32. Kapitel

Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen.

Emanuel Schikaneder

»Habt ihr euch entschieden?« Kinzhal hatte sich vor ihnen aufgebaut, Annie an seiner Seite. Wahrscheinlich hatte er sie mitgenommen, um Javet zu zeigen, dass sie nun nicht mehr frei war. Bei ihrem Anblick spürte er erneut Tränen in sich aufsteigen, doch er schluckte sie runter. Ich muss jetzt stark sein. Aber der Schmerz in seiner Brust ließ nicht nach. Es fühlte sich an, als hätte jemand ihm einen glühenden Eisenstab ins Herz gestoßen und würde ihn jetzt langsam hin und her drehen. Er unterdrückte ein Keuchen.

Am vorherigen Abend hatte er noch Zeit gehabt, Domador und Sera zu erzählen, was alles nach seiner Flucht aus Makali passiert war – Sera übersetzte dabei für ihre Schwester. Die beiden Frauen hatten ihm sein aufrichtiges Beileid zu Annie ausgedrückt, während Domador sowohl Kuimba als auch die Freiheitskämpfer lautstark auf seiner Sprache verfluchte. Zum Schluss hatten sie geschwiegen.

»Wir kennen diesen Jungen nicht«, zischte Domador und spuckte dem Triglaza vor die Füße.

Kinzhals Augen funkelten wütend auf und die Männer und Frauen, die ihn begleiteten, traten bedrohlich einen Schritt näher, bereit, ihre Säbel zu ziehen. Mit einer flüchtigen Handbewegung bedeutete er ihnen jedoch, sich zurückzuhalten. »Wenn das so ist, werdet ihr jetzt mit uns kommen. Der Zar möchte euch sehen.«

Bevor einen von ihnen protestieren konnte, wurden sie auf die Füße gezerrt. Zwei Triglaza lösten ihre Ketten und verdrehten ihnen gleichzeitig die Arme auf den Rücken. Auf diese Weise wurden sie aus dem Kerker hinaus die Treppe hoch geführt. Javet hörte Domador laut fluchen und Estrella kurz vor Schmerzen aufschreien, weil offenbar jemand gegen die Stummel ihrer Finger gekommen war.

Was ist der Zar?, fragte Javet sich und versuchte gleichzeitig, Blickkontakt mit Annie aufzunehmen. Aber sie ging gehorsam neben Kinzhal her, der ihnen den Weg wies. Ihre immer noch schwarz gefärbten Haare verschmolzen mit den Schatten, die zwischen zwei Fackeln herrschten. Schließlich kamen sie zurück in die Halle, doch nur kurz, denn es ging eine weitere Treppe nach oben. Hier gab es hohe, schmale Fenster, die den Blick auf eine tote, felsige Landschaft freigaben. Hier gibt es nicht mal Untiere, begriff Javet. Deshalb verschleppen sie die Menschen aus dem Grenzland. Sie sind ihre Nahrung. Aber warum werfen sie dann trotzdem einige von der Brücke? Das schaurige Piepen des anderen Geräts würde ihn sein Leben lang verfolgen.

Am Ende des Flures befand sich eine große Tür, die von vier Triglaza bewacht wurde. sobald sie Kinzhal und seine Begleiter sahen, machten sie ihnen den Weg frei, sodass sie eine weitere Halle betreten konnten, die allerdings um einiges kleiner war. Am anderen Ende saß ein grauhaariger Mann auf einem steinernen Stuhl, in den wirre Muster und scheinbar sogar kleine Figuren eingemeißelt waren. Aus dieser Entfernung konnte Javet das jedoch nicht genau erkennen. Sein Stirnband war nicht grau wie das der anderen Triglaza, sondern schimmerte golden. Um ihn herum standen drei leicht bekleidete Frauen, die offensichtlich Adlige aus dem Nordland waren. Ihre Augen starrten ins Leere.

»Zar Jeroslaw!« Zu Javets Verwunderung verbeugte sich Kinzhal vor dem alten Mann und die anderen Triglaza taten es ihm nach.

Ist er so etwas wie ein König?, fuhr es ihm durch den Kopf, bevor er zusammen mit Domador, Sera und Estrella nach vorne gestoßen wurde. Ein Tritt gegen den Unterschenkel brachte ihn dazu, sich auf dem harten Boden hinzuknien.

Der Zar musterte sie alle mit einem kühlen, nichtssagenden Blick, bevor er sich an Kinzhal wandte und offenbar etwas fragte. Dieser nickte, woraufhin der alte Mann an seinem Kragen herumfummelte. Dort trug er den gleichen kleinen Kasten – oder das gleiche Gerät, wie Domador und Sera es nannten – wie viele der Triglaza. Als er jetzt sprach, wurden seine Worte von einer leicht verzerrten Stimme ins Ostländische übersetzt.

»Ihr seid diejenigen, die von dem Ort namens Hölle kommen?«

Keiner antwortete. Domador starrte Zar Jeroslaw unverwandt mit seinen dunklen Augen an und Javet hatte das Gefühl, dass er mit dem Gedanken spielte, dem Anführer der Triglaza vor die Füße zu spucken. Zum Glück tat er es jedoch nicht.

»Ihr versteht nur Ostländisch und eine andere Sprache, die wir nicht kennen«, fuhr der Zar unbeeindruckt fort. »Daher vermute ich, dass eure Heimat sich weiter im Osten befindet. Warum wollt ihr uns nicht sagen, wo genau?«

Wieder Stille. Javet wusste nicht, was der Zar sich von diesem Verhör erhoffte. Wenn sie Kinzhal zuvor schon nichts erzählt hatten, warum sollten sie es jetzt tun?

»Eure Heimat scheint fruchtbarer zu sein als unsere«, meinte Zar Jeroslaw und sein Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Wenn wir sie erst erobert haben, werden wir sie zu einem viel besseren Ort machen. Wir werden die Technologie der Alten von hier dorthin bringen und installieren. Niemand wird mehr Angst vor der Strahlung und der Strahlenseuche haben müssen. Niemand wird mehr unseresgleichen essen müssen. Wenn ihr uns freiwillig zu eurer Heimat führt und sie uns übergebt, wird keiner von euch sterben müssen. Ihr werdet uns nur zu Diensten sein müssen.«

»Wir haben nicht vor, eure Sklaven zu sein!«, fuhr Domador ihn an und spuckte nun doch vor ihm auf den Boden. Sofort versetzte Kinzhal ihm eine schallende Ohrfeige, bei der seine Lippe aufplatzte.

»Denkt ihr, ihr werdet eine Wahl haben?« Zar Jeroslaw lachte auf eine Art, bei der es Javet eiskalt den Rücken runterlief. »Ihr kommt doch gar nicht gegen uns an! Eure Waffen können uns nicht verletzen und ihr habt keine Ahnung von der fortgeschrittenen Technologie der Alten!« Er streckte eine Hand zur Seite aus, woraufhin eine der Frauen ihm ein schwarzes Gerät in die Hand legte, das er hoch hielt. »Funkgeräte? Ist das das fortschrittlichste, was ihr kennt?« Er schleuderte es so heftig zu Boden, das es mit einem Knacken auseinander brach. »Seht ihr nicht, dass ihr euren einzigen Retter vor euch habt?«

»Ich sehe einen größenwahnsinnigen, alten Mann«, zischte Domador und leckte sich das Blut von der aufgeplatzten Lippe.

Das Gesicht des Zars verfinsterte sich. »Dann habt ihr keinen Nutzen mehr für uns. Früher oder später werden meine Kundschafter eure Heimat finden. Ich muss sie nur weiter nach Osten schicken. Und wenn wir Hölle gefunden haben, werden wir dort niemanden am Leben lassen! Wir werden ihnen sagen, wer für ihr Leid verantwortlich ist!« Er wandte sich an Kinzhal und sagte noch etwas in seiner Sprache. Als dieser nickte, wedelte er mit der Hand und Javet und die anderen wurden wieder auf die Füße gezerrt.

Keinen Nutzen mehr? Javet spürte Panik in sich aufsteigen. Werden sie uns töten? Er versuchte, Domadors Blick einzufangen, aber dieser wand sich im Griff seines Bewachers und schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Sera rief ihrer Schwester Wörter auf ihrer Sprache zu, deren Augen sich vor Entsetzen immer mehr weiteten. Nein! Nein! Sie dürfen uns nicht umbringen! Jetzt stemmte auch er sich mit den Füßen gegen den Boden und weigerte sich, weiterzugehen, aber der Triglaza, der ihn festhielt, war viel stärker als er. Schritt für Schritt wurden sie den Flur entlang und zur Treppe gedrängt.

»Annie!« Verzweifelt rief Javet nach dem Mädchen, das stumm neben Kinzhal her ging. Sie reagierte nicht. »Annie! Annie, bitte, hilf uns!« Verzweifelt klammerte er sich an die Möglichkeit, dass doch noch etwas von der alten Annie in ihr steckte. Dass sie seine Stimme erkannte und sich aus ihren geistigen Fesseln befreite. Dass sie nicht vollständig fort war.

Sie waren am Ende der ersten Treppe angekommen, als Annie sich auf einmal langsam umdrehte. Ihre Augen sahen in seine Richtung, begegneten seinem Blick. Und sie waren klar. Javet wäre vor Überraschung beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Ließ seine Todesangst ihn etwas sehen, was eigentlich nicht da war? Oder war sie wirklich...

Plötzlich entfernte Annie sich von Kinzhal. Der Triglaza bemerkte es zuerst nicht, blieb jedoch stehen, als sie in Richtung des Tores ging, das nach draußen führte. »Was machst du da?«, rief die verzerrte Stimme aus dem Gerät an seinem Kragen ihr hinterher. »Komm sofort zurück!«

Ungläubig sah Javet, wie Annie an einem Kasten in der Wand neben dem Tor rumfummelte. Und dann sprang es auf. Domador war der erste, der reagierte. Er stieß seinem Bewacher den Ellenbogen in die Magengrube und schickte ihn mit einem Tritt zwischen die Beine zu Boden. Im Nu war er bei Kinzhal, zog ihm den Säbel aus der Scheide und platzierte sich hinter ihm, die Klinge an seinem ungeschützten Hals. Die Triglaza, die sich eben erst von dem Schreck erholt hatten, hielten mitten in der Bewegung inne. Javet spürte, wie sein Bewacher ihn losließ. Sofort stolperte er nach vorne und in Sicherheit. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Annie immer noch am offenen Tor stand und ihnen wild zuwinkte.

Sie hat nur so getan!, fuhr es ihm durch den Kopf. Er konnte es nicht fassen. Sie hat nur auf den richtigen Augenblick gewartet!

Domador fuhr die übrigen Triglaza auf seiner Sprache an. Auch ohne ihn zu verstehen, wussten alle, was er wollte. Kinzhal war nun seine Geisel. Wenn jemand sich ihnen in den Weg stellte, würde er sterben. Langsam bewegten sie sich in Richtung des offenen Tores. Dort angekommen schloss Javet Annie in die Arme.

»Du bist wirklich noch du!« Ein Gefühl des puren Glücks durchströmte ihn. »Ich hätte mir nie verziehen, wenn du wirklich...«

»Dafür habt ihr später noch Zeit!«, blaffte Domador. »Wir sollten schleunigst von hier verschwinden!«

Er hat recht. Obwohl die Triglaza sie einfach gehen ließen, würde es nicht lange dauern, bis sie die Verfolgung aufnahmen. Schnell ergriff er Annie bei der Hand und zog sie hinter sich her, die steinerne Brücke entlang. Sera und Estrella flankierten Domador, der sich nun umdrehte und Kinzhal mit seinem eigenen Säbel vor sich hin trieb. Sera hatte es ebenfalls geschafft, einem der Triglaza eine Waffe zu entwenden.

»Ich weiß, dass dein Gerät dir alles übersetzt, was ich sage«, hörte Javet Domador zischen. »Du solltest wissen, dass wir nicht dumm sind. Vielleicht können unsere Waffen nichts gegen eure Schutzanzüge ausrichten, aber darunter seid ihr trotzdem normale, sterbliche Menschen.«

Javet gefiel das Grinsen nicht, das nach diesen Worten auf Kinzhals Lippen lag, aber im selben Moment legte sein Blick sich auf Annie. Sie lächelte ihn an als wäre nichts gewesen. Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag und er hätte sie am liebsten geküsst, aber sie mussten weiter. Wenigstens runter von der Brücke. Wo es danach hinging, müssten sie sich noch überlegen.

Javet wusste nicht, wie lange sie gelaufen waren, bis Domador endlich langsamer wurde. »Höhle«, sagte er und deutete auf ein dunkles Loch in einem Berghang.

»Werden sie uns so nicht einholen?«, fragte Sera besorgt, während der Mann Kinzhal in die Höhle bugsierte, den Säbel immer in seinem Rücken.

»Wir werden genug Zeit haben, um uns zu entscheiden.« Domador stieß den Triglaza auf den harten Höhlenboden und baute sich vor ihm auf. Kurz schien er zu überlegen, dann beugte er sich runter und riss ihm das Gerät ab, das vermutlich immer noch alles übersetzte. Er zertrat es mit seinem Stiefelabsatz. »Jetzt können wir uns frei unterhalten.«

In dem Moment sagte Estrella etwas und deutete auf Annie. Überrascht stellte Javet sich schützend vor sie. »Was hat sie gesagt?«

»Hast du uns nicht erzählt, dass sie Kinzhals Sklavin ist?«, hakte Domador nach. »Wie kann es sein, dass sie uns plötzlich das Tor öffnet?«

»Ich war nie seine Sklavin«, antwortete Annie selbst. »In dem Moment, in dem ich in das Gerät geschaut habe, hatte ich die Augen geschlossen. Was auch immer den anderen den Willen genommen hat, mich hat es nicht beeinflusst. Ich habe nur so getan, als hätte alles geklappt. Ich wusste, dass das vielleicht unsere einzige Fluchtmöglichkeit ist.«

Domador sah sie immer noch misstrauisch an und fuhr dann zu Kinzhal herum, der Annie irgendetwas zurief. Sobald die Spitzen zweier Säbel auf ihn zeigten, verstummte er jedoch und lächelte nur sein mysteriöses Lächeln.

»Was ist also unser Plan?«, fragte Javet. »Die Triglaza werden uns nicht einfach so gehen lassen, wenn wir Kinzhal weiterhin festhalten. Aber ohne ihn werden sie uns einholen, angreifen und töten.«

»Wir behalten ihn als Geisel«, bestimmte Domador.

»Sie sind uns trotzdem zahlenmäßig überlegen, sobald sie uns eingeholt haben«, meinte Sera.

Wieder sagte Estrella etwas und deutete dabei zwischen den Anwesenden hin und her. Javet verstand kein Wort. Doch sowohl Domador als auch Sera schienen ihr zuzustimmen, obwohl es ihnen sichtlich nicht gefiel.

»Sie meint, dass wir ihnen geben sollen, was sie wollen«, übersetzte Sera ohne dass Javet nochmal nachfragen musste.

»Hölle?« Javet sah Estrella entsetzt an, die jedoch nur mit den Schultern zuckte. Mit der linken Hand massierte sie die Stummel ihres rechten Zeige- und Mittelfingers.

»Dieser Zar hatte nur in einem recht«, erklärte Domador. »Früher oder später wird er Hölle auch ohne unsere Hilfe finden. Es wäre besser, wenn sie es früher tun. Und zwar, weil wir sie hinführen und unsere Leute warnen werden. Wir sind zwar nicht viele, doch zusammen mit den Kriegern aus Vernichtung werden wir die Triglaza bestimmt zurückschlagen können.«

»Vernichtung wird uns niemals unterstützen«, wandte Sera ein.

»Wenn es um ihr Überleben geht?« Domador hob eine Augenbraue. »Ich denke, wenn wir ihnen klar machen, dass sie sonst alle getötet oder des Willens beraubt und versklavt werden, werden sie keine andere Wahl haben als uns zu unterstützen.«

»Und was ist mit dem Heilmittel?«, fragte Javet. »Vielleicht könnt ihr die erste Welle der Triglaza zurückschlagen, aber was ist mit der nächsten? Ihr habt selber gesehen, wie viele Menschen in der Festung waren!«

»Um das Heilmittel kümmern wir uns«, sagte Domador und deutete auf sich und ihn. »Während Sera und Estrella die Triglaza mit Kinzhal als Geisel zu Hölle führen, besorgen wir das Heilmittel, damit wir nach der ersten Welle und nach deiner Krönung alle in den Pazifik bringen können.« Dabei zeigte er nacheinander auf die genannten Personen.

»Und Annie?« Javet hielt die Hand des Mädchens fester. »Sie kommt mit uns, oder?«

Domador schnalzte unzufrieden mit der Zunge, nickte dann aber und malte mit der Hand einen Kreis in die Luft, der sie drei einschloss. »Ja, sie kommt mit uns. Ich hoffe nur, dass sie uns nicht aufhalten wird. Ich würde das Heilmittel am liebsten schon vor dem Kampf mit den Triglaza in Hölle haben.«

»Werde ich nicht.« Annie lächelte freundlich.

Der Mann nickte sichtlich zufrieden und bedeutete Sera und Estrella, zu ihm zu kommen. Vermutlich besprachen sie noch einige Einzelheiten bezüglich der Verteidigung von Hölle. Dabei ließen sie Kinzhal jedoch keinen Moment aus den Augen und Domador hielt die Spitze des Säbels immer in seine Richtung.

Während die Erwachsenen redeten, drehte Javet sich zu Annie. Zärtlich strich er ihr durch die kurzen, schwarz gefärbten Haare. Er war froh, dass an den Ansätzen schon etwas mehr des hellen Blonds herausragte. So sah es ein wenig aus, als würde ihr Kopf strahlen. Wie ein Stern in der Nacht. Er beugte sich zu ihr rüber, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken, doch im selben Moment sagte Kinzhal etwas auf seiner Sprache und der Blick ihrer blauen Augen wurde leer. Plötzlich hatte sie einen Dolch in der Hand und hob ihn hoch über ihren Kopf, um ihn in Javets Körper zu versenken. 

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