28. Kapitel

O weh der Lüge! Sie befreiet nicht wie jedes andre, wahrgesprochne Wort die Brust. Sie macht uns nicht getrost. Sie ängstet den, der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt, ein losgedruckter Pfeil, von einem Gotte gewendet und versagend, sich zurück und trifft den Schützen.

Johann Wolfgang von Goethe

Javet hatte es kaum über sich gebracht, ein paar Wasserschläuche und getrocknetes Fleisch für die Reise zu stehlen, aber er hatte eingesehen, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Gleich danach hatten Annie und er Borg durch das westliche Stadttor verlassen. Anscheinend gab es keines im Norden, da es sonst direkt in Richtung Grenzland führen wurde. Sie waren zwei Tage unterwegs gewesen, als sie auf einen tiefen Wassergraben trafen, der das Nordland offenbar vom Grenzland trennte.

»Ich dachte, Wasser gibt es nur noch im Großen Wasserreservoir im Süden«, sagte Javet, während er mit Annie am Ufer entlang ging.

»Ich auch«, antwortete Annie. »Aber da haben wir uns wohl geirrt.« Sie blieb stehen und trat näher ans Ufer, um sich über die Wasseroberfläche zu beugen. Zögerlich fuhr sie sich mit den Fingern durch die kurzen Haare und beobachtete sich dabei in der Spiegelung. An ihrem Ansatz wurde die schwarze Farbe, die Aveline ihr aufgetragen hatte, bereits vom ersten Blond abgelöst. Sie ließ ihre Hand schnell sinken und räusperte sich. »Das Wasser sieht aber nicht so aus, als könnte man es trinken.«

»Ja.« Javet betrachtete den Fluss, der sehr träge durch die Landschaft floss. Er war so ruhig, dass sich sogar die Berge auf der anderen Seite darin spiegelten. Dunkle Umrisse im noch dunkleren Wasser. Kurz überlegte er, ob er ebenfalls einen kurzen Blick auf seine Spiegelung werfen sollte, ließ es dann jedoch bleiben. Ich möchte gar nicht wissen, wie ich mittlerweile aussehen muss. Bestimmt unglaublich dreckig und verschmutzt mit abgerissener Kleidung. Gedankenverloren strich er sich mit dem Daumen über das Wasaliti-Zeichen auf seiner Handfläche. Die Wunde war schon verheilt, hatte jedoch Narben in Form eines ›W‹s hinterlassen.

»Denkst du, wir finden eine Stelle, wo wir den Graben überqueren können?«, fragte Annie.

»Vielleicht gibt es hier in der Nähe ein Dorf mit Leuten, die uns sagen können, wie wir übersetzen können«, schlug Javet vor. »Lass uns weiter am Ufer entlang gehen.«

Das Mädchen nickte und sie setzten sich wieder in Bewegung. Nachdem sie Borg verlassen hatten, hatte Javet ihr alles erzählt, was ihm in seinem Leben widerfahren war. Von dem Tod seiner Eltern und Geschwistern, über Marielles Flucht mit ihm ins Grenzland bis hin zu seiner Verbannung aus seinem Heimatdorf. Er hatte ihr auch von den Menschen im Totenland erzählt und dass er ihnen versprochen hatte, ein Heilmittel zu finden, damit sie ihm im Gegenzug bei der Throneroberung halfen. Sie kannte nun auch seinen wahren Namen. Javet hatte erwartet, dass sie ihm vorwerfen würde, gelogen und vieles verschwiegen zu haben, aber sie hatte sich nur zu ihm vorgebeugt und geflüstert: »Ich bin froh, dass du mir so sehr vertraust wie ich dir.« Sie hatte zugestimmt, immer an seiner Seite zu bleiben und ihm zu helfen, wo sie konnte, damit Königin Alina gestürzt wurde und Javet ihren Platz einnahm. Er hatte geschworen, dass unter ihm als König alle Hellhäutigen dieselben Rechte haben würden wie die Adligen des Ostlandes. Und Annie wird meine Königin sein. Ich werde sie heiraten, wenn es soweit ist.

Es war schon später Abend, als sie bei einem Dorf ankamen, das direkt am Ufer des Flusses lag. Mehrere Männer bewachten den Eingang, winkten sie jedoch schnell durch, als sie sahen, dass sie zu jung waren, um wirklich Ärger zu machen. Javet nahm Annie an der Hand und zusammen gingen sie die Hauptstraße entlang, bis sie auf eine Art Eisenplatte stießen, das über das Wasser hinaus ragte. Daneben dümpelte eine Art große Schale aus dünnem Metall. Sie geht gar nicht unter, wunderte Javet sich.

»Ihr seht gar nicht wie Strahlenkranke aus«, ertönte auf einmal eine Stimme hinter ihnen. Ein etwas älterer Mann mit grauen Haaren und ordentlich zurechtgestutztem Bart näherte sich ihnen. Er deutete auf die Metallschale und sagte: »Ich bringe mit dem Boot nur Strahlenkranke ins Grenzland.«

Annie schaute Javet fragend an. Der Mann hatte sie auf Nordländisch angesprochen, weswegen sie nichts verstanden hatte. Er drückte beruhigend ihre Hand als Zeichen, dass der Mann ihnen nicht feindlich gesinnt war. »Wir müssen aber trotzdem auf die andere Seite«, erklärte Javet. »Wir haben dort etwas zu erledigen.«

»Zu erledigen?« Der Mann lachte. »Was könnt ihr schon im Grenzland zu erledigen haben? Wo kommt ihr überhaupt her? Aus deiner Hautfarbe und deinem Akzent schließe ich, dass du Ostländer bist. Selten, dass jemand aus dieser Ecke hierher, nach Vegg, kommt.«

»Wie gesagt, wir haben etwas zu erledigen«, antwortete Javet. »Was genau, ist unsere Sache.«

»Eure Sache? So, so.« Der Mann sah aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, ließ es aber bleiben. Schließlich seufzte er. »Ich würde euch trotzdem nicht empfehlen, ausgerechnet hier über den Fluss zu setzen.«

»Warum nicht?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ist ein gefährlicher Ort hier. Manchmal passieren hier... unangenehme Sachen.« Er kratzte sich unbeholfen mit der Hand am Hinterkopf. »Erst vor wenigen Tagen ist ein Pferd mit zwei Köpfen auf der anderen Seite umher geirrt. Es hatte schwere Verletzungen. Sah so aus, als wäre jemand mit einem riesigen Hackebeil auf es los gegangen. Vom Reiter oder Besitzer keine Spur. Ich habe es rüber geholt, aber es ist immer noch geschwächt. Es wird ein paar Tage dauern, bis die Wunden verheilt sind.«

»Ein Pferd mit zwei Köpfen?« Javet versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Kann es sein, dass das ein Höllenross ist? Dann ist jemand aus Hölle erst vor Kurzem hier vorbei gekommen. Estrella? Vielleicht sogar zusammen mit Domador und Sera? Haben sie mich also nicht verfolgt, sondern sind auf eigene Faust in Richtung Westland aufgebrochen? Aber... Warum ist das Höllenross dann verletzt? Was ist mit ihnen passiert? Sind sie in Gefahr?

»Was ist los?«, fragte Annie ihn im Flüsterton.

»Der Mann sagt, dass er ein verletztes Höllenross auf der anderen Seite des Grabens gesehen und es zu sich geholt hat, um es zu versorgen«, erklärte Javet.

Das Mädchen riss überrascht die Augen auf. »Denkst du, es gehört Domador, Sera oder Estrella?«

Er nickte. »Ich frage mich, was passiert ist, dass sie es zurückgelassen haben. Verletzt.«

»Frag den Mann doch, ob wir das Pferd sehen können.«

»Können wir das Tier sehen?«, wandte Javet sich auf Nordländisch an den Mann.

Dieser zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Kommt mit. Es steht bei mir im Stall. Oder liegt, eher gesagt.«

Wer hat ihm diese Wunden zugefügt?, fragte Javet sich mit wachsender Sorge, während sie dem Mann folgten.

»Hier ist es«, sagte der Mann und blieb vor einer kleinen Kammer im Stall stehen. Deutlich war die schwarze Gestalt des Höllenrosses am Boden auszumachen. Der Hengst lag auf der Seite. Verkrustete Schnitte zogen sich über den Rücken und die Seiten. Am weißen Fleck auf der Schulter erkannte Javet, dass es Noche sein musste. Das Höllenross, das ursprünglich für ihn gedacht gewesen war.

»Darf ich zu ihm?«, fragte Javet.

»Wenn du möchtest«, meinte der Mann und öffnete die Tür, damit Javet eintreten konnte. Annie folgte ihm und sie ließen sich beide neben dem Hengst nieder. Der Junge strich Noche über den Hals und die Wange. Das Höllenross schnaubte leise, doch Javet konnte nicht sagen, ob er ihn erkannt hatte oder nicht. Er hob den Kopf und wandte sich an den Mann.

»Waren noch andere Pferde in seiner Nähe?«, erkundigte er sich. »Oder Menschen?«

Der Mann hob fragend eine Augenbraue. »Du scheinst diese Tiere zu kennen. Woher?«

»Unwichtig«, bestimmte Javet. »Also, war noch jemand bei ihm?«

»Nein«, erwiderte der Mann. »Und selbst wenn es so gewesen wäre, wären diejenigen schon vorher getötet worden. Das Grenzland hier ist gefährlicher als in anderen Gegenden.«

Irgendwas verschweigt er uns, dachte Javet, sprach es jedoch nicht aus. »Könnt Ihr uns morgen über den Fluss bringen, damit wir uns selber davon überzeugen können?«

Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast es wirklich eilig, ins Grenzland zu kommen.« Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. »Sag nicht, dass du zu denen gehörst?«

»Zu wem?«

Kurz überschattete ein Ausdruck des Schreckens sein Gesicht, verflog jedoch schnell wieder. »Zu den Strahlenkranken«, sagte er, doch Javet wusste, dass er log und das nicht die richtige Antwort war.

Was gibt es hier im Grenzland, vor dem er so eine Angst hat?, fragte er sich. Mehr Strahlenkranke als üblich? Unwahrscheinlich. Dann hätte er sie nicht als Ausrede benutzt. Aber was dann? Wer hat Noche verletzt? Wem sind Estrella und vielleicht auch die anderen begegnet? Wenn ihnen wirklich etwas passiert ist, müssen wir ihnen helfen.

Javet schaute zu Annie hinüber, die fasziniert und leicht ehrfürchtig über Noches gespaltenen Kopf strich. »Wir müssen herausfinden, was mit ihnen passiert ist«, sprach er sie an, woraufhin sie sich zu ihm drehte. »Sie sind vielleicht in Gefahr. Wenn wir ihnen nicht helfen, könnten sie womöglich sterben. Dann war alles, was wir bisher durchgemacht haben, umsonst. Wir brauchen ihre Hilfe, um den Thron zu erobern. Das geht nur, wenn sie am Leben bleiben.«

Annie nickte. »Kannst du den Mann davon überzeugen, uns aufs andere Ufer zu bringen?«

»Wir werden sehen.« Javet richtete sich auf und wechselte ins Nordländische. »Was müssen wir tun, damit Ihr uns ins Grenzland übersetzt?«

Der Mann verzog gequält das Gesicht. »Junge, ich rate dir wirklich davon ab, dorthin zu gehen. Um deines eigenen Lebens willen. Und um das deiner Freundin.«

»Darf ich fragen, wie Ihr heißt?«

»Båt«, antwortete der Mann.

»Nun, Båt, es ist wirklich lebenswichtig für uns, ins Grenzland zu kommen. Ob Ihr es glaubt oder nicht, davon hängen ziemlich viele Leben ab. Was also müssen wir tun, damit Ihr uns übersetzt?«

Båt umklammerte mit den Händen hilflos den Metallbalken vor sich, der zur Tür der Kammer gehörte, in der Noche lag. »Ich möchte das Leben von euch zwei nicht auf meinem Gewissen haben«, sagte er. »Strahlenkranke sind mir egal, aber ihr seid noch so jung. Und ihr seid gesund. Ich kann das wirklich nicht machen.«

»Dann werden wir schwimmen«, bluffte Javet.

»Oh nein, nein, nein!« Entsetzt fuchtelte Båt mit den Händen in der Luft herum. »Das Wasser ist nicht so ruhig wie es aussieht! Es ist wie ein schleichendes Gift. Man darf es auch nicht trinken. Ich hoffe, das habt ihr auf dem Weg hierher nicht gemacht?«

Javet schüttelte den Kopf.

Der Mann seufzte halb erleichtert und halb verzweifelt, kratzte sich wieder am Hinterkopf. »Du bist wirklich stur, weißt du das?«, meinte er schließlich. »Du möchtest wissen, was ihr tun müsst, damit ich euch übersetze? Na gut. Bleibt noch einige Tage hier und überdenkt die ganze Sache nochmal. Wenn ihr danach immer noch ins Grenzland wollt, bringe ich euch rüber.«

Javet lächelte zufrieden. »Danke.« An Annie gewandt sagte er: »Er wird uns übersetzen, wenn wir einige Tage hier bleiben. Er möchte, dass wir die Sache nochmal überdenken.«

»Ich wüsste nicht, was es da noch zu überdenken gibt«, meinte Annie leicht belustigt, strich Noche ein letztes Mal über den gespaltenen Kopf und stand dann auf, stellte sich neben ihn. Sie hielt zwei Finger in die Luft und sagte mit aller Deutlichkeit: »Zwei Tage!«

Båt schien zu verstehen, obwohl sie es auf Ostländisch gesagt hatte. »In Ordnung. Zwei Tage.« Er bedeutete ihnen, aus der Kammer mit dem Höllenross rauszugehen und schloss die Tür hinter ihnen. »Ihr werdet im alten Zimmer meiner Tochter schlafen«, bestimmte er. »Das Bett ist groß genug für zwei Leute.«

»Eure Tochter?«, fragte Javet in der Hoffnung, die Stimmung etwas aufzulockern, während Annie und er ihm eine Treppe hoch folgten. Doch sein Versuch ging nach hinten los, denn Båts Gesicht legte sich in tiefe Schatten.

»Sie ist tot«, sagte er finster und zeigte dann wortlos auf eine Tür am Ende des Flures. »Da rein. Frühstück gibt es eine Stunde nach Sonnenaufgang.«

Damit stampfte er die Treppe wieder runter und ließ Javet und Annie alleine zurück.

»Warum hat er plötzlich so seltsam reagiert?«, fragte das Mädchen verwundert. »Was hast du ihm gesagt?«

»Ich habe mich nur nach seiner Tochter erkundigt, der früher das Zimmer gehört hat, in dem wir schlafen werden«, entgegnete Javet genauso verwirrt. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Båt ihnen etwas verschwieg. Es hatte definitiv etwas mit dem Grenzland jenseits des Grabens zu tun. Die seltsamen Verletzungen von Noche... Sie stammten nicht von Tieren, sondern ganz sicher von einer Metallwaffe. Wer hat ihm das angetan? Und was ist mit Domador, Sera und Estrella passiert? Wo sind sie hin? Sie würden eines ihrer Höllenrösser nie im Leben einfach so zurücklassen.

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