletzten Kriegers, dessen Zügel an Qing Xins Sattel festgebunden waren, trabte mit gesenktem Kopf hinter ihnen her. Werden wir zu spät kommen, fragte Javet sich verzweifelt. Bis Hölle brauchen wir noch einige Tage. Besonders, weil ich den Weg bisher nur zwei Mal gegangen bin und mich leicht verlaufen könnte. Was, wenn die Triglaza schon hier waren? Was, wenn die Menschen von Hölle den Kampf verloren haben oder nicht rechtzeitig fliehen konnten und wir in eine Stadt voller Sklaven kommen?
Ohne viel zu reden führte Javet Qing Xin durch das Grenzland und dann weiter hinein ins Totenland. Er kramte tief in seinem Gedächtnis herum, um sich genau an den Weg nach Hölle zu erinnern, den sie damals genommen hatten. Gleichzeitig versuchte er, sich seine Unsicherheit nicht anmerken lassen. Und seine sich steigernde Angst. Hoffentlich begegnen wir keinen Zapatillas Negras. Oder anderen Untieren.
Als sie über den schwarzen Stein trabten, auf dem die Automobile herumstanden, zuckte er bei jedem Geräusch, bei jedem leisen Knirschen und Knarzen des verrosteten Metalls, zusammen. Qing Xin ließ nicht erkennen, ob er Javets Furcht bemerkte, folgte ihm einfach nur schweigend. Am Abend leuchteten in einiger Entfernung die ersten Lichter von Hölle auf. Etwas weiter links, nördlicher, weitere. Das muss die andere Stadt sein. Vernichtung.
Auch Qing Xin schien die Lichter gesehen zu haben. »Die andere Stadt?«, fragte er. »Die, die Domador erwähnt hat?«
»Ja«, bestätigte Javet. »Wenn die Triglaza wirklich noch nicht da waren, werden wir zu ihnen gehen und sie um Unterstützung bei dem Kampf bitten. Dann wirst du hoffentlich alle heilen können, sodass wir sie auch die Menschen aus Vernichtung runter in den Pazifik führen können.«
»Ich werde erst zu der anderen Stadt aufbrechen«, sagte Qing Xin auf einmal.
Javet drehte sich im Sattel überrascht zu ihm um. »Was? Warum?«
»Unsere Zeit ist knapp«, antwortete er. »Bis Hölle brauchen wir noch einige Zeit und bis wir den Bürgermeister davon überzeugt haben, einen Boten nach Vernichtung zu schicken, wird es ebenfalls etwas dauern. Wenn wir so viele Menschen wie möglich retten wollen, müssen wir sie schon vor der Ankunft der Triglaza aus den Städten hinaus führen. Wenigstens die, die keine Krieger sind und nicht kämpfen können. Ich werde mit dem Bürgermeister von Vernichtung sprechen, während du mit Hierro redest.« Der Westländer hielt seinen Hengst an und stieg ab, wobei er Domador immer noch festhielt. Er ließ den Krieger vorsichtig von Zhiyus Rücken gleiten und schlug ihm leicht gegen beide Wangen, bis er die Augen öffnete. »Domador, wir sind schon fast in Hölle. Du musst den Rest des Weges alleine reiten. Schaffst du das? Du musst bei Bewusstsein bleiben.«
Domadors Augenlider flatterten leicht, aber er nickte schwach. Schwankend und mit Qing Xins Hilfe wankte er zu seinem schwarzen Hengst und wuchtete sich auf seinen Rücken, wo er in sich zusammengesunken und mit schmerzverzerrtem Gesicht sitzen blieb. Javet fürchtete, er würde jeden Moment wieder runterfallen. Als Domador seinen Blick sah, biss er die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich schaff das schon.« Seine Stimme war kaum zu hören.
Qing Xin löste die Zügel von Zhiyus Sattel und band sie an dem von Hong Tuzi fest. Dann schaute er zu Javet auf. »Mach dir keine Sorgen. Schaffe alle Menschen schonmal aus Hölle raus und am besten hierher.«
»Holst du dann die Menschen aus Vernichtung auch hierher?«, fragte Javet.
Qing Xin nickte. »Wir treffen uns hier wieder.« Damit ging er zurück zu Zhiyu, stieg auf und galoppierte in Richtung Vernichtung davon.
Javet sah ihm eine Weile nach. Wird er wirklich so viele Menschen heilen? Ist er also tatsächlich ein Magier? Und wie möchte er den Bürgermeister von Vernichtung überhaupt davon überzeugen, seine Stadt zu verlassen?
»Reiten wir jetzt los oder nicht?«, hörte er hinter sich die gepresste Stimme von Domador. »Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte.«
»Ja, ja«, sagte Javet schnell und trieb Hong Tuzi erneut an. Die Hufe der zwei Pferde klapperten laut über den schwarzen Stein, der an einigen Stellen so glatt war, dass er sogar das Mond- und Sternenlicht reflektierte. Ab und zu blickte er nach hinten, um sich zu vergewissern, dass es Domador den Umständen entsprechend gut ging. Der Krieger sah furchtbar aus. Schweiß stand auf seiner Stirn, die Augen glänzten fiebrig.
Irgendwie schafften sie es trotzdem unbeschadet bis zu dem Haufen aus Metallstangen und -platten, durch den der Tunnel in die Stadt führte. Javet atmete tief durch und ritt hindurch. Da es bereits Nacht war, waren die Straßen fast vollkommen leer. Dafür schien aus einigen Fenstern das Licht von Laternen oder einem seltsamen, weißen Schein, der irgendwie nicht wie Feuer aussah. Ohne anzuhalten lenkte er Hong Tuzi zum Rathaus. Davor hielt er an, stieg ab und half Domador von Sult herunter. Der Krieger atmete schwer, sog scharf die Luft ein, als er mit seiner Wunde das Fell des Tieres streifte.
»Wir müssen... meinen Vater... wecken«, presste er hervor und wollte einen Schritt nach vorne gehen, fiel jedoch hin. Aus Reflex wollte er sich mit den Händen abfangen, berührte dabei allerdings mit seinem Armstumpf den harten Stein. Ein gequälter Schrei verließ seine Kehle, bevor er die Augen verdrehte und das Bewusstsein verlor.
»Domador!« Javet stürzte neben dem Krieger zu Boden und schüttelte ihn. »Domador! Wach auf!« Verzweifelt hielt er ihm einen Finger unter die Nase und stellte erleichtert fest, dass er noch atmete. Auch sein Herz schlug noch, aber frisches Blut sickerte aus der Wunde an seiner Seite. Fluchend stand Javet auf und wollte einen Verband aus der Satteltasche holen, als ihm auffiel, dass dieser sich nur in der von Zhiyus Sattel befand, auf dem Qing Xin nach Vernichtung geritten war.
Im selben Moment wurde die Tür des Rathauses aufgerissen und zwei Krieger traten aus dem Gebäude. Bei Domadors Anblick schnappte einer von ihnen entsetzt nach Luft und eilte wieder hinein. Wahrscheinlich, um Hierro, Domadors Vater und den Bürgermeister von Hölle, zu holen. Der andere, den Javet nun als Aguarde erkannte, lief zu ihm und ließ sich neben ihm nieder. Als er die schweren Verletzungen sah, weiteten seine Augen sich vor Entsetzen. Blitzschnell zückte er einen Dolch und schnitt sich damit ein Stück seines Hemdes ab, das er auf die blutende Wunde presste.
»Es tut mir leid«, flüsterte Javet, obwohl er wusste, dass Aguarde kein Ostländisch verstand. »Es tut mir so leid.«
»Domador!« Die donnernde Stimme gehörte Hierro. Der Mann erschien in der Tür des Rathauses und rannte zu seinem Sohn hinüber. Er kniete sich neben ihm hin, zischte Aguarde etwas auf seiner Sprache zu, der daraufhin aufstand und wegtrat, und wandte sich dann mit wütend funkelnden Augen an Javet. »Was hat das zu bedeuten? Was hast du mit ihm gemacht!«
»Es tut mir leid! Ich...« Er kam nicht dazu, weiter zu sprechen, weil Hierro ihn mit seinem Metallarm am Kragen packte und zu sich runter zog. Javets Knie stießen schmerzhaft gegen den harten Stein, aber er unterdrückte einen Schrei.
»Du bringst meinen Sohn in so einem Zustand zurück und dir fällt nichts anderes ein, als dich zu entschuldigen?«, brüllte er. »Ich möchte verdammt nochmal wissen, was passiert ist! Bist du dafür verantwortlich? Wo sind Sera und Estrella? Antworte! Antworte oder ich werde dich hier und jetzt umbringen, das schwöre ich beim Leben meines Sohnes!«
»Sie...« Javet wusste nicht, wie er all das, was passiert war, in kurzen Worten zusammenfassen sollte.
Hierros Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was hast du getan? Du hast nichts als Unglück gebracht! Du...«
Plötzlich ertönte Domadors Stimme, leise, kaum hörbar. Er hob schwach seine linke Hand und legte sie beruhigend auf den Unterarm seines Vaters, sagte etwas auf seiner Sprache. Hierro fuhr zu ihm herum. Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er richtete den Oberkörper seines Sohnes ein Stück auf und bettete ihn in seinen Schoß, während er mit Tränen in den Augen Domadors Erzählung zuhörte. Immer wieder strich er seinem Sohn durch die schwarzen Haare als würde er ihn trösten. Javet stand betreten daneben und ging ein Stück zur Seite, als Aguarde mit mehreren Verbänden und kleinen Fläschchen mit Flüssigkeiten kam. Bei ihm war eine junge Frau, die sich neben Domador niederkniete und begann, seine Wunden vernünftig zu versorgen.
»Ihr habt viel durchgemacht«, wandte Hierro sich an Javet, nachdem Domador ins Rathaus gebracht worden war, damit er sich weiter ausruhte. »Dennoch werde ich mich nicht für meine Reaktion entschuldigen. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre Domador nicht so schwer verletzt worden.« Er seufzte und bedeutete dem Jungen, sich neben ihn auf die Treppenstufen zu setzen. »Du weißt, dass ihm sein Schwertarm abgetrennt wurde? Er wird nie wieder so gut kämpfen können wie vorher. Selbst wenn er lernt, das Schwert mit der linken Hand zu halten... Das ist ein schwerer Schlag für ihn.«
Javet presste die Lippen fest zusammen. »Ihr habt doch auch einen Metallarm«, hob er vorsichtig an. »Könnt Ihr ihm nicht einen solchen anfertigen?«
Hierro runzelte die Stirn, ließ den Kopf hängen. »Ich habe ihn nicht angefertigt. Ich habe ihn in den Ruinen von Hölle gefunden und es hat mich viel Geduld und viele Schmerzen gekostet, ihn so anzufügen, dass ich ihn wirklich benutzen konnte. Es hat mehrere Stunden gedauert, in denen ich zwischendurch das Bewusstsein verloren habe. Ich kann ihn nicht einfach so abnehmen. Und ich wünsche niemandem die Schmerzen, die ich damals erlitten habe. Erst recht nicht meinem eigenen Sohn.«
Der Mann seufzte und massierte sich mit geschlossenen Augen die Schläfen. »Unabhängig davon: Domador hat mir auch von den Triglaza berichtet. Wir müssen Hölle sofort verlassen. Am besten noch in dieser Nacht. Ich werde meinen Leuten gleich befehlen, die Menschen aus ihren Betten zu holen.« Er blickte Javet von der Seite aus an. »Ich hoffe nur, dass dieser Qing Xin es wirklich schafft, uns alle zu heilen, bevor die Triglaza kommen. Stimmt es, dass er nach Vernichtung aufgebrochen ist?«
»Ja.«
Hierro schnaubte. »Eine verdorbene Stadt, aber was soll's. Ich wünsche niemandem einen solchen Tod wie deinem Mädchen.«
»Annie«, flüsterte Javet und fuhr dabei über den Knauf seines Schwertes. »Ich werde sie nie vergessen.«
»Das wird bestimmt niemand von denen, die sie kannten.« Hierro klatschte in die Hände und stand auf. »Es ist soweit. Wir dürfen nicht weiter zögern.«
»Was ist mit Sera und Estrella?«, rief Javet dem Bürgermeister hinterher, der schon fast die Tür erreicht hatte. »Wir dürfen sie nicht einfach im Stich lassen! Wenn sie hierher kommen und Hölle leer vorfinden, sind sie in der Falle. Die Triglaza werden sie dann wahrscheinlich einfach töten!«
»Nicht wahrscheinlich«, berichtigte Hierro ihn. »Auf alle Fälle. Immerhin haben sie diesen Kinzhal als Geisel behalten und haben nun, nachdem sie die Triglaza in ihre neue Heimat geführt haben, keinen Nutzen mehr.«
»Dann müssen wir verhindern, dass die Triglaza ihnen etwas antun!«
Hierro nickte nach kurzem Zögern. Javet konnte nicht glauben, dass der Bürgermeister die zwei Frauen wirklich im Stich gelassen hätte. »Ich werde eine Gruppe anführen, die sie da raus holt«, erklärte er. »Alle anderen werden schonmal in den Pazifik ziehen.«
Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und ließ Javet alleine zurück. Der Junge hielt sich den Kopf, der vor Müdigkeit bereits so schwer war, dass er ihn kaum oben halten konnte. Aber ich muss durchhalten. Noch diese Nacht. Noch so lange, bis alle in Sicherheit sind. Aber vielleicht kann ich mich hinlegen. Nur kurz. Nur ganz kurz...
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Alles, was Vernichtung angeht, wurde überarbeitet. Aus Gründen :)
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