3. Kapitel

Angst haben wir alle. Der Unterschied liegt in der Frage wovor.

Frank Thiess

Am nächsten Morgen ritt die Gruppe weiter. Nun gab es beinahe gar keine flachen Wegabschnitte mehr. Alles bestand aus steilen Berghängen und hoch aufragenden Felsnadeln. Wenn Javet über seine Schulter nach hinten schaute, konnte er einen großen Teil des Ostlands überblicken. Irgendwo am Horizont ragte der Urberg auf, an dem die Könige der vier Länder jedes Jahr zusammen kamen, um über wichtige Sachen zu beraten. So jedenfalls hatte Marielle es ihm erklärt.

»Ein trauriger Ausblick«, sagte Sera hinter ihm.

»Warum traurig?«, fragte Javet.

»Ihr Menschen aus dem Pazifik lebt in einer vollkommen verdrehten Welt«, meinte die Frau. »Sicher weißt du, dass es früher Gruppen von Menschen gab, die von anderen«, sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen, »diskriminiert wurden. Zum Beispiel Menschen wie du, mit dunkler Haut. Oder Menschen, die an einen anderen Gott oder allgemein Götter geglaubt haben. Oder Menschen, die aus einem anderen Land kamen. Oder Menschen, die in sich in das eigene Geschlecht verliebten. Selbst Frauen wurden anders behandelt als Männer. Ich könnte ewig so weiter machen. Sie wurden nicht als ›normal‹ angesehen. Aber wer weiß schon, was dieses Wort bedeutet?«

»Aber jetzt hat sich doch alles verändert«, wandte Javet ein. »Es gibt keinen Gott mehr und nur noch vier Länder, die aber in Frieden miteinander leben. Jeder darf sich frei bewegen und Frauen und Männer werden gleich behandelt.«

»Aber ihr nennt die Menschen mit heller Haut ›Bleichgesichter‹.«

»Ich nicht«, sagte Javet und dachte dabei an Marielle. In Zamani hatte es viele Leute gegeben, die sie so genannt hatten, aber weder sie noch er selbst hatten etwas dagegen unternommen. Zu sehr hatten sie gefürchtet, aus dem Dorf vertrieben zu werden, was letztendlich doch passiert war.

»Dann bist du einer der wenigen, die diesen Begriff nicht benutzen«, entgegnete Sera und hielt ihren Hengst kurz an, damit Domador mit seinem Pferd voraus gehen konnte. Vor ihnen lag ein schmaler Pfad, der von beiden Seiten mit zusammengeknickten Eisenstangen gesäumt war.

»Eure Welt ist nicht besser geworden«, fuhr Sera fort, als sie sich wieder in Bewegung setzten. »Sie ist einfach verdreht. Ein trauriger Anblick eben. In eurem Ostland werden Hellhäutige als Last gesehen, weil sie keinen natürlichen Schutz gegen die Sonne haben. Im Nordland werden jene verachtet, die nicht der heiligen Linie der Nordkrieger abstammen. Und im ganzen Pazifik kehrt man den Strahlenkranken den Rücken zu. Deshalb bleiben wir lieber in unserem Zuhause, auf dem Kontinent. Oder im Totenland, wie du es nennst.«

»Warum seid ihr eigentlich...« Er suchte nach den richtigen Worten, fand sie nicht und sagte schließlich einfach: »Nicht krank?«

»Wie meinst du das?«

»Es gibt doch die Strahlenkrankheit«, erklärte Javet. »Man bekommt sie, wenn man zu lange der Strahlung ausgesetzt ist, die nach dem Großen Krieg übrig geblieben ist, und manchmal auch, wenn ein Strahlenkranker einen berührt. Dann bekommt man einen Hautausschlag und die Haut fängt an, sich abzulösen oder Schlimmeres. Auch wird das Weiße von den Augen gelb. Einige Menschen werden mit der Strahlenkrankheit geboren. Sie haben dann mehr Gliedmaßen als normalerweise oder ihnen fehlen welche. Einige haben kein Geschlecht oder können sich nur noch von Blut ernähren. Es gibt welche, die zu perfekt aussehenden Frauen heranwachsen, aber sie können die Krankheit dann trotzdem übertragen. Vor einigen Jahren hat mein...« Fast hätte er sich versprochen. »... König Miro deswegen viele Frauen jagen und töten lassen. Es gibt auch Magier. Sie sehen äußerlich aus wie normale Menschen und gehören zu den wenigen Strahlenkranken, die nicht ansteckend sind, aber sie haben bestimmte Fähigkeiten...«

Er redete nicht weiter, weil Sera auflachte. »Du denkst, wir sind Magier? Da muss ich dich leider enttäuschen. Wir sind vollkommen gesund und nicht strahlenkrank. Das liegt an unseren Genen.«

»Genen?« Was ist das?

»Wenn ein Kind geboren wird, bekommt es ein paar Eigenschaften von der Mutter und einige vom Vater vererbt. Diese Eigenschaften liegen in den Genen versteckt. Anders kann ich es dir auch nicht erklären.«

»Und was hat das damit zu tun, dass ihr nicht krank seid?«

»Unsere Vorfahren haben sich geweigert, mit den anderen Menschen hinab in den Pazifik zu gehen, um ihn zu besiedeln«, fing Sera an zu erzählen. »Sie ließen sich in den verlassenen und zerstörten Städten nieder. Viele von ihnen starben durch die Strahlenkrankheit, aber einige überlebten. Allmählich schienen ihre Körper sich an die giftige Umgebung anzupassen und durch die Generationen hindurch wurde diese«, sie suchte erneut nach einem Wort, »Immunität weitergegeben. Alle, die jetzt in Hölle wohnen, können die Strahlenkrankheit nicht mehr bekommen.«

»Es gab die ganze Zeit Menschen im Totenland?«, rief Javet ungläubig aus, doch dann kam ihm ein anderer, beunruhigender Gedanke. »Warte, die Umgebung hier ist immer noch giftig! Giftig für mich, oder?«

Sera brummte nur zustimmend.

»Halt!« Er ergriff die Zügel, die die Frau in der Hand hielt und zog daran. Der Hengst warf seinen gespaltenen Kopf hoch und wieherte, woraufhin alle Pferde stehen blieben. Javet machte Anstalten, zu Boden zu springen, aber Sera schlang ihren Arm um seinen Oberkörper und hielt ihn so fest. Wütend versuchte er, ihren Griff zu lösen, was jedoch nicht klappte. »Was soll das? Lass mich los! Ich danke dir dafür, dass du mich so weit mitgenommen hast und sogar zur Stadt führen wolltest, aber ich kann hier nicht bleiben. Ich möchte nicht an der Strahlenkrankheit sterben!«

»Du kannst nicht zurück«, erklang die Stimme von Domador, der sich auf seinem Pferd zu ihnen umgedreht hatte. »Wir haben nur noch genug Vorräte für den Weg, der vor uns liegt. Dadurch, dass wir dir etwas abgegeben haben, sogar weniger als üblich. Wenn du jetzt zurückgehst, werden wir dir nichts mitgeben können. Außerdem kennst du den Weg nicht.«

Javet starrte den Mann verständnislos an. »Du wolltest mich erst gar nicht mitnehmen und jetzt bestehst du darauf, dass ich bei euch bleibe?«

Domador schleuderte Sera ein paar Worte entgegen, die missmutig schnaubte und etwas zurück gab. Der Mann verdrehte die Augen und sagte: »Wir haben nur versucht, nett zu dir zu sein. Du hattest kein Zuhause, also hat Sera vorgeschlagen, dich nach Hölle zu bringen, damit du bei uns wohnst. Vielleicht erkrankst du ja auch gar nicht. Du hast schon so lange in deinem Grenzland gewohnt, welchen Unterschied wird da der Kontinent schon für dich machen?«

»Einen großen!« Javet runzelte wütend die Stirn. Im Grenzland leben nur Strahlenkranke. Ich habe mich nur durch Glück nicht angesteckt. Aber im Totenland ist es anders. Hier ist die Strahlung aus dem Großen Krieg noch in Massen vorhanden!

»Wenn du unbedingt zurück möchtest, kannst du gehen«, seufzte Domador. »Aber das bedeutet den sicheren Tod.«

Ich werde doch nicht freiwillig sterben! »Wenn wir in Hölle ankommen, kann ich dann auch noch umkehren?«

Domador wechselte einen Blick mit Sera, nickte zögernd. »Wir werden dir Vorräte und einige Reiter mitgeben, die dich zu den giftigen Quellen führen. Aber du wirst mit niemandem über das sprechen dürfen, was du von uns erfahren hast. Wir existieren offiziell nicht.«

Javet kniff misstrauisch die Augen zusammen, als er Sera hinter sich seufzen hörte, stimmte dann aber mit einem knappen Nicken zu. »In Ordnung.«

Daraufhin ließ Sera ihn los und die Gruppe ging weiter den schmalen Pfad entlang. Warum bestehen diese Menschen darauf, dass niemand von ihnen weiß?, fragte er sich insgeheim. Es kann doch nicht nur daran liegen, dass sie selbst nicht in den Pazifik hinab wollen. Haben sie Angst, dass man sie entdecken könnte? Aber warum sollten sie? Sie scheinen viel fortgeschrittener als wir zu sein. Wissen, wie man Wasser filtert und was Gene sind. Sie sind sogar immun gegen die Strahlenkrankheit. Und selbst wenn man von ihnen wüsste: Niemand würde sich freiwillig in das Totenland begeben. Außer vielleicht ich. Es war dumm von mir, mit ihnen zu gehen.

Die nächste Rast legten sie bei Sonnenuntergang ein. Diesmal band die Gruppe ihre Pferde an einigen der eingeknickten Eisenstangen an und kroch in ein Loch, das von seltsamen Metallkonstrukten umringt war. Sie waren vollkommen verrostet und sahen aus wie zu groß geratene und überdachte Wagen.

»Automobile«, erklärte Sera beiläufig, während sie die bereitgelegten Decken ausbreitete. »Kurz Autos. Die Menschen früher benutzten sie, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Sie waren anscheinend ziemlich schnell, weswegen sie keine Pferde benutzten.«

»Könnt ihr sie auch benutzen?«, fragte Javet neugierig und fühlte sich sofort dumm, weil die Frau laut auflachte und ihm durch die Haare strubbelte.

»Natürlich nicht! Wo denkst du hin!« Sie ließ sich auf ihrer Decke nieder und der Junge tat es ihr gleich. »Sie sind alle kaputt und wir wissen nicht, wie sie funktioniert haben, also können wir sie auch nicht reparieren.« Ihre Augen huschten zu Domador rüber, der unweit von ihnen stehen geblieben war und sie anstarrte. Sera wandte sich mit einem leichten Lächeln schnell an Javet. »Schlaf jetzt besser. Wenn wir uns morgen beeilen, werden wir am Abend in Hölle ankommen.«

In dieser Nacht schlief Javet besser, was wohl daran lag, dass die Pferde mit den gespaltenen Köpfen draußen standen und keine Geräusche von sich gaben. Als er aus dem Loch kroch, erwartete ihn diesmal nicht Sera, sondern Domador. Er deutete auf seinen großen, schwarzen Hengst. »Du reitest diesmal mit mir.«

Javet konnte zwar keinen wirklichen Grund dafür erkennen, fragte aber auch nicht nach und stieg wortlos auf. Da Domador immer an der Spitze ritt, weil er wohl so etwas wie der Anführer der Gruppe war, hatte Javet von seinem Pferd aus eine perfekte Sicht auf das Totenland, das noch vor ihnen lag. Allmählich schien das Land flacher zu werden. Jedenfalls war der Weg nicht mehr so steil und er erkannte nur noch leichte Hügel und keine hohen Hänge am Horizont. Als er jedoch den Blick nach rechts wandte, meinte er, in der Ferne eine vollkommen glatte Fläche auszumachen, auf der sich Teile des wolkenlosen Himmels spiegelten. Fast wie eine riesige Metall- oder Glasplatte.

»Ein Überbleibsel des Großen Krieges«, sagte Domador hinter ihm, der seinen Blick bemerkt hatte. »Selbst wir gehen dort nicht hin. Zu gefährlich.«

»Was ist dort denn?«, fragte Javet vorsichtig. Der Mann war nicht so gesprächig wie Sera und offenbar auch nicht begeistert, dass die Frau so viel erzählt hatte.

»Das Glasland«, lautete Domadors ausweichende Antwort. »Geschmolzener Sand. Niemand geht dorthin.«

Diese Menschen scheinen vor ziemlich vielen Sachen Angst zu haben, überlegte Javet. Davor, dass sie entdeckt werden, vor diesem Glasland. Vielleicht ist die Angst aber auch berechtigt. Immerhin kommen sie aus dem Totenland. Hier gibt es bestimmt Sachen und Wesen, die es im Pazifik nicht gibt. Er schaute auf den gespaltenen Kopf des schwarzen Hengstes und ein eisiger Schauer fuhr ihm über den Rücken. Welche entstellten Tiere leben hier noch?

Die Sonne ging gerade als heiße Kugel im Westen unter, als Javet meinte, am schon dunklen Horizont im Osten kleine Lichter auszumachen. Ist das Hölle? Seine Vermutung bestätigte sich, als die Gruppe sich weiter in diese Richtung bewegte und die Lichter allmählich größer wurden. Sie spannten sich nicht wie eine Kette von links nach rechts, sondern waren in einem dichten Haufen angeordnet. Javet meinte, nördlich davon einen weiteren solchen Haufen zu erkennen, war sich aber nicht sicher.

Plötzlich hielt Domador an, drehte sich im Sattel um und rief etwas nach hinten. Dann stieg er ab und half Javet ebenfalls hinunter.

»Warum halten wir an?«, fragte er. »Wir sind doch schon fast da, oder nicht?«

»Ja, aber in der Nacht sollte man nicht weiter reiten«, sagte Domador und erteilte Sera, Aguarde, Equestre und Desconfiança einige knappe Befehle auf seiner eigenen Sprache. Die vier eilten mit ihren Pferden in verschiedene Richtungen davon. »Hoffen wir, dass wir hier in der Nähe einen geeigneten Unterschlupf finden«, wandte der Mann sich an Javet. »Wenn wir nur zu fünft wären, hätten wir es heute bis nach Hölle geschafft, aber wegen deines zusätzlichen Gewichts kommen die Höllenrösser nicht so schnell voran.«

Höllenrösser? Javet schluckte und schaute zu dem schwarzen Hengst neben Domador, der den Kopf hoch erhoben hatte. Wahrlich ein passender Name.

Wenig später kehrten die vier anderen zurück. Als letztes kam Equestre, der offenbar ein Versteck für die Nacht gefunden hatte, und sie zu einem halb zusammengefallenen Haus führte, das unter dem Steinschutt kaum mehr zu sehen war. Sie mussten die Pferde weiter abseits anbinden und über den grauen Haufen bis zu einem der Fenster klettern, um hinein zu schlüpfen. Ein riesiges Loch prangte im Dach. Wenigstens werde ich dieses Mal vor dem Einschlafen die Sterne sehen können, dachte Javet erleichtert. Seine Begeisterung verflog jedoch schnell, als er beobachtete, wie nicht nur zwei, sondern drei der Erwachsenen sich auf die Nachtwache vorbereiteten. Domador und Sera gehörten wieder zu ihnen. Auf dem Gesicht des Mannes stand ein Ausdruck der verbitterten Besorgnis. Javet schaute zum Loch im Dach und beschloss, sich lieber in eine dunklere Ecke zu flüchten. Vor wem auch immer sie Angst haben, es kann offenbar klettern.

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