41. Kapitel
Ideen brauchen keine Waffen, wenn sie die großen Massen überzeugen können.
Fidel Castro
Das Scheppern der Rüstungen der Garderitter war laut und klar zu hören. Sie waren die ersten, die die Plattform betraten und alle Ecken überprüften, um sicher zu sein, dass kein Attentäter sich hier versteckt hatte, um einen der Herrscher zu ermorden. Javet presste sich noch enger an die Felswand hinter sich. Es war nicht unwahrscheinlich, dass die Garderitter von der verlassenen Plattform wussten und auch diese untersuchen würden. Andererseits war der Vorsprung für einen Erwachsenen, noch dazu mit Rüstung, zu schmal und die Treppe war kaum auszumachen. Javet baute einfach auf die Faulheit der Garderitter. Sie hatten sich auch keine Mühe gemacht, seine Eltern damals zu beschützen, als klar war, dass Miro ihnen überlegen war.
Und er hatte Recht. Kurz darauf schepperten die Schritte eines Garderitters die Stufen wieder hinab, während die anderen auf der Plattform blieben und warteten. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis Javet die Stimmen mehrerer Menschen hörte, die immer lauter wurden.
»Wenigstens bin ich noch nicht so lange schwanger, dass ich die Treppe keuchend hochgehen müsste«, erkannte er die Stimme von Königin Sunna.
»Beim nächsten Treffen wirst du den anderen bereits unseren Sohn präsentieren können«, antwortete ihr ein Mann.
»Ich hoffe nur, die kleine Hexe weiß, was ihr droht, wenn mit ihm irgendwas nicht stimmt«, zischte Königin Sunna. »Und um ihretwillen hoffe ich auch, dass sie uns nicht hierher gefolgt ist. Sollte sie mir auch nur ein einziges Mal vor die Augen laufen, bringe ich sie um. Wie kann ein Kind nur so dreist sein?«
»Du hast geschworen, ihr nichts zu tun.«
»Wir sind hier nicht im Nordland«, entgegnete die Königin kühl. »Ich kann einen der anderen Könige bitten, einen Garderitter auf sie los zu schicken. Oder möchtest du es lieber machen? Du hast schließlich nichts geschworen.«
»Du weißt, dass ich das nicht kann.«
Die Königin lachte kurz auf und wandte sich dann anscheinend an einen Garderitter: »Alles gesichert?«
»Ja, meine Königin.«
Javet hörte, wie Stühle hin und her geschoben wurden. Dann setzte leises Gemurmel ein, das er nicht mehr verstand. Es vergingen weitere dreißig Minuten, bis die nächsten Stimmen erklangen. Diesmal verstand der Junge nicht, worüber geredet wurde, aber der Sprachmelodie nach musste es sich um die Königsfamilie des Westlands handeln. Er widerstand der Versuchung, ein Stück vor zu rücken, um einen Blick auf Königin Yin zu werfen. Wie sie wohl aussieht? Hat sie wirklich eine Gesichtshälfte, die von der Strahlenkrankheit entstellt ist?
Das Gefolge des Süd- und Ostlandes kam zusammen, wie Javet nicht weiter verwundert feststellte. Natürlich, sie sind jetzt Verbündete. Auch Königin Sunna und Königin Yin schienen bereits davon zu wissen. Es gab keine erstaunten Ausrufe, sondern nur einen höflichen Wortaustausch.
»Wie ich hörte, kann ich Euch nun mit König Sharaf ansprechen«, erklang Königin Sunnas Stimme auf Ostländisch. »Meinen Glückwunsch.«
»Danke«, erwiderte ein Mann.
Der neue König des Ostlands, dachte Javet und prägte sich die Stimme ein. Der Ehemann von Königin Alina.
»Wie ich weiterhin hörte, gab es einen kleinen Aufstand der Garderitter in Burg Fedha«, fuhr Königin Sunna fort. »Mich interessiert wirklich, worum es da ging. Angeblich ist eine Frau, die Königin Alina verdammt ähnlich sieht, aus Ngome in Richtung Osten geflohen. Umso mehr wundert es mich, sie nun hier zu sehen.«
»Die Fähigkeiten Eurer Spione haben nachgelassen, fürchte ich«, entgegnete König Sharaf. »Es stimmt, dass einige aus Ngome geflohen sind. Aber vor allem Bleichgesichter, die nicht mit den neuen Gesetzen klar kommen, die wir eingeführt haben.«
»Ihr habt also auch schon die Begriffe des Ostlands übernommen«, sagte Königin Sunna. »Sehr lobenswert, sehr lobenswert.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich frage mich nur, ob Ihr mit diesen Gesetzen nicht zu weit gegangen seid.«
»Zu weit gegangen?« König Sharaf lachte auf, doch die Spur von Verachtung war nicht zu überhören. »Das ausgerechnet von Euch zu hören, interessant. Gibt es im Nordland nicht bereits Aufstände der – wie Ihr sie nennt – Schwächlinge? Angeblich nur, weil Ihr gewisse Freiheitskämpfer hingerichtet habt. Und dann wurdet Ihr auch noch von einem kleinen Jungen des Ostlands an der Nase herumgeführt.«
»Ihr seid gut informiert«, zischte Königin Sunna.
»Das ist meine Pflicht.«
Bevor die Königin des Nordlands darauf etwas sagen konnte, erklang eine weibliche Stimme, die wahrscheinlich Königin Yin gehören musste. Allerdings benutzte sie nicht ihre eigene Sprache, sondern vermutlich die des Südlands. Jemand antwortete ihr. Javet hörte, wie die anderen leise murmelten oder schnaubten. Nach weiterem Stühlerücken wurde es kurz leise. Dann ertönte die Stimme von König Sharaf.
»Aus Rücksicht auf Königin Alina möchte ich darum bitten, dieses Treffen auf Ostländisch abzuhalten«, sagte er. »Ich weiß, dass dieses Jahr das Nordland der Gastgeber ist, aber meine Frau braucht noch etwas, um Eure Sprache zu lernen, Königin Sunna.«
Diese schnaubte. »Meinetwegen.«
»Wie ich sehe, erwartet Ihr ein Kind«, erklang eine Stimme, die Javet als die von Königin Yin erkannte. »Ich beglückwünsche Euch, Königin Sunna. Und König Borne natürlich auch. Kinder sind ein Segen. Meine eigene Tochter wird bald heiraten. Ich möchte Euch gerne ihren zukünftigen Ehemann vorstellen.«
Während Javet auf der verlassenen Plattform hockte, lauschte er und wartete geduldig darauf, dass König Sharaf an die Reihe kam, um von den Neuigkeiten des Ostlands zu berichten. Nach Königin Yin erhob jedoch zuerst der König des Südlands die Stimme. Er schien älter zu sein als die anderen Herrscher und wurde an einigen Stellen von einer Frauenstimme abgelöst, die vermutlich seine Ehefrau war. Danach kam Königin Sunna. Als ihr Bericht sich dem Ende zuneigte, stand Javet auf und kletterte so leise er konnte die unfertigen Stufen hinab, bis er auf der richtigen Treppe stand. Die Garderitter hatten ihm den Rücken zugewandt, vollständig auf Königin Sunna konzentriert. Sie schloss ihren Bericht ab und nickte schließlich jemandem zu, dessen Körper von einem Garderitter verdeckt wurde.
»König Sharaf, sicher gibt es von Eurer Seite aus noch mehr zu erzählen als Eure Heirat mit Königin Alina und dem Zwischenfall in Burg Fedha.«
Javet sammelte all seinen Mut, entspannte sich und stieg die letzten Stufen hoch. Dabei trat er schwer auf, damit die Garderitter ihn klar hörten. Wie erwartet wirbelten zwei der Ritter herum, Hände auf ihren Schwertern. Als sie sahen, dass es nur ein Junge war, zögerten sie jedoch.
»Wer ist da?«, fragte Königin Sunna auf Nordländisch.
»Ein Junge, meine Königin«, antwortete einer der Garderitter. »Ostländer. Wahrscheinlich ein Bettler. Ich schick ihn weg.«
»Ihr wollt mich wegschicken, obwohl ich gerade an der Reihe bin, über die Lage im Ostland zu berichten?«, fragte Javet mit fester Stimme auf Nordländisch.
Die Anwesenden waren offensichtlich verwirrt. »Was zum Henker? Bettler können nur die Sprache ihres eigenen Landes!«, rief Königin Sunna und seufzte. »Schick ihn weg, Nøl.«
»Erkennt Ihr mich nicht, Königin Sunna?«, wandte Javet sich nun direkt an die Königin und wich der Hand des Garderitters aus, der ihn gerade am Arm packen und die Treppe runter zerren wollte. »Ich habe einen Eurer Berserker getötet, damals, vor Burg Jern. Erinnert ihr Euch nicht?«
»Bring ihn weg, Nøl!«, befahl Königin Sunna wütend, doch im selben Moment erklang die Stimme von Königin Yin.
»Mir scheint, hier gibt es Klärungsbedarf«, sagte sie.
»Was für ein Klärungsbedarf? Es ist verboten, hier hoch zu kommen, solange das Treffen läuft!«
Plötzlich ertönten leise Schritte und hinter den zwei Garderittern, die die Treppe bewachten, tauchte eine hellhäutige Frau auf. Sie hatte ihre Haare nach oben gesteckt und sie waren zusätzlich noch mit allerlei Kämmen und Haarnadeln verziert, doch am auffälligsten war der gräulich schwarze Hautausschlag, der ihre rechte Gesichtshälfte entstellte. Ihre mandelförmigen Augen musterten Javet neugierig.
»Warum hast du gesagt, dass du an der Reihe wärst, über die Lage im Ostland zu berichten?«, fragte Königin Yin mit sanfter Stimme.
»Weil es mein alleiniges Recht ist«, erwiderte Javet entschlossen und betrat nun endgültig die Plattform. Die zwei Garderitter machten Anstalten, ihn aufzuhalten, aber die Krieger, die Königin Yin bewachten, legten ihrerseits drohend die Hände auf die Schwerter. Letztendlich wurde Javet durchgelassen.
Er hielt sich nicht allzu lange damit auf, die Menschen an den hinteren Tischen zu betrachten, sondern wandte seinen Blick sofort den Herrschern am runden Tisch zu. Schnell sortierte er die Könige und Königinnen ihren Ländern zu. Es stellte sich heraus, dass König Sharafs linke Gesichtshälfte von einer Narbe verunstaltet wurde, die sogar eines seiner Augen trübe weiß verfärbt hatte. Neben ihm saß eine junge Frau, offensichtlich Ostländerin, mit langen schwarzen Haaren, die ihr bis zum unteren Teil des Rückens reichten. Sie hatte den Kopf gesenkt. Eine goldene Kette, die von ihrem linken Ohr bis zu einem Blumenstecker in der Nase führte, streifte ihre Wange. Ihre behandschuhten Hände krallten sich in das prächtige, dunkelgrüne Kleid, das sie trug.
»Du!«, stieß Königin Sunna aus, während die restlichen Herrscher sich von ihren Stühlen erhoben und Javet genau im Auge behielten. Er achtete darauf, die Hände keinesfalls in der Nähe seines Schwertknaufs zu haben. Sonst könnten sie ihn als Bedrohung ansehen und ihren Garderittern befehlen, ihn zu ergreifen.
»Ihr kennt diesen Jungen?«, fragte der König des Südlands, König Abdul, überrascht und neugierig zugleich. »Stimmt das, was er sagt?«
Königin Sunna schnalzte mit der Zunge. »Und wenn es so wäre! Er hat hier nichts zu suchen!«
»Lasst ihn doch erstmal ausreden«, sagte Königin Yin und trat neben einen Mann, der ein Gewand in derselben Farbe wie sie trug. Vermutlich ihr Ehemann.
»Mein Name ist Javet«, hob er auf Ostländisch an, ging im Kopf ein letztes Mal alles durch, was Qing Xin ihm beigebracht hatte. Er stellte sich so hin, dass er möglichst selbstbewusst und entschlossen aussah. Die Beine auf Schulterbreite, die Arme entspannt neben sich, Augenkontakt mit den wichtigsten Anwesenden. Alles Kleinigkeiten, die jedoch viel ausmachten. »Ich bin der erstgeborene Sohn König Witans, des hundertelften Königs des Ostlands, und seiner Ehefrau Sybille.«
»Prinz Javet ist tot«, warf wie erwartet jemand ein. Einer der Männer aus dem Gefolge des Ostlandes war von seinem Tisch weiter hinten aufgestanden und trat vor, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Trotz der harten Worte, die er sagte. »Er starb in einem Sandsturm, nachdem die Hofdame Marielle mit ihm aus Ngome in Richtung des Grenzlands geflohen war.«
»Ich nehme an, es wurden keine Überreste gefunden«, entgegnete Javet kühl.
Der Mann öffnete den Mund, schloss ihn wieder und nickte schließlich. »In der Tat, in der Tat. Aber das ist nicht weiter verwunderlich. Sandstürme sind sehr zerstörerisch. Selbst die Leichen der Garderitter, die ihnen damals gefolgt sind, wurden nicht gefunden.«
»Dies ist die Wahrheit, an die alle glauben«, sagte Javet. »Doch diese Wahrheit umfasst nicht alle Fakten. Genauso könnte ich behaupten, die Erde wäre eine Scheibe, da der Horizont flach ist. Aber dies erklärt nicht, warum die Sonne auf und unter geht, warum der Mond ab- und zunimmt oder warum die Sterne im Laufe des Jahres über den Himmel wandern. Um die einzige und richtige Wahrheit zu erkennen, muss man alle Fakten berücksichtigen, was in Burg Fedha unter König Miro anscheinend nicht geschehen ist.«
Zufrieden bemerkte er, wie einige der Anwesenden verwirrt blinzelten. Andere wirkten eher neugierig oder skeptisch. Doch er hatte nun ohne Zweifel ihre Aufmerksamkeit.
»Fakt eins«, fuhr er fort. »Die Leichen von Marielle und Prinz Javet wurden nie gefunden, weil es keine Leichen gab. Fakt zwei, der Königsfamilie und ihren engsten Vertrauten war bekannt, dass Marielle eine Magierin war. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass sie es war, die den Sandsturm beschworen hat, um ihre Verfolger abzuhängen und den ältesten Königssohn zu retten. Findet sich hier jemand, der vor zwölf Jahren schon in Burg Fedha war?«
Wieder trat der Mann vor, der zuvor schon gesprochen hatte. Links von ihm erhob sich ein weiterer, der noch älter war. Javet beschloss, eher ihn anzusprechen. Der andere mit dem stetigen Lächeln im Gesicht erschien ihm nicht vertrauenswürdig. Es war zwar nur ein Gefühl, aber Qing Xin hatte ihm dazu geraten, unbedingt darauf zu hören.
»Wie ist Euer Name?«, fragte Javet deshalb den anderen Mann. Er war eher untersetzt und hatte eine gedrungene Statur.
»Dawa«, sagte er und fügte nach kurzem Zögern vorsichtshalber noch ein »Herr« hinzu.
»Dawa, wer seid Ihr am Hof von Burg Fedha?«
»Unter König Witan und König Miro war ich der königliche Heiler«, antwortete er und knetete leicht nervös die Hände. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.
»Demnach könnt Ihr bestätigen, dass Marielle eine Nordländerin mit heller Haut, roten Haaren und blauen Augen war?«
»Ja«, sagte Dawa. »Herr.«
»Bei ihrer Flucht wurde sie schwer an der Schulter verletzt, stimmt das?«
»Ja«, sagte der Mann erneut.
»Sie floh zunächst mit einem Pferd, das jedoch bald stolperte und sich ein Bein brach. Den Rest des Weges zum Grenzland musste sie zu Fuß zurücklegen. Könnt ihr auch das bestätigen?«
»Ja.« Dawa wirkte nun so verunsichert, dass seine Augen überall hinsahen nur nicht zu Javet. Der Junge beschloss, den Mann zu erlösen und wandte sich stattdessen an den ewig Lächelnden.
»Darf ich fragen, was Euer Name ist?«
»Kunong'ona«, erwiderte der Mann mit einem freundlichen Lächeln. »Ich war ein einfacher Adliger, bevor König Miro mich zu seinem Berater ernannte. Aber ich wohnte in Burg Fedha und pflegte eine gute Beziehung mit der Königsfamilie.«
»Dann werdet Ihr sicher die Gesichtszüge meines Vaters in mir wieder erkennen.« Javet hob die Hände und strich sich die bereits lang gewordenen schwarzen Haare nach hinten, damit man sein Gesicht besser sehen konnte.
Das Lächeln von Kunong'ona gefror kurz, bevor es wieder einsetzte. »Ich fürchte, dies kann ich weder bestätigen noch widerlegen.«
»Das ist nicht schlimm«, sagte Javet. »König Witan hat in seiner Jugend mehrere Porträts von sich anfertigen lassen, die sich alle noch in Burg Fedha befinden müssten. Sicher wird es Sharaf und Alina keine Mühe bereiten, einen Boten loszuschicken, der sie holen soll, um sie mit mir zu vergleichen.«
Bei den letzten Worten schaute er zu den besagten Personen. Sharaf kochte vor Wut, die Hände zu Fäusten geballt, während Alina immer noch auf ihrem Stuhl saß und die Finger in ihr Kleid krallte.
»Du denkst, irgendwer hier würde dir glauben?«, brüllte Sharaf los. »Du bist nur ein dahergelaufener Junge! Tauchst hier auf und...« Es folgten einige Flüche auf Südländisch, bei denen König Abdul zornig die Brauen zusammenzog, jedoch schwieg.
»Wenn es stimmt, was du sagst«, hob nun Königin Yin an, »Wie hast du dann überlebt?«
»Marielle und ich kamen in einem Dorf namens Zamani im Grenzland unter«, erklärte Javet bereitwillig. »Die Strahlenkranken dort können bestätigen, dass Marielle und ich vor fünfzehn Jahren am Eingang des Dorfes auftauchten. Auf den Tag genau, denn meine Ziehmutter heiratete nur zwei Tage später einen von ihnen, um weiterhin in Zamani bleiben zu dürfen. Die Menschen dort können auch bestätigen, dass sie an der Schulter verletzt war.« Er verschwieg, dass Mgonjwa sich eher erhängen würde als Javet bei irgendwas zu helfen.
»Strahlenkranke?«, erkundigte Kunong'ona sich mit einem freundlichen Lächeln. »Ich entschuldige mich natürlich vielmals, aber müsstet Ihr nicht schon lange an der Strahlenkrankheit gestorben sein?«
»Die Übertragung der Strahlenkrankheit ist immer noch ein großes Rätsel«, belehrte Javet den Berater. »Einige behaupten, sie werde durch Berührungen übertragen, aber dies scheint nicht immer der Fall zu sein.«
»Wer glaubt schon Strahlenkranken?«, zischte Sharaf aufgebracht. »Sie würden jede Geschichte bestätigen, nur, um ihre kurze Zeit des Ruhms zu haben! ›Oh, wie toll, wir haben den König des Ostlands in unserem Dorf aufgenommen! Gebt uns unsere Belohnung!‹ Lächerlich, sie als Zeugen haben zu wollen!«
»Ihr solltet Eure Zunge hüten, Sharaf«, sagte Javet. »Ihr wisst nicht, wen Ihr gerade unwissentlich beleidigt habt.«
Sharaf schien erst nicht zu verstehen, was er meinte, als sein Blick auf Königin Yin fiel, die ihn mit zusammengepressten Lippen anfunkelte. Sogleich wurde er wütend. »Warum diskutieren wir überhaupt? Der Junge ist offensichtlich ein Hochstapler!« Er machte Anstalten, seinen Garderittern einen Befehl zu geben, als Javet sich an Alina wandte.
»Königin Alina«, sprach er sie an. »Stimmt Ihr der Meinung Eures Ehemannes zu? Bin ich ein Hochstapler?« Er wusste, dass er jetzt viel riskierte, aber wenn es wirklich so war, wie er dachte...
Die Frau hob langsam den Kopf, die Augen weit aufgerissen. Ihre behandschuhten Hände umklammerten immer noch den Stoff ihres Kleides. Sie räusperte sich, um etwas zu sagen, doch heraus kam nur ein leises Krächzen.
»Warum steht Ihr nicht auf und zeigt uns Eure Hände?«, fragte Javet weiter. »Warum tragt Ihr Handschuhe? Für mich als Schwertkämpfer ist das verständlich, aber Ihr?«
»Was sollen diese lästigen Fragen?«, fuhr Sharaf ihn an, doch Javet konnte sehen, dass er auf etwas gestoßen war.
Zu seiner Überraschung mischte sich nun jedoch auch die Königin des Südlands ein. »Lass die arme Frau in Ruhe«, forderte sie. »Du hast kein Recht, ihr etwas zu befehlen.«
»Die Frage ist, ob Alina überhaupt das Recht hat, auf diesem Stuhl zu sitzen«, warf Königin Yin ein. Sie hatte ihre Augen nun misstrauisch zusammengekniffen. »Wenn der Junge wirklich Javet ist, muss sie sowohl aufstehen als auch seine Befehle befolgen.«
»Halt die Klappe!«, zischte die Königin des Südlands, was Königin Yin nur dazu veranlasste, noch misstrauischer zu werden.
»Warum macht Ihr Euch solche Sorgen um die Handschuhe dieser Frau, Königin Marda?«, fragte sie. »Habt Ihr etwas zu verbergen?«
»Warum sollte ich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Königin Yin. »Aber vielleicht ist an dem Gerücht, dass Königin Alina aus Ngome geflohen ist, doch etwas dran? Wie kann es dann sein, dass sie hier sitzt? Wer ist diese Person, die sich so gar nicht verhält wie eine Königin?«
»Das Problem lässt sich ganz einfach lösen, indem Königin Alina aufsteht und ihre Handschuhe auszieht«, bemerkte ein Nordländer von den hinteren Tischen. Königin Sunna, die dem ganzen Geschehen mit einer Mischung aus Langeweile und Gleichgültigkeit gefolgt war, nickte zustimmend.
»Was glaubt ihr überhaupt, da zu finden?«, regte Sharaf sich auf.
»Ein Wasaliti-Zeichen«, antwortete Javet, bevor jemand anderes darüber spekulieren konnte. »Das Zeichen, das jemandem gegeben wird, der seinem Herrn untreu war oder ihn verraten hat. So ein Zeichen können nur Menschen haben, die einst Diener waren. Es ist also unmöglich, dass Königin Alina als Adlige ein solches hat.«
Alle Augen richteten sich nun auf die Frau, die auf dem Stuhl saß, der für die Königin des Ostlands vorgesehen war. Sie zitterte bereits am ganzen Körper. Langsam löste sie den Klammergriff um ihr Kleid und legte ihre Hände auf den Tisch.
»Die Handschuhe«, sagte Königin Sunna ungeduldig und fügte auf Nordländisch hinzu: »Begriffsstutzige Ziege.«
Die Frau warf Sharaf einen ängstlichen Blick zu, der unentschlossen neben ihr stand und seinerseits zu König Abdul und Königin Marda schaute. Als die Frau begann, an einem der Handschuhe herum zu zupfen, schoss seine Hand vor und ergriff sie am Unterarm, um sie aufzuhalten. Wütend wandte er sich an die anwesenden Herrscher.
»Gut! Sie ist nicht die echte Alina! Zufrieden?«, schrie er. »Was wollt ihr jetzt machen? Diesen Jungen auf den Thron setzen? Lächerlich!«
»Das ist alles ein Missverständnis«, erklang König Abduls Stimme. Der Mann trat vor und strich sich über den schwarzen Bart. »Ich entschuldige mich für meinen Sohn. Er wollte euch keineswegs hinters Licht führen. Er hat sich nur Sorgen um seinen Ruf gemacht. Wie wird er denn dastehen, wenn er zugibt, dass seine Ehefrau vor ihm geflohen ist? Er wird sie natürlich wiederfinden und weiterhin als König über das Ostland herrschen. Alles ist gut. Was diesen Jungen angeht...« Er funkelte Javet unfreundlich an. »Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber ich glaube ihm nicht.«
»Ich auch nicht«, stimmte Königin Marda zu.
Die Südländer an den hinteren Tischen murmelten zustimmend.
Königin Sunna schnalzte nur mit der Zunge und sagte nichts, während Königin Yin die Stirn runzelte.
»Mir scheint es, dass jemand einfach nur Angst hat, seinen zweiten Thron zu verlieren«, sagte sie. »Es ist nicht richtig, dass ein Südländer auf dem Thron des Ostlands sitzt, wenn doch ein rechtmäßiger Erbe der vorherigen Königsfamilie genau vor uns steht. Ich glaube König Javet.«
Javets Herz schlug schneller.
»Ihr glaubt ihm ohne jegliche Zeugen?«, fragte Königin Marda aufgebracht.
Königin Yin deutete wortlos auf Kunong'ona und Dawa, die immer noch bei den anderen Leuten weiter hinten standen.
»Mir reicht es!«, schrie Sharaf plötzlich. »Ich lasse mir den Thron nicht von so einem dahergelaufenen Hochstapler wegnehmen!«
Bevor Javet die Worte richtig begriffen hatte, hatte Sharaf seinen Garderittern schon etwas zugerufen. Die Männer zogen ihre Schwerter und stürzten auf den Jungen zu. Javet schaffte es gerade noch rechtzeitig, seine eigene Waffe zu ziehen und den ersten Angriff zu parieren. Überall erklangen wilde Schreie und Rufe. Befehle wurden gebrüllt. Um ihn herum brach das wahre Chaos aus. Er hatte keine Ahnung, wer auf welcher Seite war. Das einzige, was er wusste, war, dass er schnellstens hier weg musste.
Mit aller Kraft stieß er den nächsten Garderitter weg und hielt ihn mit seinem Schwert auf Abstand, während er zu dem Vorsprung rannte, der zur verlassenen Plattform führte. Dann kletterte er die unfertigen Stufen hinab. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Garderitter begriffen hatten, wo er hin war. Sie stürmten ihm nach, während auf der Plattform der Kampf tobte. Javet drehte sich nicht um, nahm teilweise zwei oder drei Stufen auf einmal. Er war wendiger und geschickter als die Männer, die ihn verfolgten, aber sie waren kampferfahrener. Mittlerweile hatten die Menschen am Fuß des Urbergs auch schon bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Javet hörte ihre aufgeregten Rufe, während er ihnen immer näher kam. Domador und Qing Xin!, schrie er in Gedanken. Ich brauche eure Hilfe! Jetzt!
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Eines meiner Lieblingskapitel O.o
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